Wie schön sind doch deine Wohnstätten
Die Einleitung, die der Präfekt der Bibliothek Ambrosiana für die in 30Tage erschienene Serie über die Marienheiligtümer der Lombardei geschrieben hat, zu der auch der Artikel über Ossuccio gehört.
von Gianfranco Ravasi
Der Disput Jesu im Tempel von Jerusalem, Kapelle 5
Gerne bin ich im Geiste wieder diesen Anhang emporgestiegen, der den meisten unserer Leser unbekannt ist – aber ich bin doch davon überzeugt, daß ein jeder von uns seinen eigenen „heiligen Berg“ hat, im Kleinen vielleicht; einen, mit dem unsere Erinnerungen – und vielleicht auch so manche Hoffnung – verknüpft sind. Und dann bin ich auch sicher, daß viele lombardische Leser in den wunderschönen, auf den folgenden Seiten zu bewundernden Bildern (denen nachempfunden, die die Landschaftsmaler der Grand et Petit Tour vergangener Jahrhunderte in ihre Alben eingezeichnet haben) ihr ganz persönliches Marienheiligtum wiederentdecken werden, oder – wie in meinem Fall – die schönsten heiligen Stätten der Lombardei. Denn welcher Mailänder ist wohl nicht wenigstens einmal diese herrliche, „wie ein Buch in den Berg eingeschnittene“ Straße entlanggegangen, die zum heiligen Berg von Varese führt?
Und wer das getan hat, wird wohl kaum die 14 Kapellen vergessen haben, die den Rosenkranzgeheimnissen gewidmet sind (an eine hat sogar der große Meister Guttuso „Hand angelegt“) und den Gebetsweg zum Sanktuarium säumen, bis zum letzten Mariengeheimnis, erfüllt von Spiritualität durch das hier befindliche Kloster der Ambrosianerinnen, auch sie Wachen dieses Ortes, der von der absoluten Reinheit des Cantus firmus der ambrosianischen Liturgie geprägt ist. Und welcher Lombarde kennt wohl das Marienheiligtum von Tirano nicht? Wenn er wohl auch meist an diesem von der Meisterhand Bramantes geschaffenen Gebäude mit seiner imposanten Fassade und dem herrlichen Glockenturm nur vorbeigefahren sein wird: die Skier auf das Dach geschnallt – auf dem Weg zu den einladenden Pisten des Bormio-Passes oder des Stilfser Jochs.
Und doch: vielleicht hat der ein oder andere doch angehalten und dieses majestätische Gotteshaus betreten, hat von der Geschichte dieser Erscheinung in den frühen Morgenstunden eines Sonntags im September des Jahres 1504 gehört oder gelesen. Eine Geschichte, die in dem wunderschönen Libro dei miracoli, einem im Dialekt der Valtellina geschriebenen Buch, festgehalten ist. Vielleicht hat er da ja von dem „sacro macello“ [heiliges Gemetzel] gehört, jenes Duell, in dem sich Interessen von Glauben und Politik verflochten. Aber leider muß man auch feststellen, daß die damals hier so häufigen, von Karl Borromäus auf Schärfste verurteilten von Hexen und Zauberinnen praktizierten Satansriten auch in unseren Tagen keineswegs der Vergangenheit angehören: das noch nicht lange zurückliegende Martyrium von Schwester Maria Laura Mainetti in Chiavenna, in der Nähe von Tirano, das die ganze Welt entsetzte, ruft auch heute die Erinnerung an jenen blasphemischen, absurden und blutrünstigen Kult wach.
Viele Lombarden – und davon nehme ich mich nicht aus – verbringen ihre Sommerferien oder Wochenenden an den malerischen Ufern des Comer Sees. Die Reiseführer verweisen natürlich auf die großen Hotels oder die heute unbewohnten Patriziervillen, die Regenbogenpresse dagegen auf George Clooneys Villa, wo sich stets Trauben von Menschen einfinden, um wenigstens einen flüchtigen Blick auf das Profil des Hollywoodstars hinter den getönten Scheiben seines vorbeifahrenden Mercedes erhaschen zu können – so als wäre er eine neue „weltliche“ Erscheinung. Da hat Giuseppe Frangi schon einen anderen Vorschlag: den Aufstieg zu dieser unvergeßlichen Naturbühne, dem Marienheiligtum von Ossuccio, mit seiner lieblichen Muttergottes aus weißem Marmor, dem Jesuskind, das mit einem kleinen Vogel spielt; diese von Kapellen gesäumte Route mit mindestens 230 Statuen, fünf Figuren mit Kropf (ein endemisches Syndrom der Vergangenheit), sechs Pferden, neun anderen Tieren und vielen lebensecht wirkenden Szenen.
Kreuzigung Jesu, Kapelle 10, Detail
Ich habe zuerst Montevecchia erwähnt, ein Marienheiligtum in der Nähe von Lecco. Lassen Sie mich nun diesen kurzen Besuch bei den Heiligen Bergen mit Worten schließen, die wohl jeder kennt: „Ade, ihr Berge, die ihr aus den Wassern aufragt und euch zum Himmel erhebt;ihr ungleichmäßig gezackten Gipfel, vertraut dem unter euch Aufgewachsenen...“ Wer erinnert sich nicht an diesen herzzerreißenden Abschied von den Bergen Leccos, den Manzoni in den Brautleuten beschreibt? Gewiß, diese Berge sind der Resegone, die Grigne und die Höhen des Sees von Lecco. Und doch empfindet man diese Sehnsucht so viel mehr, wenn man nach dem Frieden und der Stille eines Sanktuariums eines Heiligen Berges wieder hinabsteigt in den Lärm und die Hektik der Städte unten im Tal. Es ist dasselbe Heimweh, dieselbe Freude am Heiligtum, die in den Psalmen zum Ausdruck gebracht wird: „Wohl denen, die wohnen in deinem Haus, die dich allzeit loben. Wohl den Menschen, die Kraft finden in Dir, wenn sie sich zur Wallfahrt rüsten“ (Ps 84,5-6).