Archiv 30Tage
Die Frau der Apokalypse und der Antichrist
Im Folgenden wollen wir unseren Lesern einen Artikel von Ignace de la Potterie neu vorlegen, der noch heute von erstaunlicher Aktualität ist. Er stammt aus Nr. 10, 1995 von 30Tage.
von Ignace de la Potterie
Das Tier, das aus dem Meer heraufsteigt, eine der Szenen der Apokalypse, Fresko von Giusto de‘ Menabuoi, Apsis des Baptisteriums von Padua.
Zwei Anregungen geben uns den Anlass, um unsere Überlegungen über die Apokalypse fortzusetzen, die wir in der vergangenen Ausgabe begonnen haben1. Erstens feierte die orthodoxe Kirche auf Initiative des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel auf der Insel Patmos die Abfassung des letzten Buches der Bibel vor 1900 Jahren; zweitens stand die Apokalypse im Mittelpunkt des Interesses zweier deutscher Exegeten, die vom akademischen Establishment vernachlässigt wurden und die 30Tage seinen Lesern in den letzten Ausgaben zu Recht wieder vorgelegt hat. Gemeint sind Erik Peterson (1890-1960)2 und Heinrich Schlier (1900-1978)3.
Für die genannten deutschen Theologen, die beide vom Protestantismus zum katholischen Glauben konvertierten, stellen die in der Apokalypse erzählten Visionen den schrecklichen Kampf zwischen dem Erlöser und seinem eschatologischen Feind dar, der sich bereits in der Geschichte verwirklicht. Die beiden Exegeten betrachten den Antichrist als Hauptperson der Apokalypse, die symbolisch im Drachen, in den beiden Tieren dargestellt ist. Peterson spricht in seiner Studie aus dem Jahr 1938 über die Apokalypse von dem Tier, das aus der Erde heraussteigt, und identifiziert es mit „dem falschen Propheten, den man auch den Theologen des Antichrists nennen kann.“ Schlier schrieb mehr als zwanzig Jahre später einen ganzen Artikel über den Antichrist. Er konzentrierte sich dabei allein auf das dreizehnte Kapitel der Apokalypse, in dem er die ganze Symbolik des Kaiserkults wiederfand. Nach Schlier ist der Antichrist mit dem Römischen Reich zu identifizieren, und noch allgemeiner, mit den irdischen Mächten, die die Kirche verfolgen.
Eine ausschließlich politische Deutung der Symbole der Apokalypse gab es im Laufe der Jahrhunderte innerhalb und außerhalb der Kirche immer wieder. In allen Verfolgern, allen tragischen und negativen Gestalten der Geschichte bis zu Hitler und Stalin, hat man eine Personifizierung des Antichrists gesehen. Luther bezeichnete sogar den Papst als Antichrist.
Eine solche Inflation von Antichristen kann aber zu Missverständnissen führen. Deshalb ist es sinnvoll, erneut hervorzuheben, was Johannes, der selbst davon sprach, unter dem Antichrist verstand.
Zunächst muss man feststellen, dass der Begriff „Antichrist“ nicht explizit in dem Buch vorkommt, das Johannes auf Patmos verfasst hat, auch wenn viele Kommentare den Antichrist mit der Apokalypse in Verbindung gebracht haben. Es erscheinen zwar die schrecklichen Gestalten zweier Tiere und des Drachen, doch wie Eugenio Corsini in seinem Band Apocalisse prima e dopo (1980) sehr gut gezeigt hat, ist das erste Tier, das aus dem Meer heraussteigt, mit Rom und den weltlichen Reichen zu identifizieren. Mit dem zweiten Tier, das aus der Erde heraufstieg, ist dagegen die religiöse Macht gemeint, die die jüdische Priesterdynastie verkörpert. Das religiöse Tier ist gefährlich, insofern es ebenso wie die großen weltlichen Mächte ein Instrument des Bösen ist.
Wenn wir aber wissen wollen, wer für Johannes der Antichrist ist, dann müssen wir auf seine ersten beiden Briefe schauen. Denn hier kommt der johanneische Begriff Antichrist zum ersten Mal vor. Er bezeichnet denjenigen, „der gegen Christus ist“, oder „leugnet, dass Jesus der Christus ist“ (1 Joh 2, 22). Der entscheidende Abschnitt steht aber etwas vorher: „Meine Kinder, es ist die letzte Stunde. Ihr habt gehört, dass der Antichrist kommt, und jetzt sind viele Antichriste gekommen. Daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. Sie sind aus unserer Mitte gekommen, aber sie gehörten nicht zu uns; denn wenn sie zu uns gehört hätten, wären sie bei uns geblieben. Es sollte aber offenbar werden, dass sie alle nicht zu uns gehörten“ (1 Joh 2,18-19). Hier haben wir also das erste Merkmal für das Kommen des Antichrists: Es handelt sich in erster Linie um ein kirchliches und nicht um ein politisches Ereignis. Die geheimnisvolle und noch vage Gestalt des Antichrists, dessen Kommen auch der Apostel Paulus als eines der Zeichen der Endzeit beschreibt, nimmt in den Johannesbriefen eine ganz präzise geschichtliche Gestalt an. Sie fällt mit der ersten schmerzhaften Spaltung im Herzen der christlichen Gemeinde zusammen. Die Antichristen sind die ersten Irrlehrer wie die Gnostiker, die die Einheit der christlichen Gemeinde zerstört haben. Sie haben die schlimmste Sünde begangen, die Johannes die “Sünde aus Bosheit” nennt: gegen Christus zu sein. Sie erkennen nicht, dass Jesus im Fleisch gekommen ist, und wollen daher, wie der zweite Johannesbrief erklärt, darüber hinausgehen: „Jeder, der darüber hinausgeht, und nicht in der Lehre Christi bleibt, hat Gott nicht“ (2 Joh 9).
In seinem ersten Brief erwähnt Johannes die Gestalt des Antichrists zusammen mit zwei anderen Feinden der Christen: der Böse („Ich schreibe euch, ihr jungen Männer, dass ihr den Bösen besiegt habt“, 1 Joh 2, 13) und die Welt („Liebt nicht die Welt und was in der Welt ist“, 1 Joh 2, 15). Zwischen diesen drei Subjekten besteht eine enge Verbindung: die einzelnen als Antichrist bezeichneten Personen, die Jesus verleugnen und so die Gemeinde gespalten haben, stellen eine kollektive Macht dar: die Welt, die sich der Liebe des Vaters verschlossen hat und sich von der Macht des Bösen leiten lässt. Und in diesem Sinn erhält der Antichrist, der sich vom Bösen, das heißt vom Satan leiten lässt, seine wesentliche, eschatologische Dimension, die uns zur Apokalypse zurückführt. Das kirchliche Ereignis, das Schisma aufgrund von Häresie, wird in seiner Dramatik als eschatologisches Ereignis offenbart: hinter den Sünden der Antichristen steht das Wirken des Bösen, der gegen das messianische Reich kämpft: eine Auflehnung, die zur Niederlage bestimmt ist. Denn der Böse weiß, dass der Herr bereits gesiegt hat. Doch gerade das Näherrücken der endgültigen Offenbarung des Sieges Christi bewirkt, dass der Teufel im Verlauf der Geschichte die Jünger Jesu immer heftiger und wütender verfolgte: „Darum jubelt ihr Himmel und alle, die darin wohnen. Weh aber euch, Land und Meer! Denn der Teufel ist zu euch hinabgekommen; seine Wut ist groß, weil er weiß, dass ihm nur noch eine kurze Frist bleibt“ (Offb 12, 12).
Die mit Sonne bekleidete Frau und der Drache, der ihr Kind zu verschlingen sucht: eine der Szenen der Apokalypse, Fresko von Giusto de‘ Menabuoi, Apsis des Baptisteriums von Padua.
Wenn also die marianische Deutung der Frau in der Apokalypse legitim ist, dann ist es für uns von Interesse, den Sinn dieses Kampfes zwischen Maria der Frau und dem Drachen zu erfassen. Oder den Gegensatz zwischen Maria und jenem Symbol des eschatologischen Bösen, der, wie wir gesehen haben, für Johannes geschichtlich im Austritt der ersten Irrlehrer aus der Kirche auftaucht. Es gibt eine sehr schöne marianische Antiphon - man sang oder betete sie früher an Marienfesten -, die die Liturgie-Reform aber sowohl aus dem Meßformular als auch aus dem Brevier entfernt hat: „Gaude, Maria Virgo, cunctas haereses tu sola interemisti in universo mundo“ (Freue dich, Jungfrau Maria, du allein hast die Irrlehren der ganzen Welt besiegt). Das will nicht heißen, dass Maria in ihrem Leben gegen die Irrlehren gekämpft hat. Doch die Anerkennung Mariens in den marianischen Dogmen ist Zeichen und Wall für die Festigkeit des Glaubens. Auch Kardinal Ratzinger betont in seinem Interviewband von Vittorio Messori4 (Zur Lage des Glaubens), dass „Maria über alle Irrlehren triumphiert“. Wenn man Maria den Platz gibt, der ihr in der Tradition und im Dogma zukommt, dann befindet man sich schon im Zentrum der Christologie der Kirche. Die ersten Dogmen (von der immerwährenden Jungfräulichkeit und der Gottesmutterschaft Mariens), aber auch die letzten (von der Unbefleckten Empfängnis und der leiblichen Aufnahme in den Himmel), sind die sichere Grundlage des christlichen Glaubens an die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Doch auch der Glaube an den lebendigen Gott, der in der Welt und in der Materie wirken kann, sowie der Glaube an die letzten Dinge (die Auferstehung des Fleisches und die Verwandlung der materiellen Welt) ist implizit in der Anerkennung der marianischen Dogmen ausgesagt. Deshalb kann man hoffen, dass man die schöne, von der Liturgie-Reform entfernte Antiphon vielleicht für das Fest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August wieder einführen wird.
Anmerkungen
1 Vgl. I. de la Potterie, Die Apokalypse ist schon eingetreten, in 30Tage, Nr. 9, September 1995, SS. 70-71.
2 Vgl. L. Cappelletti, Theologe ohne Vaterland, in 30Tage, Nr. 7/8, Juli/August 1995, SS. 51-54; Wie Lämmer unter Wölfen, herausgegeben von L. Cappelletti, ebd., SS. 55-57; I. de la Potterie, L’Israele di Dio, in 30Giorni, Nr. 11, November 1995, pp. 64-67; L’elezione rimane sempre una grazia, hrg. von G. Valente, ebd., SS. 68-72.
3 Vgl. L. Cappelletti, Die Aktualität der Apokalypse, in 30Tage, Nr. 6, Juni 1995, SS. 60-62; Christus vincit, hrg. von L. Cappelletti, ebd., SS. 67-70.
4 V. Messori – J. Ratzinger, Rapporto sulla fede, San Paolo Edizioni, Cinisello Balsamo 1985.