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NOVA ET VETERA
Aus Nr. 04/05 - 2011

Archiv 30Tage

Der Pakt mit der Schlange


Die Schlange, die Verführerin, zeigt sich im Gewand des Befreiers.

Als diejenige, die den Menschen jenseits von Gut und Böse führt, jenseits des „Gesetzes“, jenseits des alten Gottes, Feind der Freiheit. Die letzten zweihundert Jahre ermöglichen die Wiederentdeckung des Befreiungsprinzips der Welt gemäß der Sekte der Ophiten. Ein Prinzip, das aus der sabbatianischen Vorstellung von einem den Schlangen ausgelieferten Messias herausscheint.


von Massimo Borghesi


<I>Elohim erschafft den Adam</I>, William Blake (1757-1827), Wasserfarbe und Tinte, Tate Gallery, London.

Elohim erschafft den Adam, William Blake (1757-1827), Wasserfarbe und Tinte, Tate Gallery, London.

Die ophiten: die schlange als befreier

Seit mehr als zwei Jahrhunderten spielt die westliche Kultur mit dem Gedanken des Bösen, liebkost, rechtfertigt es. Das Negative löst einen Taumel, ein Delirium der Allmacht aus, Emotionen, die einzugestehen unmöglich wäre. Es erleuchtet die verbotenen Wege, die Abgründe der Nacht, überzieht vereiste Wipfel mit einem rötlichen Schimmer. Es verleiht dem modernen Titanismus Farbe, der provozierenden Geste, mit der dieser dem Ewigen die Stirn bietet. Während der alte Faust, der Marlowes, in seiner Todesstunde bereut, lebt der danach von der Schmähung, trachtet nach Zersetzung. Der Pakt mit der Schlange, wie eines der letzten Bücher1 von Mario Praz heißt, wird nun endgültig gefestigt. Die Schlange, die Verführerin, zeigt sich im Gewand des Befreiers. Als diejenige, die den Menschen jenseits von Gut und Böse führt, jenseits des „Gesetzes“, jenseits des alten Gottes, Feind der Freiheit. Die letzten zweihundert Jahre ermöglichen die Wiederentdeckung „des Befreiungsprinzips gemäß der Sekte der Ophiten“2, ein Prinzip, das – laut Gershom Scholem – aus der sabbatianischen Vorstellung mit ihrem den „Schlangen3“ ausgelieferten Messias herausscheint. Ein Prinzip, das von Ernst Bloch in seinem Atheismus im Christentum erneut bekräftigt wurde, wo der Schlangen-Christus die Welt von der Tyrannei Jahwes befreit4. Auch Goethe hatte, so Vittorio Mathieu, „von der Sekte der Ophiten gehört“5. In seinem Goethe e il suo diavolo custode kann er beobachten, wie Mephistopheles im Faust „die Kraft ist, die aus der Finsternis das Positive des Menschen ans Tageslicht treten läßt“6. Und wie sagt Gott im Prolog im Himmel zu Mephistopheles? „Du darfst auch da nur frei erscheinen; ich habe deinesgleichen nie gehasst. Von allen Geistern, die verneinen, ist mir der Schalk am wenigsten zur Last. Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen, er liebt sich bald die unbedingte Ruh; drum geb ich gern ihm den Gesellen zu, der reizt und wirkt, und muss, als Teufel schaffen“7. Der Teufel wird von Gott gern als einer gesehen, der mit dem Menschen kollaboriert. Wie schon Mircea Eliade bemerkt hat, „könnte man von einer organischen Sympathie zwischen dem Schöpfer und Mephistopheles sprechen8.“ Goethe macht aus Mephistopheles, dem Bösen, die Antriebsfeder, die den Menschen zur Tat bewegt, auf das hin, was positiv ist. Wir haben es hier mit dem Gedanken zu tun, demzufolge ein weiter Weg zurückgelegt werden muß, der Weg in den Himmel durch die Hölle führt. Der Mensch wird Mensch, lebendiger, vernunftbegabter, freier Mensch erst, wenn er die Bitterkeit des Lebens voll und ganz ausgekostet hat. Die Unschuld der „schönen Seele“ dagegen ist Stillstand, Stagnation, Tod. Hegel sollte diesem Gedanken mit seiner Dialektik des Negativen später ein prachtvolles theoretisches Gewand verleihen. Der Mensch muß sündigen, muß aus der natürlichen Unschuld heraustreten, um Gott zu werden. Er muß das Versprechen der Schlange halten: ebenso wie Gott muß er Gut und Böse kennen. Diese Kenntnis ist – laut Hegel – Ursprung der Krankheit, aber auch Quelle der Gesundheit, sie ist der Giftkelch, aus dem der Mensch Tod und Verwesung trinkt, gleichzeitig aber auch der Ausgangspunkt der Versöhnung, weil das Sich-als-böse-Darbieten an sich die Überwindung des Bösen ist9. Dank dieser Perspektive kann die Figur des rebellischen Engels, der den Menschen provoziert und ihn dadurch zu seiner Freiheit erheben kann, in neuem Glanz erstrahlen. Mephistopheles wird, Schritt für Schritt, zum Helden, dem modernen Prometheus, dem Befreier. „Ohne nun auf die zugrundeliegenden Ursachen eingehen zu wollen,“ – schrieb Roger Caillois im Jahr 1937 – „kommt man nicht umhin festzustellen, daß eines der folgenschwersten psychologischen Phänomene am Anbruch des 19. Jahrhunderts die Geburt und Verbreitung des poetischen Satanismus war, die Tatsache, daß der Schriftsteller nur allzu gern in die Rolle des Engels des Bösen schlüpfte, sich diesem vertraut fühlte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Romantik zum Teil als Werttransmutation10.“ Von Byron bis zu Vigny entwickelt die „satanische Mythologie“ die Figur eines „Engels des Bösen“, Rebell und Rächer, dessen Prämissen weit in die Vergangenheit zurückreichen.

 

Satan gegen Gott

In seinem Buch La chair, la mort et le diable, le romantisme noir erkennt Mario Praz den Anfang dieses Prozesses richtigerweise in der ungewöhnlichen Charakterisierung Satans, die in Miltons “VerlorenemParadies”(Paradise Lost) zu finden ist. In Praz´ Buch, dem bislang interessantesten Werk über die Faszination des Teuflischen in der Literatur des 19. Jahrhunderts, heißt es: „Milton war es, der der Figur Satans die Faszination eines ungebändigten Rebellen verlieh, die der Prometheus des Aischylos und der Capaneo Dantes bereits für sich verbuchen konnten“11. Der Gegner „wird merkwürdig schön“12. Auch Baudelaire sah in Satan die perfekte Verkörperung männlicher Schönheit: „Le plus parfait type de Beauté virile est Satan – à la manière de Milton13,“ schrieb er. Dahingegen, stellte Harold Bloom fest, ist „der Gott Miltons eine Katastrophe“, wie auch Christus, der „in Paradise Lost ein poetisches Desaster ist“14. „Milton war ungeschickt, wenn er über Gott und die Engel schrieb,“ meinte Blake, „aber in seinem Element, wenn er über die Dämonen und die Hölle schrieb. Und das, weil er ein wahrer Dichter war, und auf der Seite des Dämons, ohne es zu wissen“15. Ein Urteil, das P.B. Shelley nur teilen konnte, für den „nichts die Energie und den Glanz der Figur Satans übertreffen kann, wie sie sich in Paradise Lost findet [...]. Der Dämon Miltons ist seinem Gott, als moralisches Wesen, weit überlegen“16.

Unerschrocken und ungebändigt, erscheint der Fürst der Finsternis als wackerer, unermüdlicher Kämpfer gegen die göttliche Tyrannei. Satan ist Prometheus, tritt an die Stelle des mythischen Titanen, der, von Zeus an den Fels gekettet, in der Phantasie des Aischylos unsterblich ist. Der moderne Prometheus stellt sich dem feindlichen, niederträchtigen Gott entgegen. Der luziferische Satan erscheint besser als der Schöpfer: „Milton gesteht Satan offen eine gnostische Haltung zu, eine, nach der Gott und Christus nur Versionen des Demiurgen sind“17. Die wahre Bejahung ist der Dämon. Er, und nicht der gehorsame Engel, erscheint als derjenige, der ethisch und ästhetisch eine größere Faszination besitzt. Schon Hegel meinte, daß man, wenn der Teufel ins Spiel kommt, zeigen müsse, daß in ihm Bejahung ist; seine Charakterstärke, seine Energie, seine Konsequenz erscheint umso vieles besser, bejahender als die irgendeines Engels [..]. Wie bei Milton, wo er, in seiner Energie voller Charakter, besser ist als einige Engel18.

Milton und seiner mythischen Neuversion ist es zu verdanken, wenn Satan so in die moderne Vorstellung einfließen konnte. Was zu dem führt, was Praz in einem Kapitel seines Buches als „Metamorphose Satans“ beschreibt, seine Verwandlung von einer tristen Gestalt in einen positiven Helden: der traurige Rebell, der, wie der Mensch, von einem tyrannischen Gott seiner paradiesischen Glückseligkeit beraubt wurde. In seiner Studie kommentiert Praz mit großer Fachkenntnis Autoren und Strömungen, die sich die satanische Mythologie zueigen machen. Und wenn „der Miltonsche Satan“ im 18. Jahrhundert noch „seine düstere Faszination in den traditionellen Typus des großzügigen Banditen, des sublimen Delinquenten einfließen läßt“19, wird er im 19. Jahrhundert, im Klima der Romantik, zum Rebellen, Ausdruck der metaphysischen Revolution, des „Nein“ zur Schöpfung. Byron war es, der „den Typus des Rebellen, des entfernten Nachkommen von Miltons Satan, perfektionierte“20. Mit ihm wird der Rebell zum „Außenseiter“, zum undurchdringlichen Menschen, der die gewöhnliche Art zu fühlen übertrifft, seine eigenen Verbrechen übertrifft. Er ist der Übermensch, der abseits steht, über und doch gleichzeitig auch unter den anderen Menschen. Er ist der Unglückliche, der vom Groll auf einen grausamen Gott zerfressen wird, dessen Grausamkeit er nachahmt. Die Theologie Byrons ist, laut Praz, dieselbe wie die De Sades, deren Wirken, so der Autor, grundlegenden Einfluß auf die romantische Literatur hatte. Im Zentrum steht der Haß auf die Schöpfung und deren Urheber, die Verherrlichung von Vergnügen und Verbrechen als Hohn, Profanierung, Schmähung. Wir haben es hier, wie Praz meint, mit einem „kosmischen Satanismus“21 zu tun. Der einen enormen Einfluß hat. Wenn die Natur nur schafft, um zu zerstören, bedeutet ihr beizustehen, ihren Rhythmus zu wiederholen, das Vergnügen am Zerstören, den (sadistischen) Genuß, der Freude aus dem Schmerz zieht, Rausch aus dem Vernichten, das Göttliche aus dem Teuflischen. Wie in der Malerei von Delacroix. „Dieser Maler, ‚Kannibale‘, ‚Molochist‘, ‚Schmerzbringer‘, der Delacroix war: Einer, der gar nicht genug kriegen konnte von Gemetzel, Feuersbrünsten, Verbrechen, putrideros, Illustrator der düstersten Szenen des Faust und der satanischsten Gedichte seines vergötterten Byron; dieser Liebhaber der [...] Länder, in denen Gewalt und Hitze herrschen“22. Es ist die Dichtkunst des Baudelaire, der sich von Poe und De Sade inspirieren lässt, und deren kosmischer Pessimismus der manichäischen Häresie ähnlicher ist als der christlichen Religion: „Absolu! Résultante des contraires! Ormuz et Arimane, vous êtes le même!“23. Es ist die Erzählkunst des Flaubert, für den „Néron vivra aussi longtemps que Vespasien, Satan que Jésus-Christ“24. Der Chants de Maldoror von Lautréamont, der zugibt, „das Böse besungen zu haben wie Mieckiewicz, Byron, Milton, Southey, A. de Musset, Baudelaire“25. Eines Swinburne, der, gefesselt von der gnostischen Theologie De Sades, seinen Rebellen ausrufen läßt: „...wenn wir die Natur behindern könnten, dann, ja dann würde das Verbrechen perfekt und die Sünde Realität werden. Wenn der Mensch das tun könnte, wenn er den Lauf der Sterne hemmen und die Gezeiten verändern könnte; wenn er den Lauf der Welt verdrehen, den Sitz des Lebens finden und ihn zerstören könnte; wenn er sich zum Himmel Zugang verschaffen und ihn verpesten könnte, in die Hölle hinabsteigen, und diese von der Unterwerfung befreien; wenn er die Sonne herabholen und die Erde verzehren könnte, und dem Mond befehlen, Gift oder Feuer in die Luft zu sprühen; wenn er die Frucht im Samen zerstören und den Mund des Kindes mit der Milch seiner Mutter sauer machen könnte; dann, ja dann könnte man sagen, gegen die Natur gesündigt; ihr übel mitgespielt zu haben“26.

Zerstörung und Profanierung: darin liegt das größte Vergnügen! Eine beachtliche Strömung der Literatur, angefangen beim Freidenker-Roman des 18. Jahrhunderts, schwelgt geradezu in Profanation. Der Akt des Übertretens begeistert, weil er Transgression bedeutet, Schmähung. Der Leib, der Leib der Frau, ist umso begehrenswerter je wehrloser er ist (Kind, Jungfrau, Nonne). Ihn zu schänden bedeutet, die Transzendenz wegzunehmen, auf die Erde zurückzubringen, das dunkle Gesicht Evas zu enthüllen, das von jeher an die Macht Satans gebundene Ewigweibliche. Das Teuflische vermischt das Reine und das Unreine, braucht die Unschuld, um die Leidenschaft anzustacheln, die explosive Kraft des Negativen. Mit De Sade wird der Eros Teil einer gnostischen Theologie. Nach ihm wird die Union zwischen Eros und Thanatos, Liebe und Tod, dominierendes Element eines luziferischen Nihilismus, der zuerst im Dekadentismus und dann im Surrealismus seine Erfüllung findet.

 

Das Haus des Lazarus, William Blake, Kupferstich, Privatsammlung.

Das Haus des Lazarus, William Blake, Kupferstich, Privatsammlung.

Satan in Gott

Satan ist nicht nur in Prometheus, Gegenstück zum gefallenen Engel Miltons. Satan ist auch in Gott. Die gnostische Theologie, die im Zentrum des rebellischen Atheismus der letzten beiden Jahrhunderte steht, unterscheidet zwischen Luzifer (dem Befreier) und Satan (dem Unterdrücker). Sie findet sich in beispielhafter Form bei Ernst Bloch. Für Bloch ist da auf der einen Seite der Gott der Welt, der „immer deutlicher zum Satan wird, zum Widersacher und zur Stockung; und der mit Jesus, mit Luzifer weiterziehende Gott dereinstiger Himmelfahrt“27. Der Gott der Welt, Schöpfer, ist der böse Demiurg, gegen den sich, im Garten Eden, die Schlange, wahrer Freund des Menschen, erhoben hat. Luzifer ist es, der in dem Wunsch wie Gott zu sein, dem Menschen seine Bestimmung offenbart. „Erst in diesem, das in Jesus geheim blieb, geheim gehalten wurde, für später, für zuletzt, wenn genau dieses Angesicht aufgedeckt werden mag, der aber ruhelos geworden ist, seitdem er zum zweitenmal verlassen wurde, seitdem der Schrei am Kreuz wirkungslos verhallte, seitdem zum zweitenmal der Kopf der am Kreuze hängenden Paradieses-Schlange zertreten wurde, erst in diesem Verborgenen in Christo, als dem Anti-Demiurgischen schlechthin, ist auch das wirklich Theurgische des als Menschensohn Rebellierenden verstanden“28. Die Schlange ist also, wie für die Sekte der Ophiten, an die Bloch in seinem Atheismus im Christentum erinnert, Befreier. Zweimal unterjocht, im Garten Eden und im ans Kreuz geschlagenen Christus wie die Bronzene Schlange des Moses, wartet sie auf ihre Revanche, ihren Sieg über den Demiurgen, den Beginn des „Zeitalters des Geistes“. Markion und Joachim von Fiore, Bloch und den Berührungspunkt der gesamten modernen Gnosis verbindend. Jesus, Antizipation des kommenden Gottes, des „menschlichen“ Gottes, ist der Erlöser vom „satanischen“ Gott. Vom Gott des Kosmos, von Ordnung und Gesetz. Die Revolution, als Auflösung der alten Ordnung, wird hier zum luziferischen Werk des Teufels schlechthin.

Als illustren Vorläufer seines eigenen Denkens verweist Bloch in seinem Atheismus im Christentum auf die Figur William Blakes. Der englische, von der amerikanischen und französischen Revolution so faszinierte Dichter hatte neben der Bibel vier große Lehrmeister: Milton, Shakespeare, Paracelsus, Böhme. Ersterem widmete er ein kurzes episches Gedicht, Milton, das er wahrscheinlich zwischen 1800 und 1803 verfaßte. Darin erscheint Urizen, der Fürst des Lichtes, als mit Satan identisch. Eines der bemerkenswertesten Werke Blakes ist sein 1790 entstandenes The Marriage of Heaven and Hell. Hier erhält die Heiligung der Impulse und des Verlangens, in primis des sexuellen, „for everything that lives is Holy“ („denn alles Lebendige ist heilig!“), ihre Konsekration. Für sie gibt es das Böse, das das Gute leugnet, nicht mehr: Gut und Böse, sie sind beide notwendig. „Ohne Gegensätze gibt es keinen Fortschritt. Anziehung und Abgestoßenwerden, Vernunft und Energie, Liebe und Haß sind notwendig für die menschliche Existenz. Aus diesen Gegensätzen erwächst das, was der religiöse Mensch Gut und Böse nennt. Gut ist die Passivität, die der Vernunft gehorcht. Böse ist die Aktivität, die aus der Energie kommt. Gut ist der Himmel, Böse ist die Hölle“29.

Das Böse, wie in Goethes Faust, ist das, was Energie verleiht, das schlummernde Gute weckt. Der Teufel ist die Kraft Gottes. Diese Vorstellung hatte Blake dem zu verdanken, der als erster der modernen Denker gewagt hatte, das Böse in Gott zu behaupten: Jacob Böhme. Dieser philosophus teutonicus, durchden - so Hegel - erst „in Deutschland Philosophie mit einem eigentümlichen Charakter hervorgetreten ist“30, der von Leibniz, Hegel, Schelling, von Baader und der gesamten theosophischen Strömung des modernen Denkens geschätzt wurde, und für den nach dem ersten Prinzip Gott nicht Gott heißt, sondern Wut, Zorn, bittere Quelle, und von dort das Böse, der Schmerz, das Erzittern und das verzehrende Feuer kommen31. Der Zorn Gottes wird in der Liebe überwunden; bleibt aber dennoch der Urgrund, das Ausgangsprinzip, bei dem alles seinen Anfang nimmt. Böhme hat – so Hegel – „darum gerungen, das Negative, das Böse, den Teufel in Gott zu begreifen, zu fassen“32. Gott ist die Einheit der Gegensätze, des Zorns und der Liebe, des Guten und des Bösen, des Teufels und seines Gegensatzes, dem Sohn. Aus dieser Sicht werden Christus und Satan in gewisser Weise zu Brüdern, Söhne eines einzigen Vaters, Teile von Ihm, Momente seiner polaren Natur. Genau das sollte Carl Gustav Jung in seinem esoterischen, 1916 entstandenen Septem Sermones ad Mortuos, bekräftigen, ein Büch­lein, das er seinen Freunden gab, das aber nie in den Buchhandlungen erschienen ist. Der Text, der sich an dem gnostischen Basilides anlehnt, bekräftigt die Natur Gottes als „Pleroma“, das aus Gegensatzpaaren zusammengesetzt ist, von denen Gott und der Teufel die ersten Manifestationen sind33. Sie unterscheiden sich als Zeugung und Zersetzung, Leben und Tod. Und doch ist die Effektivität beiden gemeinsam. Die Effektivität vereint sie. Die Effektivität steht also über ihnen, ist ein Gott über Gott, weil er in seinem Effekt Fülle und Leere vereint34. Dieser Gott, der Gott und den Teufel vereint, wird von Jung Abraxas genannt. Abraxas schafft Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, Licht und Dunkel, in einem einzigen Wort und in einem einzigen Akt. Denn Abraxas ist fürchterlich35. Er ist die Liebe und ihr Mörder, das Heilige und sein Verräter, er ist die Welt, ihr Werden und Vergehen. Jede Gabe des Sonnengottes bedenkt der Teufel mit seiner Verwünschung36. Die esoterische Botschaft der Septem Sermones führte, wie bei Blake, zur Heiligung der Natur, zur Unschuld des Werdens. Sie schloß schon in sich selbst die Rechtfertigung des Bösen ein, des Teufels, sein Einfügen – wie bei Böhme – in ein polares System. Nicht umsonst sprach Martin Buber, als er mit dem Büchlein in Berührung kam, hier von Gnosis. Sie – und nicht der Atheismus, der Gott nichtig macht, weil er die Vorstellungen ablehnen muß, die man sich bisher von ihm gemacht hat – ist der wahre Antagonist der Realität des Glaubens37. Für Buber stellte die Psychologie Jungs nichts anderes dar als die Wiederaufnahme des Karpokratianischen Arguments, das nun als Psychotherapie gelehrt wird, und das die Instinkte mystisch vergöttlicht, anstatt sie im Glauben zu heiligen38.

Diese Feststellung Bubers war keine reine Mutmaßung. Jung selbst hatte, in Psychologie und Religion auf die Aktualität des gnostischen Karpokrates aufmerksam gemacht, der behauptete, daß „Gut und Böse nur menschliches Dafürhalten seien, und daß dagegen die Seelen, vor ihrem Abscheiden alles menschlich Erlebbare bis auf den letzten Rest durchgemacht haben müssten, wenn sie nicht wieder in das Gefängnis des Körpers zurückfallen wollten. Aus der Verhaftung in die somatische Welt des Demiurgen könne sich die Seele gewissermaßen nur durch völlige Erfüllung aller Lebensforderungen loskaufen“39. Wie er in seinem Zur Psychologie der Trinitätslehre behauptete, braucht das Leben, als energetische Prozesse Kontraste, ohne die es bekanntlich keine Energie geben kann. Gut und Böse sind nichts anderes als die ethischen Aspekte dieser natürlichen Antithesen40. Das ist der Grund, warum Gott Luzifer braucht. Ohne diesen – so Jung – gäbe es keine Schöpfung, und ebenso wenig hätte es dann jemals eine Geschichte der Erlösung gegeben. Schatten und Kontrast sind die notwendigen Bedingungen eines jeden Vollbringens41. Dieser Schatten ist vor allem in Gott, im Ur-Gott, im Unbewussten, das für Jung die wahre Macht ist, die das Leben lenkt und das vom Bewußsteinhabenden Ich „vermenschlicht“ werden muß. Nur in dem menschlichen Gott, Christus, trennt das Urteil das, was im „Pleroma“ (Unbewussten) vereint ist: das Licht und seinen Schatten. Jetzt trennen sich die beiden Söhne Gottes, Satan der Ältere und Christus der Jüngere42, die linke und die rechte Hand Gottes, trennen sich. Diese Antithese repräsentiert für Jung einen zum Äußersten getriebenen Konflikt, und damit auch einen jahrhundertealten Konflikt für die Menschheit, bis zu jenem Punkt oder jener Zeitenwende, an der Gut und Böse beginnen, sich zu relativieren, sich in Frage zu stellen, und sich der Ruf erhebt nach einem Jenseits-von-Gut-und-Böse. Aber im christlichen Zeitalter, also im Reich des trinitarischen Denkens, ist ein derartiger Gedanke ganz einfach ausgeschlossen; denn der Konflikt ist zu stark, als daß man dem Bösen irgendeine andere logische Beziehung zur Trinität zugestehen könnte als den absoluten Kontrast43. Die göttliche, spirituelle Trinität, muß sich mit einem „vierten“ Prinzip aussöhnen: der Materie, dem Körper, dem Weiblichen, dem Eros, dem Bösen, damit der christliche, mit der Welt versöhnte Idealismus zu einer höheren Einheit aufsteigen kann. Und daher gab es – weiß Jung zu berichten – auch in der Zeit absoluten Glaubens an die Trinität stets eine Suche nach dem verlorenen Vierten, von den griechischen Neopythagoreanern bis zu Goethes Faust. Obwohl sich diese Suchenden für Christen hielten waren sie doch eine Art Christen a latere, denn sie weihten ihr Leben dem opus, dessen Ziel die Erlösung vom serpens quadricornutus, der in der Materie gefangenen anima mundi war, des gefallenen Luzifer... Unsere „Vierer“-Formel gibt ihrem Anspruch Recht, da der Heilige Geist, als Synthese dessen, der ursprünglich Eins war und sich dann teilte, einer hellen und einer dunklen Quelle entspringt44. Das „Zeitalter des Geistes“, diese so außergewöhnliche Interpretation, die Jung für Joachim von Fiore findet, ist das Zeitalter, das auf das christliche Äon folgt, das Zeitalter des Abraxas, in dem Leidenschaft und Vernunft, Unbewusstsein und Bewusstsein, Böses und Gutes, Luzifer und Christus, eins werden.

Im Jahr 1919 veröffentlichte Hermann Hesse, der sich 1920 zu Jung in Therapie begab, unter dem Pseudonym Emil Sinclair den Roman Demian. Darin wird der Protagonist, ein junger unerfahrener Mann, von einem „Frei­geist“, der das Kainszeichen trägt, über den Sinn des Lebens aufgeklärt. Für Demian „handelt es sich darum, daß dieser Gott, alten und neuen Bundes, zwar eine ausgezeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich vorstellen soll. Er ist das Gute, das Edle, das Väterliche, das Schöne und auch das Hohe, das Sentimentale – ganz recht! Aber die Welt besteht auch aus anderem. Und das wird nun alles einfach dem Teufel zugeschrieben, und dieser ganze Teil der Welt, diese ganze Hälfte wird unterschlagen und totgeschwiegen“45. Dazu gehört auch, wie Demian meint, die sexuelle Sphäre. Und daher kann man nicht nur Gott allein verehren: „Ich meine, wir sollten alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte! Also müssen wir dann neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst haben. Das fände ich richtig. Oder aber man müsste sich einen Gott schaffen, der auch den Teufel in sich einschließt46. Wie bei Jung „heißt dieser Gott Abraxas; der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war, die offizielle, erlaubte, lichte Welt“47. Er ist die heilige Liebe und die profane Liebe: „Sie war Engelsbild und Satan, Mann und Weib in einem, Mensch und Tier, höchstes Gut und äußerstes Böses“48.

Die Vorstellung vom Göttlichen als coincidentia oppositorum, eine Vorstellung, die den „Pakt mit der Schlange“ auf unauflösbare Weise besiegelt, durchzieht so einen beachtlichen Teil der Kulturwelt des 20. Jahrhunderts. Denken wir nur – als ein Beispiel unter vielen – an die Reflexion von Mircea Eliade, der in zwei Werken, Il mito della reintegrazione (1942) und Mefistole e l´Androgine (1962) auf Suggestion Jungs hin seine Vorstellung von der „göttlichen Polarität“ darlegt. Danach erscheint jede Göttlichkeit polar, gleichzeitig wohltuend und Schaden bringend. Die Schlange ist Bruder der Sonne, ebenso wie, nach einem gnostischen Mythos, Christus und Satan Brüder sein sollen. Diese göttliche Zweier-Einheit bereitet im Menschen die Reintegration von Heiligem und Profanem, Gut und Böse in eine höhere Einheit vor, die, laut Eliade, von der Gestalt des Zwitters symbolisiert wird.

 

<I>Unsterbliche Seelen stürzen in den Abgrund</I>, aus <I>Book of Urizen</I>, William Blake, 1794.

Unsterbliche Seelen stürzen in den Abgrund, aus Book of Urizen, William Blake, 1794.

Schlussbemerkung

Die auf die hermetische Lehre der coincidentia oppositorum gegründete moderne Theosophie der Gegensätze führt zu einer äußerst beunruhigenden Verschmelzung von Göttlichem und Teuflischem, führt zu dem Gedanken vom Teufel in Gott. Der grundlegend gnostische Gedanke, daß Gegensätze Polaritäten sind, ist überall zu spüren – schrieb Romano Guardini im Jahr 1964 – Goethe, Gide, C.G. Jung, Thomas Mann, Hermann Hesse... Alle sehen das Böse, das Negative [...] als dialektische Elemente in der Totalität des Lebens, der Natur49. Diese Haltung – so Guardini –, zeigt sich bereits in allem, was sich Gnosis nennt, in der Alchimie, in der Theosophie. Zeigt sich in programmatischer Form bei Goethe, für den das Satanische sogar bis zu Gott vortritt, das Böse Urkraft des Universums ist, die ebenso notwendig ist wie das Gute, der Tod nur ein anderes Element dieses Ganzen, dessen Gegenpol Leben heißt. Diese Meinung wurde auf jede Art und Weise proklamiert, und im therapeutischen Bereich von Carl Gustav Jung konkretisiert50.

Der grundlegende Gedanke ist, daß die Erlösung über die Degradierung geht, die Gnade über die Sünde, das Leben über den Tod, das Vergnügen über den Schmerz, die Ekstase von der Perversion bewirkt wird, das Göttliche durch das Teuflische. Die Faszination, die das Negative – Metapher des Teuflischen – auf die zeitgenössische Kultur ausübt, hängt von diesem ungewöhnlichen Gedanken ab: daß die Wege des Paradieses durch die Hölle führten, daß „Abstieg in den Hades und Auferstehung“ eins seien51.

Sich dem Teufel ausliefern – nach einer singulären gnostischen Transposition des Gedankens, nach dem Sich-Verlieren, Sich-Finden bedeutet – ist Sich-Gott-Öffnen. In dieser „heiligen“ Verbindung vereinen sich Satan und Gott im Menschen. Hier haben wir die „Identität De Sades und der Mystiker“52, die sich Georges Bataille wünschte. Danach entspricht der Weg nach unten dem Weg nach oben. Faust kann jetzt nicht mehr bereuen, nicht einmal in seiner Todesstunde. Der Gegner ist zum Komplizen geworden, „Teil“ Gottes. Es ist der Weg, Gott zu werden. Der Nervenkitzel des Nichts, des Hinabfahrens in die Hölle, geht mit der Entdeckung des Seins einher, Abraxas, dem Pleroma ohne Gesicht, das bleibt, bewegungslos, beim Werden der Welt.

 

 

Anmerkungen

1 M. Praz, Il patto col serpente, Mailand 1972 (Edit. 1995).

2 Op. cit., S. 12.

3 Vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Haupströmungen.

4 E. Bloch, Atheismus im Christentum, Frankfurt am Main 1968.

5 V. Mathieu, Goethe e il suo diavolo custode, Mailand 2002, S. 192.

6 Op. cit. , S. 65.

7 J. W. Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1986, S. 12, Vers 336-344.

8 M. Eliade, Il mito della reintegrazione, it. Übers. , Mailand 2002, S. 4.

9 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion.

10 R. Caillois, Nascita di Lucifero, it. Übers., Mailand 2002, S. 31.

11 M. Praz, La chair, la mort et le diable dans la littérature du XIXe siècle, Denoël 1975, S. 73.

12 Ebd.

13 C. Baudelaire, Journaux intimes, zit., in: M. Praz, La chair, la mort et le diable dans la littérature du XIXe siècle, op. cit., S. 67.

14 H. Bloom, Rovinare le sacre verità. Poesia e fede dalla Bibbia a oggi, it. Übers, Mailand 1992, S. 106.

15 W. Blake, Il matrimonio del Cielo e dell’Inferno, it. Übers., in: Selected Poems of William Blake, Turin 1999, SS. 24-25.

16 P. B. Shelley, Défense de la Poésie, cit. in: M. Praz, La chair, la mort et le diable dans la littérature du XIXe siècle, op. cit., S. 74.

17 H. Bloom, Rovinare le sacre verità. Poesia e fede dalla Bibbia a oggi, op. cit., S. 105.

18 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion.

19 M. Praz, La chair, la mort et le diable dans la littérature du XIXe siècle, op. cit., S. 74.

20 Op. cit., S. 78.

21 Op. cit., S. 109.

22 Op. cit., S. 139.

23 Zitiert in op. cit., S. 150.

24 Zitiert in op. cit., S. 160.

25 Lautréamont, Lettres, in: Lautréamont, Les Chants de Maldoror, Taschenbuch, Paris 1963, S. 433.

26 Zitiert in: M. Praz, La chair, la mort et le diable dans la littérature du XIXe siècle, op. cit. , SS. 196-197.

27 Ernst Bloch, Geist der Utopie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 341.

28 Op. cit., S. 273.

29 W. Blake, Il matrimonio del Cielo e dell’Inferno, op. cit.,SS. 19-20.

30 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Dritter Teil, Neuere Philosophie; Erster Abschnitt, B) Jacob Böhme.

31 Zitiert in: F. Cuniberto, Jacob Böhme, Brescia 2000, S. 119.

32 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Dritter Teil, Neuere Philosophie; Erster Abschnitt, B) Jacob Böhme.

33 Vgl. C. G. Jung, Septem Sermones ad Mortuos: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, Zürich.

34 Ebd.

35 Ebd.

36   Ebd.

37 M. Buber, Gottesfinsterrnis (Zürich 1953).

38 Ebd.

39 C. G. Jung, Psychologie und Religion, Walter Verlag, Olten und Freibg.i.Breisgau, S. 92/93.

40 C. G. Jung, Zur Psychologie der Trinitätslehre.

41 Ebd.

42 C. G. Jung, Vorwort zu Z. Weblowsky, „Lucifero e Prometeo“, it. Ü. in: C. G. Jung, Opere, Bd. 11, op. cit., S. 299.

43 C. G. Jung, Zur Psychologie der Trinitätslehre.

44 Ebd.

45 Hermann Hesse, Demian, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002, S. 59.

46 Op. cit., S. 59/60 (Kursivsetzung 30Tage).

47 Op. cit., 88/89.

48 Op. cit., S. 90.

49 Vgl. R. Guardini, Wahrheit des Denkens und Wahrheit des Tuns. Notizen und Texte (1942-1964), Paderborn, München, Zürich 1980.

50 Vgl. R. Guardini, Theologische Briefe an einen Freund, Paderborn 1976.

51 E. Zolla, Discesa all’Ade e resurrezione, Mailand 2002.

52 G. Bataille, Dossier William Blake, in: G. Bataille, Œuvres complètes, NRF Gallimard, t. X, S.1979



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