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CHRISTENTUM
Aus Nr. 11 - 2011

Weihnachten: dankbare Abhängigkeit von Christus


Weihnachtsbotschaft für die Leser von 30Tage von Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury.


von Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury


Erzbischof Rowan Williams zeigt Benedikt XVI. am Ende ihrer Begegnung im Londoner Lambeth Palace die Buchmalerei der „Wurzel Jesse“ in der Lambeth-Bibel (17. September 2010). [© Osservatore Romano]

Erzbischof Rowan Williams zeigt Benedikt XVI. am Ende ihrer Begegnung im Londoner Lambeth Palace die Buchmalerei der „Wurzel Jesse“ in der Lambeth-Bibel (17. September 2010). [© Osservatore Romano]

 

Man spricht heutzutage häufig von denen, die die „Spiritualität“ der „Religion“ vorziehen. Und die meisten von uns verstehen in etwa, was das bedeutet. Es handelt sich dabei um eine Auflehnung gegen die Vorstellung, dass wir Menschen gerettet oder verwandelt werden durch die bloße Treue zum Leben einer Institution und die Zustimmung zu einer Gesamtheit von Lehraussagen oder Theorien.

So aber besteht die Gefahr, den Glauben auf eine Reihe von Erfahrungen zu reduzieren, die bewirken, dass wir uns besser fühlen. Daraus würde auch folgen, dass es keine universale Wahrheit gibt, keine Revolution im Leben der Menschen, die ein für alle Mal rettet, sondern eine Abfolge von „spirituellen“ Experimenten, die unsere Sensibilität erweitern, uns aber nicht in eine neue Welt versetzen. In gewisser Weise brauchen wir eine Sprache, die uns über die nutzlose Polarisierung zwischen diesen beiden Begriffen hinausführen kann, eine neugeschaffene Sprache und die Praxis eines neuen Lebens mit neuen Beziehungen.

In dieser Hinsicht bedeutet von der Kirche sprechen in Wahrheit, sowohl über die Religion als auch über die Spiritualität hinauszugehen. Es gibt die Kirche nicht, damit man wundervolle Erfahrungen macht (und sie verlassen kann, wenn diese Erfahrungen wieder vorbei sind); und ebenso wenig ist die Kirche eine Institution mit gemeinsamen Regeln und Überzeugungen.

Die Kirche ist der Zustand des Einsseins mit Jesus Christus, das heißt sie ist die Gabe, frei zu sein dafür, Sein Gebet zu beten, Sein Leben zu teilen, Seinen Atem zu atmen.

Wir feiern Weihnachten, weil diese neue Lebenssituation einzig und allein von der Tatsache abhängt, dass vor 2000 Jahren im Nahen Osten ein Kind geboren wurde. Sie hängt nicht von der positiven Entwicklung neuer Techniken ab, die uns helfen, uns besser zu fühlen. Und sie hängt auch nicht von der Offenbarung einer Gesamtheit von Theoremen ab. Sie beginnt mit einem schutzlosen Kind, das noch nicht sprechen kann. In der Beziehung zu diesem schwachen Menschenleben wird nämlich letztlich jeder Mensch seine wahre Bestimmung finden.

Im Vergleich zur Faszination überwältigender Erfahrungen und der Sicherheit felsenfester Überzeugungen könnte dies eher zerbrechlich erscheinen. Weil es aber die wahre Quelle des Lebens und der Hoffnung vollkommen außerhalb des Bereichs menschlicher Anstrengung und Organisation ansiedelt, fordert es uns dazu heraus, unser Vertrauen auf ein Fundament zu setzen, das unvergleichlich fester und weniger wandelbar ist: das Handeln und die Verheißung Gottes, das Wort Gottes, das bewirkt, dass das göttliche Leben im Leben der Schöpfung und vor allem im Leben dieses neugeborenen Kindes lebt.

Der Gegensatz zwischen einem Leben der Beziehung in der Gemeinschaft des Leibes Christi und dem Bereich sowohl der „Spiritualität“ als auch der „Religion“ wurde schon vor 1700 Jahren vom heiligen Augustinus aufgehoben, als er die Bekenntnisse schrieb. Er beschreibt seine „geistlichen“ Abenteuer zuerst in einer häretischen Vereinigung mit genau definierten Dogmen, die keinerlei intellektuelle Überprüfung guthieß, dann als Experte der Meditation und einer Art von Mystizismus. Und er spricht in bewegender Weise von der tiefen Unzufriedenheit, die er empfunden hat, als er von weitem das Reich der Wahrheit und des ewigen Friedens erahnte.

Aber er sagt, dass das grundlegende Problem darin bestand, dass er sich nie von der zwanghaften Fixierung auf sein eigenes Ich befreit hatte, von seinem Stolz: „Denn noch war ich nicht demütig genug, meinen Jesus, den demütigen Gott, als meinen Lehrer anzuerkennen.“ Und in einem der großartigsten Bilder seines ganzen Werkes spricht er davon, wie uns Christus dadurch, dass er im Fleisch zu uns kam, davon abhält, anmaßende Schritte bei der Entdeckung der Wahrheit nur auf der Grundlage unserer eigenen Kräfte zu machen. Denn wir werden auf unserem Weg plötzlich aufgehalten, „wenn wir vor unseren Füßen die Gottheit sehen, schwach geworden durch die Annahme unseres Fleisches, und vor ihr uns matt niederwerfen, damit sie aufstehe und uns aufrichte“ (Bekenntnisse VII, 18, 24).

Geistliche Bestrebungen und religiöse Korrektheit beiseite lassend, lädt uns das Weihnachtsevangelium ein, uns ganz einfach in unserer menschlichen Erschöpfung fallen zu lassen auf den Boden der göttlichen Liebe, der göttlichen Liebe, die wehrlos und schwach geworden ist, so dass sie unser eitles Selbstvertrauen in Frage stellt. So erneuert, erheben wir uns entgegen aller Erwartung zu einem Leben der dankbaren Abhängigkeit von Christus und voneinander, zur Gemeinschaft der gegenseitigen Hingabe ohne Ende.

 

 

+ Rowan Canterbury

Lambeth Palace, London Weihnachten 2011



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