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PRESSEPOLEMIK
Aus Nr. 01/02 - 2005

Pius XII., Roncalli und die jüdischen Kinder. Fakten und Vorurteile


Im Rahmen der Debatte, die im Corriere della Sera um die von katholischen Klöstern und Familien aufgenommenen jüdischen Kinder entbrannte, die jüdische Organisationen nach dem Krieg zurückforderten, kam es auch zu Angriffen gegen Papst Pacelli und seinen Nachfolger Johannes XXIII. Aber es sind auch Dokumente aufgetaucht, die eine objektive Rekonstruktion des „Falles“ ermöglichen.


von Gianni Valente


Pius XII

Pius XII

Der journalistisch-historische Disput um die vatikanischen Instruktionen zum Umgang mit jüdischen Organisationen und religiösen Autoritäten, die nach Kriegsende die Rückgabe jüdischer Kinder forderten, die während der Nazi-Verfolgung in katholischen Einrichtungen untergebracht worden waren, ist aus vielerlei Gründen ein merkwürdiger „Fall“. Und doch: wer sich die Zeit nimmt, den gesamten corpus von diesbezüglichen Artikeln und Stellungnahmen mit einem gewissen Abstand durchzulesen, wird das ein oder andere Element entdecken können, das es erlaubt, dieses so komplexe historische Ereignis zumindest teilweise zu rekonstruieren. Mosaikstücke eines noch nicht vollkommenen Puzzles, verborgen hinter undurchschaubaren Schwaden journalistischer Wortklauberei, versteckten, akademisch-kulturellen Faktionen, ideologischen Ressentiments Pius XII. und Johannes XIII. gegenüber. Verstreute Elemente, die es zusammenzufügen gilt, wenn man sich ein objektives Urteil darüber bilden will, was wirklich geschehen ist.

Der Artikel im
Corriere della Sera
Am 28. Dezember machte Alberto Melloni, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Modena und Reggio Emilia, mit einem Artikel und einer irreführenden Schlagzeile (Pius XII. befahl: keine Rückgabe der jüdischen Kinder. Der zukünftige Papst Roncalli widersetzte sich dem Befehl) im Corriere della Sera ein bisher unveröffentlichtes Dokument publik. Ein Dokument vom 23. Oktober 1946, das dem apparatus criticus des 2. Bandes der Reihe Anni di Francia. Agende del nunzio Roncalli 1945-1948 entnommen ist und Ende 2005 von dem französischen Historiker Étienne Fouilloux für das Institut für Religionswissenschaften Bologna herausgegeben werden wird. Mellonis Meinung nach zeigt das Dokument, daß Angelo Roncalli, damals Nuntius in Paris, „vom Heiligen Offizium ausgearbeitete und von Pius XII. approbierte Instruktionen“ erhalten hatte. Instruktionen bezüglich der jüdischen Kinder, die in katholischen Institutionen und Familien untergebracht worden waren und die nun von Persönlichkeiten und Organisationen der jüdischen Welt zurückgefordert wurden, um sie wieder in ihre ursprüngliche religiöse Gemeinschaft eingliedern zu können. Das Dokument wird, in einem Kasten, in Übersetzung aus dem französischen Original angeboten, mit dem Vermerk, daß es aus dem nationalen Zentrum der Archive der Kirche Frankreichs stammt. Besagter Artikel des Corriere della Sera bezeichnet die in dem Dokument enthaltenen Instruktionen als „schauderliche“, Nuntius Roncalli gegebene „Befehle“, und faßt sie wie folgt zusammen: „Den jüdischen Autoritäten dürfen keine schriftlichen Antworten gegeben werden und es ist zu präzisieren, daß die Kirche jeden Fall einzeln abwägen muß; getaufte Kinder können nur Institutionen anvertraut werden, die ihre christliche Erziehung garantieren; Kinder, die ‚keine Eltern mehr haben‘ werden nicht ausgehändigt und eventuell überlebende Eltern können sie nur dann zurückhaben, wenn sie nicht getauft worden sind.“
In der von diesem Artikel ausgelösten Debatte – in der Zwischenzeit waren bereits die wildesten Polemiken im Umlauf (Angriffe auf Pius XII. und Johannes XXIII., Geschichtsdissertationen über Fälle von Zwangstaufen, persönliche Rachefeldzüge zwischen Gelehrten und Journalisten) – kamen jedoch noch andere interessante und bisher unveröffentlichte Dokumente ans Tageslicht. Dieses allmähliche Zusammenfügen des „Puzzles“ erlaubte es dann, den im Corriere della Sera veröffentlichten Text als das einzuordnen, was er auch wirklich war: ein abschließendes Segment einer überaus langen und organischen Sequenz von Dokumenten. Und wiederum nur der französische Aspekt einer Sache, die viel weitere Kreise zog und die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Hl. Stuhl, katholischer Kirche und jüdischer Welt in den Jahren nach der Schoah und unmittelbar nach der Geburt des Staates Israel anging, als jüdische Persönlichkeiten, Institutionen und Agenturen in ganz Europa nach überlebenden jüdischen Kindern – vor allem Waisen – suchten, um diese nach Israel zu bringen. Eine Geschichte, die nachvollzogen werden kann, wenn man die Dokumente nicht in der chronologischen Abfolge ihrer Veröffentlichung liest, sondern sozusagen „von hinten aufgezäumt.“

Von den Dokumenten
zu den Fakten
Alles begann mit einem Brief, den der Oberrabbiner von Palästina, Isaac Herzog, am 12. März 1946 an Papst Pius XII. schickte. In diesem Brief – am 19. Januar dieses Jahres von Andrea Tornielli im Giornale im vollständigen Wortlaut veröffentlicht und kommentiert – legte der Rabbiner noch einmal die Petition dar, die dem Papst bereits bei einer früheren Audienz vorgelegt worden war. Nachdem er dem Papst gedankt hatte, brachte Herzog die Ansprüche auf die durch Schuld der Schoah verwaisten jüdischen Kinder zum Ausdruck, die in katholischen Familien oder Institutionen Aufnahme gefunden hatten. „Ich bin nach Rom gekommen,“ schrieb Herzog darin, „um Sie um Ihre Unterstützung zu bitten, damit diese Kinder wieder ihrem Volk zurückgegeben werden können.“ Der Rabbiner machte darauf aufmerksam, daß „in allen betroffenen Ländern bereits entsprechende jüdische Organisationen im Einsatz“ wären, „die die Mittel haben, sich dieser Kinder anzunehmen.“ Er verwies besonders auf den Fall Polen, wo „sich mit großer Wahrscheinlichkeit noch mindestens 30.000 Kinder in katholischen Klöstern oder Familien befinden.“ Die Frage wurde dem Heiligen Offizium unterbreitet, das bereits am 27. März 1946 ein ad hoc Dokument aufgestellt hatte, das einen Tag später dem Papst vorgelegt wurde. Ein Dokument, das Matteo Luigi Napolitano – Professor für die Geschichte der Beziehungen zwischen Kirche und Staat an der Universität Urbino und Leiter der Homepage www.vaticanfiles.net – in seiner detaillierten Rekonstruktion erwähnt (Avvenire, 18. Januar), wenngleich ohne den Wortlaut des Dokument-Textes, der immer noch unveröffentlicht in den vatikanischen Archiven verwahrt ist. In besagtem Artikel zitiert Napolitano eine Depesche, die der Nuntius in Paris, Roncalli, Ende August 1946 an das Staatssekretariat geschickt hat, und die Aufschluß geben kann über die Entwicklungen, die diese heikle Frage in jenen Monaten in Frankreich ins Rollen brachte. In dem Schreiben berichtete der Nuntius, daß der Oberrabbiner von Frankreich, Isaiah Schwartz, auch an ihn herangetreten wäre mit der Aufforderung, der Hl. Stuhl möge zur Übergabe der in katholischen Klöstern und Familien untergebrachten jüdischen Kinder an jüdische Institutionen schreiten. Roncalli erwähnte auch von Kardinal Suhard, Erzbischof von Paris, hierzu gesammelte Informationen und legte die Briefe bei, die er diesbezüglich von Émile-Maurice Guerry, Koadjutor des Erzbischofs von Cambrai, sowie Kardinal Pierre Gerlier, Erzbischof von Lyon und Präsident der französischen Bischöfe, erhalten hatte. Die Stellung­nahmen und Meinungen der französischen Bischöfe hierzu hat Giovanni Sale, auf der Grundlage unveröffentlichter Dokumente in den Archiven des Staatssekretariats, in der wertvollen Rekonstruktion dieses „Falles“ gesammelt, die in Beilage 3711 der Civiltà Cattolica zu lesen steht, jener Zeitschrift der Jesuiten, deren Entwürfe vom Vatikan korrigiert werden. Die französischen Bischöfe zeigten sich alle geneigt, den von jüdischer Seite gestellten Forderungen nachzukommen, wollten sie doch keine unvorhersehbaren Reaktionen auslösen. Gerlier wies darauf hin, daß „die uns oft entgegengebrachte Dankbarkeit dafür, daß wir diesen armen Kleinen geholfen haben, schnell in Ressentiment umschlagen und bedauerliche Polemiken nähren würde.“ Er gab dem Nuntius auch zu verstehen, daß die französischen Bischöfe Anweisungen gegeben hätten, die jüdischen Kinder, die in Klöstern untergebracht worden waren, nicht zu taufen. Aus Übereifer hatten sich einige Schwestern aber nicht an diesen Befehl gehalten, ihre kleinen Zöglinge getauft, und so „ein sehr ernstzunehmendes theologisches Problem“ geschaffen. Diese umstrittenen Fälle waren also der Grund, warum sich die französischen Bischöfe an den Vatikan gewandt hatten. Guerry hielt es darüber hinaus für angebracht, „der allgemeinen Regel zu folgen, Kinder jüdischer Abstammung den jüdischen Gemeinschaften zurückzugeben.“ Und was die trotz des in weiser Voraussicht seitens der Hierarchie ergangenen Verbots getauften jüdischen Kinder anging, schlug er vor, den Papst darum zu bitten, daß sie „vom Kirchengesetz dispensiert“ würden. Von den kanonischen Normen zu „der in der Kirche sehr verwurzelten Überzeugung“ also, „daß die geistlichen Realitäten die wichtigsten sind, weil sie das ewige Leben betreffen, und daher stets zu gewährleisten und verteidigen seien, weshalb einem Kind, das die Taufe erhalten hat, eine christliche Erziehung gewährleistet werden müsse. Was nur geschehen kann, wenn die damit betrauten Personen Christen sind“ (G. Sale). An diesem Punkt verwies Guerry auf den Präzedenzfall eines israelitischen Mädchens, das zum Katholizismus übergetreten war und dem – auf Befehl von Pius XII. – erlaubt worden war, zu seiner ursprünglichen Familie zurückzukehren, die gegen die Konversion war. Angesichts des Drängens der französischen Bischöfe, „und ohne auf die aufgeworfene Frage einzugehen (wenn er auch die Meinung von Guerry und Gerlier zu teilen schien), bat Nuntius Roncalli den Vatikan um präzise Instruktionen“ (Napolitano). Sein Brief mit Anlagen ging am 5. September 1946 im Vatikan ein.
Jüdische Flüchtlinge an Bord eines Schiffes, das sie von Marseille nach Israel bringen sollte (September 1949).

Jüdische Flüchtlinge an Bord eines Schiffes, das sie von Marseille nach Israel bringen sollte (September 1949).

Die Anfrage der Pariser Nuntiatur an das Staatssekretariat ging im Vatikan ihren gewohnten Weg, mit den üblichen Beurteilungen, den von Dikasterium zu Dikasterium gehenden Dokumenten. Laut Napolitanos Rekonstruktion schickte das Heilige Offizium Mitte September 1946 „eine Notiz mit den für diesen Fall vorgesehenen Vorgangsnormen“ an das Staatssekretariat. Enthalten waren darin die Aussagen, die bereits am 27. März als Antwort auf die Forderungen gemacht worden waren, die Rabbi Herzog dem Papst unterbreitet hatte. Auf der Grundlage dieser Notiz verfaßte das Staatssekretariat eine Depesche, die der vatikanische „Außenminister“, Domenico Tardini, am 28. September 1946 an Nuntius Roncalli nach Paris schickte. Diese auf italienisch gehaltene, in einer Anmerkung des Corriere-della-Sera-Artikels erwähnte Depesche ist das Dokument, das tatsächlich aus Rom abgeschickt wurde. Tardini hat darin die vom Heiligen Offizium diesbezüglich bereits definierten Instruktionen „Wort für Wort abgeschrieben“, damit sie der Nuntius von Paris den französischen Bischöfen mitteilen konnte. Die Nuntiatur Paris stellte dann einen Auszug der „Depesche Tardini“ zusammen (die Tornielli am 11. Februar dieses Jahres im Giornale veröffentlichte), in dem wortgetreu der ganze, vom Heiligen Offizium herausgegebene Instruktionsapparat wiedergegeben ist. Das von Melloni veröffentlichte maschinengeschriebene, letztendlich 20 Zeilen ausmachende französische Resumé ist dagegen lediglich eine weitere, nicht wortwörtliche Reproduktion dieser vatikanischen Instruktionen, ebenfalls von der Nuntiatur abgefaßt und für die französischen Bischöfe gedacht. Die vatikanische Depesche stellt also die „Matrix“ der von der Nuntiatur herausgegebenen Note in französischer Sprache dar. Im nationalen Zentrum der Archive der Kirche Frankreichs, die Tornielli auch als Quelle des von ihm veröffentlichten Auszugs der „Depesche Tardini“ angibt, sind die beiden Dokumente in einer einzigen Akte enthalten, unter Position 7 CE des Archivs des Sekretariats des französischen Episkopats, zusammen mit einem dritten Blatt mit dem Entwurf des Auszugs.
Beide Dokumente (der Auszug der aus Rom gesandten Depesche und die dann von der Nuntiatur herausgegebene Note) tragen folgende, auf französisch gehaltene handschriftliche Anmerkung: „Document communiqué le 30/4/47 à S. Em. Le C.al Gerlier“. Was bedeuten könnte, daß die beiden Dokumente den französischen Bischöfen erst etliche Monate nach Eingang der Instruktionen aus Rom übergeben wurden.

Ein wenig klarer Punkt
Der Vergleich der beiden Texte (siehe Kasten S. 51) bestätigt, daß beide als Hinweise dafür verstanden werden wollen, wie man sich jüdischen religiösen Persönlichkeiten oder Institutionen gegenüber zu verhalten hätte. Das, und nicht die Reaktion auf etwaige Forderungen seitens der Familien der jüdischen Kinder, ist das Objekt beider Texte. Am Anfang der Note heißt es, daß „institutions juives“ die Herausgabe jüdischer Kinder forderten, die während der Nazi-Verfolgung in katholischen Familien oder Institutionen Aufnahme gefunden hatten. Der Auszug der vom Vatikan gesandten Depesche zitiert sogar die „Forderung des Oberrabbiners von Jerusalem“, auf die die „ehrwürdigen Kardinäle“ des Heiligen Offiziums schon am 27. März geantwortet hatten. Die vatikanische Depesche wie auch die von der Nuntiatur herausgegebene Note enthalten also die allgemeinen, bei dieser Gelegenheit vom Heiligen Offizium festgelegten Kriterien, die den französischen Bischöfen als Instruktion für die Reaktion auf die jüdischen Forderungen dienen sollten.
Die Texte der beiden Dokumente enthalten, in unterschiedlichen Formeln und mit anderen Worten, dieselben Instruktionen. Es wird angeraten, nicht schriftlich auf die von jüdischer Seite eingehenden Anfragen zu antworten, um eine Instrumentalisierung derselben zu vermeiden. Bei den etwaigen Antworten bleibt festzuhalten, heißt es, daß sich die Kirche vorbehalte, jeden Fall einzeln abzuwägen und daß die Kinder, die getauft worden waren, nicht „Institutionen anvertraut werden dürften, die ihnen keine christliche Erziehung garantieren könnten“, daß auch die Nicht-Getauften, die der Kirche anvertraut waren und keine Verwandten mehr hatten, niemandem – Personen oder Institutionen – anvertraut werden könnten, der kein Recht auf sie hätte.
Wie man sich angesichts etwaiger Anfragen seitens der Familien der Kinder zu verhalten hat, wird nicht genau mitgeteilt, und hierbei ist auch festzuhalten, daß zwischen den beiden Dokumenten ein Unterschied besteht, der Raum für Interpretationshypothesen läßt. Die von der Nuntiatur herausgegebene Note legt – unter Punkt 5 – fest, daß die von Verwandten eingeforderten Kinder diesen zurückzugeben wären, „vorausgesetzt, daß sie nicht getauft worden sind“. Die vom Vatikan gesandte Depesche, als Auszug von der Nuntiatur herausgegeben, schließt – nachdem die Rückgabe der Kinder an Institutionen, die kein Recht auf sie haben, ausgeschlossen wird – die Reihe von Instruktionen mit einer allgemeinen Formel („anders läge der Fall, wenn die Kinder von Verwandten zurückgefordert werden sollten“); eine Formel, die zwar auf den „Unterschied“ hinweist, der zwischen den von Familien und den von Institutionen gemachten Anfragen zu machen wäre, es aber vermeidet, genauer darauf einzugehen und auch keine konkreten Instruktionen hierzu anbietet.
Im Laufe der Presse-Polemik, die gerade wegen dieser Diskrepanz zwischen den beiden Dokumenten entstanden ist, wurde die von der Nuntiatur vorbereitete Note als eine „reichlich unperfekte Synthese“ (Napolitano) der vom Heiligen Offizium geschickten Instruktionen bezeichnet. In der Tat bekräftigt die Note der Nuntiatur, daß den Familien nur nicht getaufte Kinder zurückgegeben werden können, mit einer indirekten Formulierung, die die mögliche Rückgabe von eventuell getauften Kindern an die Verwandten auszuschließen scheint. Auch die Tardini-Depesche gibt keinen klaren Hinweis, die Kinder an ihre Verwandten zurückzugeben, wenn sie in der Zwischenzeit getauft worden sein sollten. Pater Sales Meinung nach sind sowohl die vatikanischen Instruktionen als auch die Note der Nuntiatur absichtlich vage geblieben. Eine Art gewollter Zurückhaltung, die in dem Versuch, nur ja nicht mit kanonischen Normen und Lehren in Sachen Getaufte auf direkten Kollisionskurs zu gehen, konkrete Lösungswege ermöglichen sollte angesichts der anormalen Situation, in der es zu diesen Taufen gekommen war. Eine Zweideutigkeit, mit der den Bischöfen, „in dieser kontroversen Materie eine gewisse Entscheidungsfreiheit gelassen werden sollte“ (G. Sale). Und gerade in den Fällen der getauften jüdischen Kinder hatten die französischen Bischöfe ja auch präzise Instruktionen erbeten. Ein Vergleich mit den diesbezüglichen, noch nicht veröffentlichten Stellungnahmen des Heiligen Offiziums vom März 1946 könnte hier wichtige Details ans Licht bringen.

Die Fakten und die Vorurteile
Hier oben, Angelo Roncalli, Apostolischer Nuntius in Paris

Hier oben, Angelo Roncalli, Apostolischer Nuntius in Paris

Wie Kardinal Camillo Ruini meinte, konnten mit der geschlossenen Veröffentlichung von Archivdokumenten „präzise und angemessene Antworten“ auf die „üblichen, der geschichtlichen Wahrheit nicht entsprechenden und unnötigen Polemiken“ gegeben werden, die den historiographischen Disput von Anfang an begleiteten. Der Gipfel der Polemik wurde mit dem Artikel von Daniel Goldhagen erreicht (Corriere della Sera, 4. Januar), wo Pius XII. als Entführer jüdischer Kinder hingestellt wurde, als Oberhaupt „einer Kirche, die einen gnadenlosen Antisemitismus betrieb, als die Massenvernichtung der Juden im Gang war.“ Als dann bekannt wurde, daß es sich bei dem im Corriere veröffentlichten Dokument um eine von der Nuntiatur Paris abgefaßte Note handelte, geriet – durch ein groteskes par condicio der Verleumdung voller mehr oder weniger unverhehlter Anklagen des Antisemitismus – der Verfasser derselben, der spätere „gute Papst“ ins Kreuzfeuer der Kritik. „Das ‚schauderliche‘ Dokument hat Roncalli verfaßt“, stellte Il Giornale (5. Januar) in einer seiner Schlagzeilen lapidar fest. Und noch am selben Tag wurde im Corriere della Sera über die Sympathien spekuliert, die der vatikanische Diplomat für das Hitler-Deutschland gehegt haben soll. Doch trotz aller mit vereinten Kräften unternommenen Verunglimpfungsversuche konnten die beiden Figuren, Pacelli und Roncalli, vielleicht noch geschätzter aus diesem Dickicht der konkreten historischen Fakten hervorgehen, die durch jüngste historische und journalistische Ermittlungen ans Licht gebracht werden konnten. Wie im Falle einer römischen Episode um eine jüdische Frau, die 1944 sich selbst und ihre beiden Kinder in dem Kloster der Franziskanerinnen taufen ließ, in dem sie Aufnahme gefunden hatten. Als der Krieg zuende war, verließ die Frau das Kloster, ließ ihre beiden Kinder aber dort zurück. Im November 1947 stand sie dann erneut an der Klosterpforte, in Begleitung des Repräsentanten einer jüdischen Organisation und sagte, sie habe ihren Schritt bereut und wolle die Kinder wieder ihrer Herkunftsgemeinschaft zuführen. Es dauerte keine 48 Stunden, und der Fall wurde Pius XII. unterbreitet, der anordnete, die Kinder sofort ihrer Mutter zurückzugeben. Eine Geschichte, die sehr bezeichnend ist für das Verständnis und die Sensibilität von Papst Pacelli, der – wenn immer er persönlich mit einem solchen konkreten, delikaten Fall zu tun hatte – zwar die kanonischen Normen bezüglich der Rechte anerkannte, die die Kirche kraft der gültig gespendeten Taufe auf einen jeden Gläubigen erwarb, sich aber nicht mechanisch auf die kirchlichen Normen berief, wenngleich er ihnen auch treu blieb, sondern auf seinen gesunden Menschenverstand hörte, der in ihm einfach nur den sensus fidei widerspiegelte. Jenen gesunden Menschenverstand, jenen flexiblen Realismus angesichts kontroverser Lebensumstände, für die Bischöfe, Priester, Ordensschwestern, einfache Gläubige in den ersten Nachkriegsjahren in ganz Europa Zeugnis ablegten, wo fast alle dieser umstrittenen Fälle problemlos gelöst werden konnten.
Nuntius Roncalli war hier keine Ausnahme. Der aus Bergamo stammende Kirchenmann pflegte, seine „heißen Eisen“ „mit gewollter Langsamkeit“ anzugehen (Melloni). Nicht einmal der politische Druck, mit dem man ihn drängen wollte, die französischen Bischöfe zu „entfernen“, die angeblich mit dem Regime Vichy kollaboriert hatten, konnte ihn aus der Ruhe bringen. Er neigte dazu, etwaige Kontraste um kontroverse Fragen nicht noch zu verschlimmern, sondern – soweit möglich – zu warten, bis sich die Wogen mit der Zeit von selbst glätteten. Und mit derselben klugen Umsicht scheint er auch die heikle Frage der jüdischen Kinder angegangen zu sein. Er sammelte bei den französischen Bischöfen Informationen und zeigte, daß auch er ihre von der Vernunft diktierte Neigung teilte, die jüdischen Forderungen nicht zurückzuweisen. Als einfacher Mittelsmann gab er die Instruktionen des Vatikan an sie weiter. Auch in seinen bisher noch unveröffentlichten Tagebüchern geht er – wie die von Andrea Tornielli am 23. Januar im Giornale vorab erschienenen Auszügen erkennen lassen – nicht auf das Problem der Rückgabe der jüdischen Kinder ein. Der einzige Hinweis findet sich in der Episode vom 20. Februar 1953, als er dem französischen Präsidenten Vincent Auriol seinen Abschiedsbesuch abstattete und dieser mit ihm über die Finaly-Affäre sprechen wollte. Den eklatantesten Fall dieser Art. Die Eltern der Geschwister Finaly, die später in den Vernichtungslagern umkamen, hatten ihre beiden Kinder der Leiterin eines Grenobler Kindergartens anvertraut. Als nach dem Krieg Tanten und Onkel Ansprüche auf die Kinder stellten, weigerte sie sich, sie herauszugeben und ließ sie stattdessen, nachdem sie getauft worden waren, in Francos Spanien fliehen. Kardinal Giuseppe Pizzardo, Sekretär des Heiligen Offiziums, nahm in einem Brief vom 23. Januar 1953 dazu Stellung; er riet, die Forderungen der Familie zurückzuweisen, da „die Kirche die unverjährbare Pflicht hat, die freie Entscheidung dieser Kinder zu respektieren, die ihr durch die Taufe angehören.“ Die Sache konnte letztendlich durch Einschreiten von Kardinal Gerlier und dem Oberrabbiner von Paris, Jacob Kaplan, beigelegt werden: die Geschwister Finaly wurden nach Israel gebracht. Der Präsident wollte mit dem Nuntius über diesen umstrittenen, hochaktuellen Fall sprechen, Roncalli aber wechselte das Thema („Er sprach mich auf die Finaly-Affäre an, aber ich gab ihm zu verstehen, dem Ganzen keine große Bedeutung beizumessen...“). Er wußte ja nur zu gut, daß auf einen, zu einem Streitfall ausgearteten Finaly-Fall sehr viele andere kamen – der Großteil, auch in Frankreich –, für die man in der Zwischenzeit eine Lösung gefunden hatte.
Aus den Kriegswirren – diesem unkontrollierten Aufwallen der gemischtesten Gefühle von Schmerz und Verzweiflung, von Trauer, verzweifelter Identitätssuche der Nachkriegszeit – gehen Pacelli und Roncalli, mit ihrem jeweiligen Charakter, ihrer jeweiligen Geschichte, ihrer Flexibilität und auch ihren Limits, als einträchtige Zeugen und Interpreten eines kirchlichen modus agendi hervor, einer Sensibilität – derselben, die damals im Staatssekretariat von Tardini und Montini zum Ausdruck gebracht wurde –, die es zweifelsohne verdient, in aller Freiheit von den Historikern untersucht zu werden. Gewiß ist, daß sie schon damals, lange Zeit vor dem II. Ökumenischen Vatikanischen Konzil, zeigten, den Zeiten der erzwungenen Bekehrungen und Zwangstaufen keine Träne nachzuweinen.


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