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NAHOST
Aus Nr. 04/05 - 2011

Interview mit dem Patriarchen von Antiochia der Maroniten

Eine Botschaft des Zusammenlebens aus dem Libanon


Der Dialog mit dem Islam, ein neuer Dialog mit den christlichen Politikern, die Notwendigkeit eines Kontakts zur Hisbollah, die Tragödie des israelisch-palästinensischen Konflikts: Interview mit Seiner Seligkeit Béchara Raï, neuer maronitischer Patriarch von Antiochien.


Interview mit Béchara Raï von Davide Malacaria


Am 15. März haben die am Patriarchatssitz Bkerké (nahe Beirut) versammelten maronitischen Bischöfe den neuen Patriarchen von Antiochien der Maroniten gewählt: Béchara Boutros Raï (71), Bischof von Jbeil/Byblos der Maroniten empfing 1967 die Priesterweihe und wurde 1986 zum Bischof ernannt. Rom und den Vatikan kennt er wie seine Westentasche: er hat nicht nur am Päpstlichen Maronitischen Kolleg in Rom studiert, sondern war auch jahrelang Mitglied des Päpstlichen Rats für die Sozialen Kommunikationsmittel und Programmleiter der arabischen Sendungen von Radio Vatikan. Béchara Raï ist der Nachfolger von Nasrallah Pierre Sfeir, der im Februar mit Vollendung des 90. Lebensjahres sein Rücktrittsgesuch eingereicht hat. Am 14. April empfing Papst Benedikt XVI. den neuen Patriarchen in Audienz und gewährte ihm die volle kirchliche Gemeinschaft.

Im Libanon, einem Land, das entscheidend ist für die Stabilität im Nahen Osten, ist das Hochfest Mariä Verkündigung seit ein paar Jahren Nationalfeiertag. Sehr zur Freude nicht nur der Christen, sondern auch der Muslime, die in Maria die Mutter des Propheten Jesus verehren. Es ist ein Fest zum Zeichen des Zusammenlebens zwischen Christen und Muslimen inmitten der wechselhaften, ja manchmal auch schmerzlichen Wechselfälle dieses Landes. Béchara heißt auf Arabisch „Verkündigung“. Wenn das kein gutes Zeichen ist!

 

Béchara Raï nach seiner Wahl zum Patriarchen der Maroniten (15. März 2011). [© STR New/Reuters/Contrasto]

Béchara Raï nach seiner Wahl zum Patriarchen der Maroniten (15. März 2011). [© STR New/Reuters/Contrasto]

Was haben Sie im Moment der Wahl gedacht?

BECHARA RAÏ: Während der Synode sind die anderen Kandidaten für das Patriarchenamt an einem gewissen Punkt zurückgetreten, um eine einstimmige Wahl zu ermöglichen. In diesem Moment kam mir das Motto meines Mandats in den Sinn - „Gemeinschaft und Liebe“ -, das ich dann auf meinen Wahlzettel geschrieben habe. So kam es, dass man während des Wahlgangs nicht nur meinen Namen, sondern auch dieses Motto verlesen hat. Es war meine Art zu sagen, dass ich die Entscheidung der Synode akzeptiert habe – in Gemeinschaft und Liebe.

Fungiert die maronitische Kirche – immerhin steht die des orientalischen Ritus von jeher in Gemeinschaft mit Rom – als Brücke zwischen westlicher und orthodoxer Christenheit?

Die Maroniten unterhalten traditionsgemäß gute Beziehungen nicht nur zu den Kirchen der griechischen und der syrischen Tradition, sondern auch zum Heiligen Stuhl. Auch deshalb waren die Unionen zwischen Kirchen des orientalischen Ritus und Rom immer so wichtig – ich meine die Unierten Kirchen. Aufgrund unserer Geschichte und Tradition fungieren wir als Brücke zwischen katholischer und orthodoxer Kirche. Das ist eine sehr wichtige ökumenische Aufgabe für die Christenheit.

Bei der Nahost-Synode hat Kardinal Levada, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, gesagt, man müsse die Patriarchen des Ostens zu einer möglichen Reform des Petrusdienstes befragen...

Etwas Ähnliches ist bereits zur Zeit Johannes Pauls II. geschehen. Ich war damals Mitglied der Kommission, die die Antworten der Patriarchen gesammelt hat, um sie dem Heiligen Vater zu unterbreiten. Wir hatten damals die Beiträge verschiedener Patriarchen und orientalischen Bischöfe gesammelt, die Arbeit blieb dann aber unvollendet.

Hat einer der der Kommission unterbreiteten Vorschläge Ihre besondere Aufmerksamkeit erregt?

Es wurde unter anderem vorgeschlagen, dass die orientalischen Patriarchen ihre Jurisdiktion auf die Gläubigen in der Diaspora ausweiten können sollten, also über das sogenannte patriarchale Territorium hinaus. Dieser Vorschlag wurde leider nicht angenommen. Ich kann mich erinnern, dass er im Jahr 2000 im Gespräch war, anlässlich einer Studientagung zum 10. Jahrestag der Herausgabe des Gesetzbuchs der katholischen Ostkirchen. Bei diesem Anlass hat der vatikanische Staatssekretär, der im Namen des Heiligen Vaters sprach, erklärt, dass es nicht möglich sei, die Jurisdiktion der Patriarchate auszuweiten, und zwar aus zwei Gründen. Der erste betrifft das Prinzip der Territorialität: das Territorium des Patriarchats hat traditionsgemäß eine geographische Grenze, die vom orientalischen Kulturkreis begrenzt wird – und das Prinzip der Territorialität darf kein Prinzip der Subjektivität werden. Der zweite Grund war – so sagte man uns –, dass das Patriarchat eine kirchliche Einrichtung ist und als solche auch wieder verschwinden kann. Das Bischofsamt und das Papsttum dagegen sind göttliche, also keine vergänglichen Einrichtungen. Da der Papst der Bischof aller Katholiken ist und weil es Ortsbischöfe gibt, die auch über die Gläubigen der orientalischen Diaspora pastorale Jurisdiktionsgewalt haben, bestehe keine Notwendigkeit, die Jurisdiktion des Patriarchen auszuweiten. Das war im Großen und Ganzen die Antwort, die man uns gegeben hat.

Wie wichtig ist die Beziehung zwischen dem maronitischen Patriarchat von Antiochien und den Gläubigen in der Diaspora, die über die ganze Welt verstreut sind?

Für den maronitischen Patriarchen von Antiochien ist es wichtig, sich auch um diese Gläubigen zu kümmern. Diese Aufgabe erfüllen bereits die verschiedenen maronitischen Diözesen auf der ganzen Welt; anderswo dagegen wird diese Aufgabe von organisierten Gemeinschaften erfüllt, also maronitischen Pfarreien, die dem jeweiligen lateinischen Ortsbischof unterstellt sind; und dann gibt es auch Gemeinschaften ohne Priester. Es ist also unsere Aufgabe, die Seelsorge zu gewährleisten: Priester und Ordensleute auszusenden, und uns dort, wo es organisierte Gemeinschaften gibt, um die Diözesen zu kümmern. Aber das Band zwischen den Emigranten und der Heimat wird auch auf kirchlicher und gesellschaftlicher Ebene aufrecht erhalten. Das geschieht durch die vielen Organisationen, die diese Beziehungen lebendig erhalten. Ein wichtiger Aspekt dieses Bandes ist die Bewahrung der libanesischen Staatsbürgerschaft seitens der Nachkommen der maronitischen Familien. Das ist wichtig, weil es für die Christen in einem politischen System wie dem libanesischen, das demographische Grundlagen hat, keine zahlenmäßige Begrenzung gibt, sie also folglich ihr politisches Gewicht behalten können. Wir dürfen nicht vergessen, dass unser politisches System eine paritätische Teilhabe an der Verwaltung der öffentlichen Belange der Christen und Muslime vorsieht. Immerhin besteht die Bevölkerung zur Hälfte aus Christen und zur anderen Hälfte aus Muslimen: wenn sich dieses Zahlenverhältnis ändern sollte, wäre auch das Gleichgewicht gestört. Die Beziehung zu unseren Emigranten ist schon aus dem Grund wichtig, weil die Maroniten den Libanon als ihre spirituelle Heimat betrachten, er ihre Traditionen, ihre Geschichte repräsentiert. Außerdem erlaubt diese Beziehung den Emigranten, ihre daheim zurückgebliebenen Familien finanziell zu unterstützen und damit auch die libanesische „Sache“. Die Diaspora kann auch auf der Ebene der Entwicklungs- und Sozialprogramme viel tun.

Benedikt XVI. empfängt Seine Seligkeit Béchara Raï in Audienz (14. April 2011). [© Osservatore Romano]

Benedikt XVI. empfängt Seine Seligkeit Béchara Raï in Audienz (14. April 2011). [© Osservatore Romano]

Nach Ihrer Wahl wollten Sie die vier wichtigsten Leader der christlichen politischen Parteien des Libanon treffen...

Im Libanon besteht derzeit eine tiefe Spaltung zwischen der Koalition christlicher Parteien mit den sunnitischen Muslimen, die Beziehungen zu Saudi-Arabien, Ägypten und den USA unterhalten – der sogenannten „Allianz des 14. März“ –, und der „Allianz des 8. März“, in der sich die anderen Christen mit den Schiiten und mit derHisbollah zusammengeschlossen haben, die wiederum Beziehungen zum Iran und zu Syrien unterhalten. Das ist auch deshalb problematisch, weil die Beziehungen zwischen Schiiten und Sunniten äußerst gespannt sind. Diese Situation hat auch unter den Christen für Zwistigkeiten gesorgt, was sogar soweit ging, dass die politischen Leader nicht mehr bereit waren, miteinander zu sprechen. Damit sich die Beziehungen unter den Christen entspannen konnten – und folglich auch in unserer Nation – kam mir der Gedanke, diese Begegnung am Patriarchat zu organisieren. Und mit Erfolg. Die christlichen Leader haben sich über ihre verschiedenen politischen Ansichten ausgetauscht und sind letztendlich zu der Einsicht gekommen, dass ihre politischen Anschauungen keineswegs im Konflikt miteinander stehen, sondern komplementär sind. Die Vielfalt der politischen Ansichten muss nicht unbedingt ein Stein des Anstoßes sein, sondern kann sogar einen Reichtum und eine Garantie für die Demokratie darstellen. In der Begegnung hat sich eine Harmonie gezeigt, die letztendlich zur Entspannung geführt hat. Jetzt, wo das Eis gebrochen ist, gehen die Begegnungen zwischen den christlichen Politikern weiter, und zwar auf einer breiteren Ebene. So können die Grundlagen des Dialogs ausgeweitet werden. Außer diesem Treffen wurde am Patriarchat auch ein Gipfel mit den Religionsführern abgehalten – Christen und Muslimen. Das Ergebnis war eine Gemeinsame Erklärung über die Prinzipien und Grundlagen der Nation, in der alle Libanesen, unabhängig von ihrer Religion, einander anerkennen. Die Politik als solche muss den Politikern überlassen bleiben. Ich glaube, dass all das der Einheit des Landes neuen Auftrieb geben kann. Ich hoffe auch, dass es schon bald zu Begegnungen zwischen Muslimen und Christen kommen wird, bei denen die dringlichsten sozialen und politischen Probleme unseres Landes diskutiert werden.

Das Problem besteht also nicht darin, eine politische Einheitspartei der Christen zu schaffen, sondern eine Übereinkunft zwischen den verschiedenen Parteien zu suchen.

Der Libanon ist ein demokratisches, pluralistisches Land, und das heißt, dass die Verschiedenheit – auch in den Ansichten und Meinungen – nicht nur akzeptiert, sondern sogar begrüßt wird. Zwei Dinge aber vereinen uns alle: die Grundlagen der Nation und die gemeinsamen Ziele. Der Libanon ist auf politische Prinzipien gegründet, die seit der Entstehung des Staates ein wesentlicher Bestandteil des Landes sind; ein Element, das niemals gefehlt hat: der Libanon ist ein demokratisches, parlamentarisches Land, dessen Grundlage nicht nur das Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen bildet, sondern auch die Menschenrechte, die Freiheit, der Nationalpakt, dem gemäß Christen und Muslime in gerechter Weise an der Leitung der öffentlichen Sache mitwirken. Das sind die Säulen unseres Landes, und diese Säulen sind unerlässlich für unsere Nation: aufgrund der historischen Präsenz von Christen und Muslimen gibt es im Libanon nämlich zwei verschiedene Traditionen, zwei verschiedene Kulturen usw. Was dagegen die gemeinsamen Ziele angeht, ziehen wir alle an einem Strang: wenn es also darum geht, den Libanon als staatliches Gefüge zu erhalten, seine Identität zu gewährleisten und für das Gemeinwohl einzutreten, alles daran zu setzen, dass die Christen in unserem Land bleiben. Um diese grundlegenden Prinzipien unseres Staates zu bewahren und unsere Ziele zu erreichen, müssen wir die verschiedenen politischen Ansichten nicht vereinheitlichen, im Gegenteil. Wie heißt es doch so schön? „Alle Wege führen nach Rom“: die Verschiedenheit der Ansichten, der politischen Einstellungen, der Allianzen ist uns nur willkommen. Keine politische Gruppierung kann den Anspruch stellen, die „wahre“ zu sein, einen gewissen Aspekt der Wahrheit haben sie alle. Und diesen konstruktiven Ansatz müssen wir fördern.

Wie steht das Patriarchat zur Hisbollah?

In der Vergangenheit gab es eine Kommission, in der das Patriarchat und die Hisbollah über die Probleme des Landes sprachen, aber dieser fruchtbare Austausch ist zum Erliegen gekommen. Als nach meiner Wahl eine Delegation derHisbollah zum Höflichkeitsbesuch kam, habe ich ihnen gesagt, dass man den Dialog wieder aufnehmen müsse, insbesondere durch die Wiedereinsetzung dieser Kommission. Wir dürfen diese Arbeit nicht ungenutzt lassen. Die Kriege, die Menschen gegeneinander führen, entstehen aus Unverständnis oder Vorurteilen. Wir müssen nicht über die einzelnen politischen Ansichten diskutieren, sondern vielmehr versuchen, uns in einigen wesentlichen Punkten auszutauschen. Mit der Hisbollah gab es in der Vergangenheit viele Probleme, weil sie eine Partei ist, die Waffen besitzt. Heute dagegen ist das kein Thema mehr. Heute spricht man von einer gemeinsamen Verteidigungsstrategie, also davon, wie der Libanon den Besitz und den Gebrauch von Waffen zu regeln hat. Es kann nicht akzeptiert werden, dass dieHisbollah jederzeit Waffen einsetzen kann, dass sie im Alleingang Krieg erklären oder mit Israel den Frieden verhandeln kann, ohne die Vertreter der Landesregierung mit einzubeziehen. Man spricht von einer Verteidigungsstrategie, die den Staat betrifft, dieHisbollah, die reguläre Armee, die Milizen der Hisbollah, usw. Wir sind noch zu keiner Einigung gekommen, aber das Konzept wurde von ziemlich allen akzeptiert. Die These, laut der die Hisbollah ihre Waffen zurückgeben müsste, wurde dagegen voll und ganz abgelehnt. Es ist eine Forderung, die nicht angenommen werden kann, weil sie auch die Beziehung zur Hisbollah kompromittieren könnte. Wir müssen miteinander reden, auch um Garantien dahingehend zu erhalten, dass die Hisbollah die Waffen nicht intern einsetzt, um sich an ihren politischen Gegnern zu rächen, und auch nicht Israel in Eigenregie den Krieg erklärt, ohne die legitime libanesische Macht zu interpellieren. Ein Staat im Staat ist inakzeptabel. Das sind Themen, die wir mit dem Begriff „gemeinsame Verteidigungsstrategie“ definieren.

Sie haben des Öfteren davon gesprochen, wie wichtig das Zusammenleben von Christen und Muslimen im Libanon ist...

Das Zusammenleben in unserem Land wurde mit dem Nationalpakt des Jahres 1943 garantiert, als Muslime und Christen zweimal „nein“ gesagt haben: zum Osten und auch zum Westen. Das heißt, dass die libanesischen Muslime nicht an einem Integrationsprozess mit Syrien oder mit irgendeinem anderen arabischen Land mit islamischem Regime arbeiten können – und auch nicht mit den Christen, mit dem Westen, und ganz besonders nicht mit Frankreich. Gleichzeitig haben die Muslime auf jeden Anspruch verzichtet, eine islamische Theokratie einrichten zu wollen, die Christen dagegen haben von einem Laizismus westlicher Prägung Abstand genommen. So hat sich im Libanon ein Staat herauskristallisiert, der ein Mittelwegist zwischen der orientalischen Theokratie und den säkularisierten Regierungen des Westens. Er ist ein zivilisiertes Land, das die religiöse Dimension aller Bürger respektiert; es kann weder ein theokratisches System noch eine Staatsreligion auferlegt werden. Das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen ist in der Verfassung festgelegt. In Art. 9 heißt es, dass der Libanon ein großer Ehrerweis an Gott ist, dass er alle Religionen respektiert, deren Statuten anerkennt, die Religionsfreiheit ebenso garantiert wie die Religionspraxis aller Bürger. Der libanesische Staat mischt sich nicht in Angelegenheiten ein, die die Religion betreffen, in Ehebelange oder anderes, wie es im Westen der Fall ist, wo man Gesetze macht, die dem Naturgesetz widersprechen, wie beispielsweise das über Eheschließungen zwischen Personen desselben Geschlechts. In diesen Angelegenheiten haben die religiösen Gemeinschaften eine legislative Autonomie.

Ist der Libanon Ihrer Meinung nach auch auf internationaler Ebene ein positives Beispiel für das Zusammenleben?

Gewiss. Wir sehen, dass die Religion im Westen beiseite geschoben wird, und das ist für den Islam inakzeptabel. Auf der anderen Seite sehen wir, dass in der orientalischen Welt politische Systeme entstehen konnten, in denen die Religion eine wesentliche Rolle spielt, aber es sind geschlossene Systeme. Und das betrifft sowohl die muslimischen Länder als auch Israel. Im Libanon dagegen gibt es einen demokratischen, pluralistischen Staat, der die religiöse Dimension aller Bürger und die Menschenrechte respektiert. Das ist die Schönheit unseres Landes, die Johannes Paul II. zu dem Ausspruch veranlasst hat, dass der Libanon mehr als eine Nation eine Botschaft, ein Vorbild sei: für den Orient im Bezug auf die Regierungen, die auf die Religion gegründet sind, und für den Westen im Bezug auf die politischen Systeme, die von der Säkularisierung geprägt sind.

Hisbollah-Anhänger demonstrieren für die Volkserhebung in Ägypten, Tunesien, Jemen, Libyen und Bahrein (Beirut, 19. März 2011). [© Associated Press/LaPresse]

Hisbollah-Anhänger demonstrieren für die Volkserhebung in Ägypten, Tunesien, Jemen, Libyen und Bahrein (Beirut, 19. März 2011). [© Associated Press/LaPresse]

Was ist Ihre Meinung zu den Revolten in den arabischen Ländern, die u.a. auch Syrien betreffen, ein Land, das eine wichtige Rolle für den Libanon spielt?

Das Problem ist komplex. In Syrien herrscht eine alawitische Minderheit, während die große Mehrheit der syrischen Muslime Sunniten sind. Die Sunniten, die keineswegs Fundamentalisten sind, regierten das Land, bevor die Assad kamen, und fordern nun Reformen... In Ägypten dagegen haben wir die Muslimbrüder, die dem neuen politischen Kurs einen fundamentalistischen Stempel aufdrücken können. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Islam von verschiedenen Kriegen in Mitleidenschaft gezogen wurde: zwischen Schiiten und Sunniten im Irak und anderswo, zwischen Alawiten und Sunniten in Syrien und in anderen Ländern. Ich weiß nicht, wohin das alles führen wird, aber es ist besorgniserregend: es besteht die Gefahr, dass in einem dieser Staaten ein fundamentalistisches islamistisches Regime die Macht ergreift - oder eine Diktatur, die noch schlimmer ist als die vorherigen. Es kann aber auch sein, dass diese Region in kleine Staaten aufgeteilt wird, laut dem, was einige Beobachter das “Projekt für einen neuen Nahen Osten” nennen. Die Zukunft ist ungewiss. Wir hoffen, dass diese Länder den Frieden im Respekt der Menschenrechte der Völker finden, denn wir wissen, dass die Regime, die in Frage gestellt wurden, diktatorische Züge trugen, es Regime sind, in denen ein geschlossenes politisch-religiöses System herrscht und es eine Einheitspartei gibt. Es sind Länder mit vielen Ressourcen, aber auch Länder, in denen der Reichtum ungerecht verteilt, die Bevölkerung bettelarm ist. All diese Revolten, all diese Massendemonstrationen waren ein waffenloser Widerstand, der über Facebook geleitet wurde: diese Menschen fordern nur ihre Rechte, ihre Freiheit ein. Einige Länder haben Reformen durchgeführt, andere nicht. Wo die Erwartungen der Leute nicht erfüllt werden konnte, spitzt sich die Situation zu, und das macht uns immer mehr Sorgen, auch weil sich diese Krise negativ auf die christlichen Gemeinschaften auswirkt, wie es im Irak der Fall war. Denn meist sind es leider die Christen, die die Folgen gewisser Situationen zu spüren bekommen. Wir sind sehr besorgt auch für den Libanon, der die Auswirkungen all dieser Krisen zu spüren bekommt. Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, dass sie diesen Völkern hilft.

Die letzte Frage betrifft den Frieden zwischen Israel und Palästina…

An der Wurzel aller Krisen und Probleme im Nahen Osten steht der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Das ist die „Ursünde“, der Zündstoff, der alle Krisen unserer Region anheizt. Leider reagiert die internationale Gemeinschaft nicht so, wie sie sollte: man müsste die Resolutionen des Sicherheitsrats anwenden, angefangen bei der, die die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat vorsieht. Die UNO wurde geschaffen, um den Frieden in der Welt voranzutreiben, in Wirklichkeit aber tut sie nichts, weil sie leider zum Spielball der Großmächte geworden ist. Die Palästinenser müssen ihren Staat haben, und die Flüchtlinge müssen in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Im Libanon haben anderthalb Millionen Flüchtlinge Zuflucht gefunden – das ist angesichts einer Bevölkerungszahl von vier Millionen eine beeindruckende Zahl... Eine derart gewichtige Präsenz stellt unweigerlich ein Sicherheitsproblem dar. Immerhin haben diese Menschen Waffen und zögern auch nicht, sie einzusetzen. Aber es ist auch ein politisches und soziales Drama. Die Kriege, die den Libanon seit 1975 bis zum heutigen Tag ausbluten, wurden von der Präsenz dieser Flüchtlinge ausgelöst, die in ihre Heimat zurückkehren wollen. Wenn man diesen Konflikt beilegen könnte, hätte auch dieHisbollah keinen Grund mehr, zu existieren... Aber die Großmächte wollen nicht aufhören, mit dem Schicksal der Völker zu spielen. Man muss nur sehen, was im Irak passiert, wo man „einschreiten musste“, um die Demokratie einzurichten und wo in einem Jahrzehnt mehr Menschen ihr Leben verloren haben als unter Saddam Hussein...



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