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CHRISTLICHE KUNST
Aus Nr. 01/02 - 2011

MAILAND. 135 Baustellen für neue Kirchen

Einfach und frei.Wie für Montini die  Mailänder Kirchen aussehen sollten


Es waren die Jahre der großen Immigrationswelle. Nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Mailand ließ Montini die bedeutendsten Architekten nach Mailand kommen, damit sie die neuen Kirchen bauen konnten. Mit Mut und Hingabe.


von Giuseppe Frangi


Giovanni Battista Montini bei der Grundsteinlegung der Kirche Kirche „San Michele Arcangelo in Mater Dei“ nahe der Monza-Allee, Mailand (erbaut 1961).

Giovanni Battista Montini bei der Grundsteinlegung der Kirche Kirche „San Michele Arcangelo in Mater Dei“ nahe der Monza-Allee, Mailand (erbaut 1961).

 

Der 6. Januar 1955 war ein kalter, regnerischer Tag. Es war der Tag, an dem der neue Erzbischof von Mailand in der Stadt Einzug hielt. Trotz des schlechten Wetters ließ es sich Giovanni Battista Montini nicht nehmen, den Weg zum Mailänder Dom, wo ihn seine Gläubigen erwarteten, im offenen Wagen zurückzulegen. Lange Zeit später sollte er sich wie folgt daran erinnern: „Als Wir vor nunmehr fast sieben Jahren die Grenze dieser Diözese überschritten, Unseren Fuß auf diesen gesegneten Boden gesetzt habe, haben Wir uns hinab geneigt, um ihn zu küssen: wie kalt und nass war er! Möge die Liebe dieses Kusses auch heute noch in all Unserem Bemühen spürbar sein!“ Sieben Jahre später – man schrieb den 12. November 1961 – schloss er mit folgenden Worten die Ansprache, bei der er zum Bau von 22 neuen Kirchen in seiner Diözese aufrief: „Mailand wächst und wächst; es wächst ständig und immer schneller, und die einzige Sicherheit, die Wir haben, ist die Notwendigkeit, die pastorale Sorge für Unsere Gläubigen so zu gestalten, dass sie mit dem Wachstum der neuen Stadtviertel mithalten kann…“.
Erst ein Jahr zuvor waren 60.000 Menschen aus den südlichen Regionen in die Stadt geströmt und hatten „in den neuen Arbeitervierteln Zuflucht gefunden, die schon bald aus allen Nähten platzten“. Es wurden immer mehr Häuser gebaut, immer mehr Straßen, aber in den Augen des neuen Bischofs konnte dieses neue Mailand nur allzu leicht zu einer Wüste werden, in der die Menschen sich selbst überlassen blieben. Montinis Sorge war lediglich die eines Seelsorgers für seine Gläubigen, er wollte in den neuen Vierteln keine „kulturelle“ Hegemonie durchsetzen. „Wir verspüren die Verpflichtung, Uns ohne Klagen und unermüdlich, mit ziviler und christlicher Solidarität, an das schnelle Wachstum Unserer Metropole anzupassen und den religiösen und moralischen Beistand für die vielen neuen Pfarreien zu garantieren“, stellte Montini klar, und fügte mit einer gewissen Bitterkeit hinzu: „Wir hätten eigentlich gehofft, dass Mailand mit seinen historischen und großen Pfarreien, seinem christlichen und mitfühlenden Herzen, mehr Einsatz und Hilfsbereitschaft zeigen würde; und Wir hätten auch gemeint, dass Mailand, diese so große und reiche Stadt, die derzeit ein so erfreuliches Wirtschaftswachstum erlebt, Unseren Weg erleichtern und beschleunigen würde“. Aber genau das war nicht der Fall: die Verantwortung dafür, die Mittel für sein großes Bauvorhaben aufzutreiben, ruhte allein auf seinen Schultern: „Aber es wird Uns dennoch nicht missfallen, Uns ans Werk zu machen und Unsere ganze Hoffnung gerade wegen Unserer Armut auf die Vorsehung zu setzen, und auf jene Menschen, die sich zu ihrem Werkzeug machen“.
In den achteinhalb Jahren seiner Mailänder Tätigkeit ließ Montini in der gesamten Diözese 135 Kirchen bauen – viele konnten noch in seiner Amtszeit fertiggestellt werden. Es war eine Strategie, die schon sein Vorgänger Kardinal Schuster verfolgt hatte. Der zukünftige Papst Paul VI. war sich der Bedeutung dieses historischen Moments nur allzu be­wusst und führte die Strategie mit großer Begeisterung fort. Für die Kirche eröffnete sich in den neuen Vierteln, die am Rande der Stadt wie Pilze aus dem Boden schossen, ein neues Missionsgebiet. Aber der Weg war dornig: es war schwer, die Mittel für den Bau der Kirchen aufzutreiben, die Pfarrer selbst waren oft nur notdürftig untergebracht, nicht selten schlechter als ihre Gläubigen. „Ich bin stolz auf euch“, sagte Montini 1962 zu ihnen, „ich bin stolz darauf, Priester zu haben, die das pastorale Leben unter solch widrigen Umständen akzeptieren; die es als eine Ehre betrachten, soviel Unbill zu ertragen, eine große Verantwortung zu haben, aber so gut wie keine Mittel; die gleichsam wie Bettler leben in notdürftigen Unterkünften ohne jeglichen Komfort. Wenn ihr dereinst eure Kirchen und eure Pfarreien habt, werdet ihr noch an diese Zeit zurückdenken… denn das ist euer Glück: ihr könnt eure Pfarreien selbst gestalten, dem Wichtigkeit verleihen, was wesentlich ist im religiösen Leben: der kirchlichen Lehre“.
In diesem kleinen Wörtchen „selbst“ kommt die ganze Ausrichtung zum Ausdruck, die Montini seinem Kirchenbau-Projekt geben wollte. Damals waren in Mailand die bedeutendsten Architekten beschäftigt, und der Erzbischof beschloss, ihnen sein Vertrauen zu schenken, sie mit seinen wichtigsten Projekten zu beauftragen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger beschloss Montini, der Modernität Tür und Tor zu öffnen. Seine Erwartungen waren hoch: „Die Kunst stellt sich in den Dienst des Kirchenbaus. Dieses Einfließen der Kunst in Unsere Projekte erfüllt Unser Herz mit Freude“. Aber er sparte auch nicht mit Ermahnungen: „Wir wollen eine Architektur, die frei ist in ihrer modernen Inspiration, aber zurückhaltend und vernünftig in ihrem baulichen Anspruch: dies ist nicht die Zeit der Monumente, der Mosaike und des verschwenderischen Tands. Es ist die Zeit, in der es gilt, mit einfachen Bauten den Glauben unseres Volkes zu bewahren“ (1961).
Und tatsächlich: Der erste Kirchenbau, den Montini ein Jahr nach seinem Einzug in Mailand weihen konnte, verkörpert diese Vorstellungen perfekt. Die Kirche Unsere Liebe Frau der Armen im neuen Arbeiterviertel nahe Baggio wurde von den Architekten-Kollegen Luigi Figini und Gino Pollini geplant. Die beiden hatten sich schon mit dem Bau der Olivetti-Werke in Ivrea samt dazugehörigen Gebäudekomplexen (den Unterkünften für die Arbeiter und einem Kindergarten) einen Namen gemacht. Figini und Pollini waren Erben des italienischen Rationalismus und schufen in jenem Viertel aus „Minimalbauten“ eine Kirche von extremer Schlichtheit, die wenig kostete und aus einer Stahlbetonstruktur bestand. An der Fassade mit kaum angedeutetem Frontgiebel fügten die Architekten große Einlagen aus lombardischem Backstein ein, die als einfache Dekorationen dienten.

Die Pfarrkirche „San Francesco d’Assisi“ in Fopponino, Mailand, konnte Anfang der 1960er Jahren nach dem Plan von Gio Ponti entstehen.

Die Pfarrkirche „San Francesco d’Assisi“ in Fopponino, Mailand, konnte Anfang der 1960er Jahren nach dem Plan von Gio Ponti entstehen.

Das Gebäude wurde der Muttergottes geweiht, die 1933 im belgischen Banneux einem jungen Mädchen erschienen war, Mariette Beco. Im Jahr 1942 war die Erscheinung erstmals von der Kirche anerkannt worden; dann erneut in den Jahren 1947 und 1949. 1949 wollten die Bergarbeiter von Limbourg „die Arbeiter in Baggio“ ihrer Nähe versichern und stifteten der Kirche eine Kopie der Muttergottesstatue von Banneux, die noch heute im linken Kirchenschiff verehrt wird. Das von den Architekten Figini und Pollini geplante Gebäude ist beeindruckend harmonisch, aber es gibt keinerlei überflüssigen Tand. Es wirkt fast schon derb in seiner Schmucklosigkeit, wenn da nicht dieser plötzliche Lichteinfall wäre, der den Raum in ein warmes Gelb taucht: eine quadratische, oben von einem ebenfalls quadratischen Glasgitter verschlossene Öffnung ist das einzige schlichte Zugeständnis, das die Architekten machen, um – ebenfalls in aller Schlichtheit – auf die Zentralität des Altars und des Tabernakels zu verweisen. Auf diese Lösung hatten die beiden Architekten bereits bei einer anderen, von ihnen geplanten Kirche zurückgegriffen: St. Johann und Paul in Affori. Beeindruckend ist hier vor allem der Abschluss des Altarraums mit einer hexagonalen, rosa gestrichenen Wand, fast wie um dezent hervorzuheben, welch wertvollem Zweck dieser Ort bestimmt ist.
Schon ein Jahr darauf konnte Montini jene Kirche weihen, die als die gewagteste galt und bereits heftige Debatten ausgelöst hatte. In Baranzate, einer stark wachsenden Siedlung im Norden Mailands, hatten zwei andere bekannte Architekten, Angelo Mangiarotti und Bruno Morassutti, auf die Erfahrung des berühmten Strukturingenieurs Aldo Favini gestützt den Plan für eine „Glaskirche“ entworfen. Vier schlanke Säulen im Innern stützen ein großes flaches Fertigdach, das so den Eindruck extremer Leichtigkeit vermittelt. Die vier Wände bestehen aus gläsernen Flächen, die mit weißem Styropor verkleidet sind. „Ist es denn möglich, dass Euer Bischof eine solche Kirche weiht?“, sagte Montini 1957 bei der Weihe der Kirche. „Es ist möglich, weil ich in dem neuen Bau eine tiefe Symbolik erkennen kann, die uns das Wesentliche des Gotteshauses in Erinnerung ruft, dem Ort, wo sich die Menschen versammeln, um ihren Geist zu Gott zu erheben; dem Ort, an dem sie zu Brüdern werden. Diese Kirche aus Glas hat in der Tat ihre Sprache; eine Sprache, die an die Apokalypse angelehnt ist, wo geschrieben steht: Vidi civitatem sanctam descendentem de coelo; ihre Wände – so heißt es in der Apokalypse – waren aus Kristall“. Aber Montini ging noch weiter: er erklärte, was ihn dazu bewogen hatte, die Unserer Lieben Frau vom Erbarmen geweihte Pfarrei derart avantgardistischen Architekten anzuvertrauen: „Die Kirche stellt eine Neuheit dar, und die Neuheit gehört in den Bereich der heiligen Dinge: wenn die Religion lebendig ist, schließt sie die Neuheit keineswegs aus, sondern fordert sie sogar, sucht sie, erforscht sie so lange, bis sie in der Seele fündig wird. Cantate Domino canticum novum, heißt es in der Schrift. Und ich bin hier, um alles Neue, was mir die Kunst zu bieten hat, mit offenen Armen zu empfangen. Ich habe keinerlei Vorurteil gegen das Neue, solange es nicht nur eine vorübergehende Laune ist.“
Aber in Montinis „Arbeitsteam“ waren nicht nur rationalistische Architekten vertreten, sondern auch jene, die die Kultur des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hatte und deren Hang zum Monumentalen stark ausgeprägt war. Montini zuliebe waren sie jedoch bereit, sich der notwendigen Schlichtheit zu beugen. Einer davon war Giovanni Muzio, ein Architekt, der unter dem Faschismus seine Blütezeit erlebt hatte und von 1956 bis 1958 mit dem Bau der Kirche „San Giovanni Battista della Creta“ beschäftigt war: einem niedrigen Gebäude mit einer Fassade aus Backstein und schlichten Zierfriesen.
Die Pfarrkirche Unsere Liebe Frau von der Barmherzigkeit in Baranzate, Mailand, die auch „Glaskirche“ genannt wird. Sie entstand 1957 nach dem Plan der Architekten Angelo Mangiarotti und Bruno Morassutti, sowie des Ingenieurs Aldo Favini. [© Armin Linke]

Die Pfarrkirche Unsere Liebe Frau von der Barmherzigkeit in Baranzate, Mailand, die auch „Glaskirche“ genannt wird. Sie entstand 1957 nach dem Plan der Architekten Angelo Mangiarotti und Bruno Morassutti, sowie des Ingenieurs Aldo Favini. [© Armin Linke]

Eine noch wichtigere Rolle als Muzio spielte bei Montinis Kirchenbauprojekten jedoch Gio Ponti, ein international anerkannter Architekt und Designer, der im Zeitraum von 10 Jahren in Mailand drei Kirchen baute. Die erste Kirche, St. Lukas, entstand zwischen 1955 und 1960 im Viertel Lambrate. Eine einfache Kirche, eingepfercht zwischen hohen neuen Bauten, mit wenig Platz um sie herum. Das war auch der Grund, warum Ponti beschloss, sie ein paar Meter über das Straßenniveau anzuheben. Die von einem breiten Dach bedeckte konkave Fassade schmückte er mit Granitfliesen, einem billigen Material, dem Ponti durch ihre Diamantenform einen „edlen“ Anstrich gab. Wunderschön und hell ist das Innere der Kirche: die breite hintere Wand mit ihren blau-weiß gemalten Streifen erinnert an romanische lombardische Stilelemente. Ein paar Jahre später wurde Ponti mit einem Projekt in seiner Heimatpfarrei, einer zentraleren Zone bei Magenta, beauftragt: „San Francesco al Fopponino“ war ein sehr viel ehrgeizigeres, anspruchsvolleres Projekt, besonders was die Höhe des Kirchenschiffs anging. Das Diamantenmotiv ist auch hier vertreten, auf den kleinen Fliesen ebenso wie an den großen Fenstern (von denen einige zum Himmel hin offen sind) und am Portal. Stets jedoch im Einklang mit der franziskanischen Schlichtheit. Montini lag dieses Projekt sehr am Herzen. Er kam dreimal auf die Baustelle, das erste Mal bei der Grundsteinlegung am 4. Mai 1961 („Auf dass hier der wahre Glaube, die Gottesfurcht und die Bruderliebe herrschen mögen!“, ließ er auf das Pergament schreiben, das mit dem Grundstein eingemauert wurde). Gio Ponti zeichnete noch für eine andere wunderschöne Kirche verantwortlich: die Kirche im Krankenhaus „San Carlo“, die Santa Maria Annunciata geweiht ist: ein suggestiver Bau, dessen gekrümmte längliche Form an ein Schiff erinnert.
In dem Bemühen, Mailand mit den nötigen Kirchen auszustatten, richtete Montini das Komitee für neue Kirchen ein. Die Leitung übertrug er Enrico Mattei, der damals mit dem Bau von „San Donato“ beschäftigt war – dem Hauptsitz des italienischen Ölkonzerns ENI vor den Toren Mailands. Als Mattei 1962 unter tragischen und noch ungeklärten Umständen starb, übernahm Montini selbst den Vorsitz des Komitees und beauftragte Ignazio Gardella, einen anderen bedeutenden Mailänder Architekten, mit dem Projekt einer Kirche für das „Arbeiterdorf“ San Donato. Dass die Kirche dem heiligen Enrico geweiht wurde, war ein Ehrerweis Montinis an Enrico Mattei. Wie für eine „Dorfkirche“ angemessen, plante Gardella ein extrem schlichtes, langgezogenes  und niedriges Gebäude mit einem tief überhängenden Dach. Die einzige Zierde der Betonwände ist eine lineare Zierleiste aus weißem Stein, die sich über die gesamte Länge der Kirche zieht, innen wie außen. Das Licht fällt von zwei, im oberen Bereich der Kirche angebrachten Fenstern in den Raum und vermittelt den Eindruck von Harmonie, Bewegtheit und Leichtigkeit.
Am 23. Mai 1963 leitete Montini die Zeremonie der Grundsteinlegung für eine neue Kirche: San Gregorio Barbarigo. Es sollte die letzte sein, denn nur wenige Wochen später, am 21. Juni, wurde er zum Papst gewählt. Bei diesem Anlass sagte er: „Wir sind heute zusammengekommen, gerührt darüber, dass Unserer Stadt das Glück zuteil wird, in ihrer Mitte, innerhalb ihrer Stadtmauern, den Bau eines neuen Gotteshauses zu erleben, die Schaffung einer geistlichen Familie guten Volkes.“



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