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NOVA ET VETERA
Aus Nr. 06 - 2011

Archiv 30Tage

Ein unbedachter Idealismus


Jules Lebreton schrieb in den zwanziger Jahren zwei Aufsätze über Origenes und die Theologie des Lehrers aus Alexandria: „Ein Idealismus, der sich Gott zu nähern meint, aber die Menschheit Christi aus den Augen verliert.“


von Lorenzo Cappelletti


Die Darstellung der Kunst der Grammatik, Augustinerinnen-Klausurkloster „Santi Quattro Coronati“ in Rom.

Die Darstellung der Kunst der Grammatik, Augustinerinnen-Klausurkloster „Santi Quattro Coronati“ in Rom.

 

In der Dezemberausgabe der Recherches de science religieuse des Jahres 1922 (einer Zeitschrift, die er mit Léonce De Grandmaison gegründet hatte) veröffentlichte Jules Lebreton einen Aufsatz mit dem Titel Les degrés de la connaissance religieuse d’après Origène. Zum gleichen Thema schrieb er einige Zeit später den langen Artikel Le désaccord de la foi populaire et de la théologie chrétienne savante dans l’Eglise du IIIe siècle in der Revue d’histoire ecclésiastique (der erste Teil erschien 1923, der zweite 1924). 1972 veröffentlichte Jaca Book die beiden Aufsätze und machte daraus ein kleines Büchlein, das in der Reihe Strumenti per un lavoro teologico erschienen ist. Seit dem Erscheinen der italienischen Übersetzung sind allerdings bereits über 20, und seit der Veröffentlichung der Originalfassungen schon mehr als 70 Jahre vergangen. Trotzdem ist die Klarheit bisher unübertroffen, mit der Lebreton den Origenismus deutet und dessen Abweichung vom depositum fidei aufzeigt. Und es ist eine durchaus aktuelle Lektion, weil der Origenismus in der Zwischenzeit sicherlich nicht verschwunden ist.

Die Seitenzahlen, die wir hier in Klammern angeben, beziehen sich auf die italienische Fassung der Texte, die Jaca Book herausgeben hat.

 

1. Von der Philosophie zur Häresie

„Das Geheimnis der Trinität, von Vater, Sohn und Heiliger Geist, ist für die einfachen Gläubigen wie einstmals für Clemens von Rom, der Glaube und die Hoffnung der Erwählten. Sie sehen alles in der Heilsperspektive und im Mittelpunkt das Kreuz Christi, seinen Tod und seine Auferstehung als Unterpfand ihrer eigenen. Sie können sagen, wie Origenes es ihnen vorwirft, dass sie nur Jesus Christus und Jesus Christus den Gekreuzigten kennen. Die Gelehrten sehen in diesem Geheimnis die Lösung aller Rätsel der Welt: Wie konnte der unendlich vollkommene Gott etwas erschaffen? Durch sein Wort. Wie konnte sich der unsichtbare Gott zu erkennen geben? Wiederum: durch sein Wort. Schöpfung durch das Wort und Offenbarung durch das Wort: das sind zweifellos authentisch christliche Lehren. Aber die Autoren vor Origenes betrachteten sie vor allem in ihrer Beziehung zum Heilsdogma: Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann für seine Kirche, für seine Heiligen. Diese Überlegungen scheinen hier [in der alexandrinischen Schule] weniger offensichtlich. Denn alle Denker beschäftigt in erster Linie das philosophische Problem [...]. Auf den Boden der Philosophie gelockt, stehen die christlichen Theologen unter ihrem Einfluss: Die Zeugung des Wortes Gottes beschreiben sie im Hinblick auf das kosmologische Problem. Bei der Erschaffung der Welt bringt Gott sein Wort hervor, das von Ewigkeit bei ihm ist“ (42-43).

 

Petrus auf den Schultern der Personifizierung der Tugend der Nächstenliebe. Zu ihren Füßen ist das Laster des Hasses dargestellt, das von Nero repräsentiert wird, Augustinerinnen-Klausurkloster „Santi Quattro Coronati“ in Rom.

Petrus auf den Schultern der Personifizierung der Tugend der Nächstenliebe. Zu ihren Füßen ist das Laster des Hasses dargestellt, das von Nero repräsentiert wird, Augustinerinnen-Klausurkloster „Santi Quattro Coronati“ in Rom.

2. Die Menschheit Jesu Christi

Folglich sieht Origenes im Leib, den der Sohn aus Maria genommen und den sie geboren hat, nicht den Ort des Heils, sondern betrachtet ihn funktional als Lösung eines philosophischen Problems. „“Da uns eine himmlische Kraft, eine mehr als himmlische Kraft treibt, nur unseren Schöpfer anzubeten”, sagt Origenes, “vernachlässigen wir die Lehre von der Geburt Christi, das heißt die elementare Lehre, und erheben uns zur Vollkommenheit, damit sich die Weisheit, die sich den Vollkommenen offenbart, auch uns offenbart” (vgl. Periarchon 4,1,7). Diese “himmlische” Kraft ermöglicht es uns, diese Grundwahrheit zu übersteigen, um zur intelligiblen Wirklichkeit, zur “himmlischen” Welt aufzusteigen“ (97-98). Lebreton merkt hierzu an: „Ohne Zweifel handelt es sich um eine höchst falsche und gefährliche Auffassung von der Inkarnation des Sohnes Gottes und von seiner Entäußerung. Aber dieser Fehler gehört zur inneren Natur des Origenismus, zum unbedachten Idealismus, der sich Gott zu nähern meint, aber die Menschheit Christi aus den Augen verliert“ (89).

Vorsicht! Das geistliche Christentum schließt bei Origenes das leibliche nicht aus, das geheime nicht das offenbare, und das ewige Evangelium nicht das Evangelium, wie es die einfachen Christen verstehen. Lebreton schreibt deshalb, dass für Origenes „der einfache Glaube, der Jesus Christus den Gekreuzigten zum zentralen Gegenstand hat, zweifellos eine nützliche Erkenntnis ist. Doch es handelt sich um eine elementare Erkenntnis, wie Milch für die Kinder. Die Barmherzigkeit Gottes gibt sie denen, die zu schwach sind, auf eine höhere Ebene emporzusteigen, wo man “Gott in der Weisheit Gottes erkennt”. So überrascht es uns nicht, dass Origenes (vgl. Contra Celsum 3,79) diesen Glauben der Einfachen verteidigt und behauptet, er sei absolut gesehen nicht der vollkommenste, sondern der bestmögliche im Hinblick auf die Schwachheit derer, denen man ihn vorlegen muß“ (73). Aber gerade diese Begründung, die er zur Verteidigung des Glaubens der Einfachen vorbringt, macht ihn zunichte. Lebreton führt ein Zitat aus dem Kommentar zum Johannesevangelium an: „Origenes schreibt: “Das Evangelium, das die Einfachen zu verstehen glauben, enthält den Schatten der Geheimnisse Christi. Aber das ewige Evangelium, von dem Johannes spricht und das wir eigentlich geistliches Evangelium nennen, legt denen, die alles verstehen, was den Sohn Gottes betrifft, sowohl seine Geheimnisse, die seine Predigt erahnen lassen, als auch die Wirklichkeiten, deren Zeichen seine Taten sind, klar dar [...] Petrus und Paulus, die zunächst offensichtlich Juden und beschnitten waren, empfingen von Jesus dann die Gnade, es im Verborgenen zu sein. Sie waren offenbar Juden für das Heil aller: Sie bekannten es nicht nur durch ihre Worte, sondern offenbarten es auch durch ihr Tun. Das Gleiche muss man auch von ihrem Christsein sagen. Und wie Paulus den Juden dem Fleisch nach nicht helfen konnte, indem er, als die Vernunft es verlangte, Timotheus nicht beschnitt, und wenn er, als der Augenblick gekommen war, sich nicht mehr das Haupt scheren ließ und keine Opfergaben mehr darbrachte, oder kurz gesagt: wenn er nicht mehr mit den Juden ein Jude wurde, um die Juden zu gewinnen, so kann der, der sich für das Heil der Vielen einsetzt [Origenes spricht hier von sich], nicht wirksam dem verborgenen Christsein derer beistehen, die noch an den Dingen des offenbaren Christentums hängen. Er kann sie nicht zu besseren Christen machen und sie nicht zu dem führen, was höher und vollkommener ist. Deshalb muss das Christentum sowohl körperlich als auch geistig sein. Wenn man das leibliche Evangelium verkünden und im Kreis derer sagen muss, die dem Fleisch verhaftet sind, dass man nur Jesus Christus und Jesus Christus den Gekreuzigten kennt, dann soll man es tun. Zu denen, die der Heilige Geist zur Vollkommenheit geführt hat, die in ihm Frucht bringen und die himmlische Weisheit lieben, muss man von dem sprechen, was die Menschwerdung übersteigt und bei Gott ist”“ (77-78).

 

3. Die geheime Überlieferung

Die einzige Tradition der Kirche, von der Irenäus spricht und die vor allem der Obhut des Bischofs von Rom anvertraut worden ist, spaltet sich Origenes zufolge unweigerlich in eine zweifache Tradition. „Zum einen die der sichtbaren Kirche: Sie weist wie bei Irenäus oder Tertullian die apostolische Sukzession auf, die bis zu den Bischöfen und zu Christus zurückreicht. Und zum anderen die der Elite, die nur Gott kennt und den Augen der Menschen verborgen ist. Sie beruft sich ebenfalls auf eine apostolische Tradition, die jedoch streng vertraulich, geheim und nur im Verborgenen weitergeben wird“ (94). Geht man der Sache auf den Grund, stellt man nicht nur fest, dass es letztlich zwei Traditionen gibt, eine exoterische (öffentliche, katholische) und eine esoterische (geheime, gnostische), sondern auch, dass sie nicht dasselbe depositum weitergeben.

Weder im Hinblick auf das Objekt: „Die den Einfachen vorbehaltene Lehre ist moralischer Art. Die Offenbarung der Geheimnisse, insbesondere der Trinität, ist das Geheimnis der Vollkommenen. [...] Die zwei Lehren – die eine legt man der Masse vor, die andere behält man den Vollkommenen vor – unterscheiden sich in ihrem Objekt: für die einen das Befehlen der moralischen Gebote, für die anderen die Offenbarung der göttlichen Geheimnisse. [...] Origenes stellt oft die Erkenntnis der Menschheit Christi der Erkenntnis seiner Gottheit gegenüber: Wer dem Fleisch verhaftet ist, dem kann man nur Jesus Christus den Gekreuzigten verkünden. Wer dagegen die himmlische Weisheit liebt, dem offenbart sich das Wort, das bei Gott ist. [...] Er stellt die in den Vordergrund, “die am Logos teilhaben, der am Anfang war, der bei Gott war, der Logos Gottes”. Dann kommen die, “die nur Jesus Christus und Jesus Christus den Gekreuzigten kennen, da sie meinen, der menschgewordene Logos sei der ganze Logos. Sie erkennen Christus nur dem Fleische nach: und das ist die Masse derer, die man Gläubige nennt”“ (79-80).

Noch im Hinblick auf die Methode. So verschieden die Wahrheiten hinsichtlich des Objekts sind, so sind sie es auch in Bezug auf die Erkenntnismethode: „Die einen glauben, die anderen wissen. Die ersten berufen sich aufeine höhere Autorität, für die Wunder bürgen, und ihr Glaube ist schwach. Die zweiten schauen die religiösen Wahrheiten, denen sie zustimmen, und ihre Zustimmung ist fest“ (81).

Ja, man kann sogar soweit gehen und sagen, die öffentliche Tradition überliefere überhaupt keine Wahrheit, sondern nur fromme Lügen: „Aber sind die Grundwahrheiten, die man das einfache Volk lehrt, Wahrheiten im eigentlichen Sinn? Origenes behauptet dies sehr oft, und in dieser Hinsicht unterscheidet er sich von den Gnostikern. Doch wir finden auch einige besorgniserregende Stellen, an denen die Grundlehre als Heilslüge erscheint: Gott täuscht die Seele, um sie zu bilden“ (95).

Um es kurz zu sagen: In der Unterordnung der Grundwahrheiten unter die höheren erscheinen die ersten letztlich als Märchen. In den Homilien über den Propheten Jeremia vergleicht Origenes Gottes Handeln mit der Erziehung, die die Erwachsenen an den Kindern vornehmen. Dazu Origenes: „Wir täuschen sie mit Schreckgespinsten, die zunächst notwendig sind, deren Nichtigkeit sie jedoch später erkennen“ (99).

 

Paulus auf den Schultern der Personifizierung der Tugend der Eintracht. Zu ihren Füßen ist das Laster der Zwietracht dargestellt, das wahrscheinlich von Arius repräsentiert wird, Augustinerinnen-Klausurkloster „Santi Quattro Coronati“ in Rom.

Paulus auf den Schultern der Personifizierung der Tugend der Eintracht. Zu ihren Füßen ist das Laster der Zwietracht dargestellt, das wahrscheinlich von Arius repräsentiert wird, Augustinerinnen-Klausurkloster „Santi Quattro Coronati“ in Rom.

4. Rom, Hüterin des Glaubens

Lebreton zeigt auf, wie sich Rom von Anfang an gegen diese Verunreinigung des Glaubens gestellt hat. Er beschreibt den Konflikt zwischen Hippolyt und Zephyrin, bzw. später Kallistus (der Anfang des 3. Jahrhunderts zum ersten Schisma um den Römischen Stuhl führte), als einen Gegensatz zwischen dem Glauben der Gelehrten und dem der Einfachen. Lebreton erinnert daran, dass Hippolyt in den Philosophoumena seinen Gegnern Ausdrücke in den Mund legte, die disqualifizierend erscheinen müssen: „Zephyrin behauptet: “Ich kenne nur einen Gott: Jesus Christus. Und außer ihm keinen gezeugten Gott, der gelitten hat”; und an einer anderen Stelle: “Nicht der Vater ist gestorben, sondern der Sohn”. Der Traktat in seiner Gesamtheit bestätigt diese Aussagen: Hippolyt ist ein Theologe, stolz auf sein Wissen, eifriger Leser der griechischen Philosophen, die er als Väter aller Häresien verurteilt [auch diese unflexible Verurteilung der Häresie, die nicht aus der Einfachheit der kirchlichen Tradition, sondern der Kultur erwächst – es sei uns gestattet, dies anzumerken –, ist sehr aufschlussreich. Dasselbe geschieht bei Origenes und vielen anderen, die vom Glauben abweichen]. Er beschreibt uns seine Gegner: Zephyrin, ein beschränkter Geist, Kallistus, ein Intrigant, ihre Anhänger, vulgäre Intelligenzen und schmutzige Seelen“ (9). Dieser schismatischen Opposition zu den rechtmäßigen Bischöfen von Rom stand Origenes nicht unbeteiligt gegenüber. Denn er kam nach Rom, als Zephyrin auf dem Bischofsstuhl saß (199-217). Er stimmte wohl dem Schisma des Hippolyt zu. Dies war wahrscheinlich auch einer der Gründe dafür, warum Papst Pontianus einige Jahre später (230), als Origenes vom Bischof von Alexandrien in Ägypten verbannt wurde, in Rom sofort eine Synode einberief, um diese Entscheidung zu bestätigen. Auch er verurteilte Origenes. Aber nicht viele Bischöfe Arabiens, Palästinas und Kappadokiens teilten dieses Urteil.

Einige Jahre vergingen. Seit 247 saß ein Schüler des Origenes, Dionysius, auf dem Bischofsstuhl von Alexandrien. Gegen ihn schritt der damalige Bischof von Rom (auch er mit Namen Dionysius) ein und verurteilte seine gefährlichen Thesen. Lebreton schreibt: „Die Position des Dionysius von Rom und des Konzils gegenüber diesen Thesen ist die traditionelle Position der römischen Kirche. [...] In diesem wie auch in den anderen römischen Dokumenten findet man den authentischen Ausdruck des Glaubens: keine theologische Spekulation, keine dialektische Haarspalterei, nur geringe biblische Gelehrsamkeit, aber die kategorische Darstellung des Glaubens, wie ihn die Kirche bekannte. Dionysius von Rom war auch persönlich ein Mann von großer Bedeutung: Dionysius von Alexandrien bezeugte dies, und auch der heilige Basilius lobte ihn: Hier sprach weder der Gelehrte noch der Theologe, sondern der Papst. Er hatte seinerseits keinen Gefallen an theologischen Spekulationen und kümmerte sich auch wenig um die der anderen. Bekannterweise trug seine Argumentation nicht den feinen Unterscheidungen der alexandrinischen Schule hinsichtlich der drei Personen oder des zweifachen Status des Logos Rechnung. Er kümmerte sich nur um die offensichtlichen Schlussfolgerungen, ob die Autoren dieser Lehren sie nun selbst gezogen hatten oder ob sie sich scheinbar wie von selbst ergaben. Und diese Schlussfolgerungen, die eine Gefahr für den Glauben darstellten, wies er zurück und verurteilte auch die Theologie, die sie hervorgebracht hatte.

Der Brief des Dionysius von Alexandrien war sicherlich trotz seiner unbesonnenen und unbeholfenen Formulierungen weit entfernt von der Lehre des Arius. Aber der Brief des Dionysius von Rom hatte bereits den nizäanischen Akzent: dieselbe Sorge um die Einheit Gottes, dieselbe souveräne und kategorische Festigkeit in der Definition des Glaubens. Diese unüberwindliche Mauer, an der 60 Jahre später die Häresie zerschellen sollte, weist seit damals eine abenteuerliche Theologie in ihre Schranken. Die Fragmente des Dionysius von Alexandrien besitzen, wie wir es bereits bemerkten, einen ganz anderen Charakter als der Brief des Dionysius von Rom: Man findet in ihm keinen Glaubensrichter, sondern einen Exegeten und vor allem einen Metaphysiker, der ganz von seinen Spekulationen eingenommen ist. Er gab sich ihnen auch noch in seiner Apologie hin. Er verfasste sie ja, um seine Orthodoxie an den Tag zu legen. Den überwiegenden Teil der Fragmente kennen wir aufgrund der sorgfältigen und treuen Auswahl des heiligen Athanasius. Wenn uns sein Denken trotz des Eifers des Autors und seines Verteidigers viel weniger sicher und exakt erscheint als das des Bischofs von Rom, dann schließen wir daraus, dass seine Spekulation ihn nicht so sicher führte wie der gemeinsame Glaube den Dionysius von Rom“ (35-36).



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