Begegnung mit Kardinal Obando Bravo.
„Wir dürfen nicht länger Gefangene der Vergangenheit sein“
Die nicaraguanische Nationalversammlung wird den Erzbischof von Managua zum „Kardinal des Friedens“ ernennen. Interview.
von Gianni Cardinale

Hier oben, Kardinal Obando Bravo, der Präsident Nicaraguas, Enrique Bolaños (Foto, Mitte), und der Leader der sandinistischen Befreiungsfront, Daniel Ortega, bei einer Begegnung im Präsidentenamt von Managua (12. Januar 2005).
Im Jahr 1990, als die sandinistische Partei nach der Wahlniederlage aus der nicaraguanischen Regierung ausschied, hätte sich wohl niemand träumen lassen, daß es 15 Jahre später zu einer feierlichen Aussöhnung mit den hohen Würdenträgern der katholischen Kirche kommen würde. Wie Radio Vatikan meinte, war die sandinistische Administration „ganz besonders unerbittlich gewesen, sogar soweit gegangen, die hohen Würdenträger der nicaraguanischen Kirche zu demütigen, um deren Rolle zu schmälern. Die Exekutive wies 18 Priester aus, sprach gegen die Bischöfe die übelsten Verleumdungen aus, zensurierte die Dokumente des Hl. Stuhls, wie auch die Akten der nicaraguanischen Bischofskonferenz.“ Ganz zu schweigen davon, daß die apostolische Reise des Papstes nach Managua 1983 von Protestbekundungen begleitet war, die die Sandinisten inszeniert hatten.
In den letzten Jahren kam es jedoch zu einer Wiederannäherung zwischen den Sandinisten und der Ortskirche, die 2003 in der Entschuldigung gipfelte, die der Generalsekretär des Fsln und ehemalige Präsident Nicaraguas, Daniel Ortega, öffentlich an die Kirche und die Bischöfe richtete, wo er die seitens seiner Regierung den Katholiken gegenüber Anfang der Achtzigerjahre erfolgten Übergriffe bedauerte. So geschehen im Rahmen der Ansprache zum 24. Jahrestag der sandinistischen Revolution. Am 19. Juli 2004 folgte dann die Ansprache von Kardinal Obando, der anlässlich der Messe für den Frieden und die Aussöhnung vor 30.000 Menschen sagte: „Die Vergebung, die angeboten und angenommen wird, ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Weg zu einem wirklichen und dauerhaften Frieden, wenn man nicht in der Vergangenheit gefangen bleiben will.“ Und es hatte sich um eine eigens von Ortega gewünschte Messe gehandelt (unter dem Vorsitz des apostolischen Nuntius, Erzbischof Jean-Paul Gobel). „Jeder Mensch hegt die Hoffnung darauf, einen neuen Weg des Lebens einschlagen zu können,“ betonte der Kardinal in seiner Homilie und verwies auch darauf, daß dafür, „den Blick in die Zukunft richten zu können – eine Zukunft mit neuen Perspektiven und Verpflichtungen – wirkliche Reue notwendig ist. Wo das fehlt, werden die Wunden auch weiterhin bluten und auch in den zukünftigen Generationen ein Ressentiment ohne Ende nähren, Quelle der Rache und Ursache für neue Zerstörungen sein.“
Am 12. Januar fungierte Obando auch beim Acuerdo por el diálogo nacional als Zeuge, den der Präsident, der Konservative Enrique Bolaños Geyer, und der sandinistische Leader Ortega unterzeichnet hatten. Dieses Abkommen hat – zumindest für den Moment – eine schwere und komplizierte politisch-institutionelle Krise eingedämmt, die schon längere Zeit schwelte: mit einem Ex-Präsidenten – dem Liberalen Arnoldo Alemán –, der wegen Korruption im Gefängnis sitzt, aber die wichtigste Partei des rechten Flügels im Parlament kontrolliert und Bolaños auf dem Kieker hat, und mit den Sandinisten auf politischem Höheflug und fest entschlossen, die Präsidentschaft bei den für 2006 vorgesehenen Wahlen wieder zurückzuerobern. Als Kandidat für die Fsln wird kein Geringerer als Ortega auftreten (der bei den letzten drei Wahlen verloren hat), und das trotz der Opposition des reformfreudigen Teils der sandinistischen Partei.
30Tage hat den zur Vollversammlung der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung nach Rom gekommenen Kardinal Obando gebeten, einige Fragen zu dem Friedensprozess in seinem Land zu beantworten. Der Purpurträger kann zu recht als „Dekan“ unter den lateinamerikanischen Kardinälen betrachtet werden: der „Denstälteste“ leitet die Diözese Managua nun schon seit 35 Jahren.
Eminenz, wie beurteilen Sie den Friedensprozess, der sich seit einigen Jahren in der nicaraguanischen Gesellschaft abzuzeichnen beginnt?
MIGUEL OBANDO BRAVO: Unsere Probleme müssen auf zivile Weise gelöst werden, durch den Dialog. Wir haben hier in Nicaragua ja gesehen, daß wenn der Dialog fehlt, der Krieg kommt. Ich bin seit 35 Jahren Bischof von Managua, und habe zwei Bürgerkriege miterlebt: zuerst den der Sandinisten gegen die Diktatur von Anastasio Somoza, dann den der contras gegen das sandinistische Regime. Und in diesen Jahren war ich immer damit beschäftigt, zu vermitteln, einen Dialog zu suchen. Leider haben wir uns erst dann an den Verhandlungstisch gesetzt, als es schon viele Tote gegeben hatte. Auch heute versuche ich, den Dialog zwischen den politischen Fronten zu fördern, um zu verhindern, daß die Situation außer Kontrolle gerät. Und deshalb war ich auch damit einverstanden, für den Acuerdo por el diálogo nacional am 12. Januar als Zeuge und Garant zu fungieren. Um zu vermeiden, daß sich die in der Vergangenheit gemachten Fehler wiederholen.
In der italienischen Presse schlug das mea culpa von Sandinisten-Leader Ortega hohe Wellen.
OBANDO BRAVO: Ortega hat öffentlich um Vergebung gebeten und wollte, daß ich die Versöhnungs-Messe feiere. Ich habe es für richtig gehalten, das zu tun; schließlich ist der Dialog der Paradeweg für den Frieden.
Nicht alle waren von der Aufrichtigkeit Ortegas überzeugt...
OBANDO BRAVO: Nur der Herr kann den Menschen ins Herz schauen. Ich verstehe, daß die Politiker das anders sehen mögen. Aber wenn jemand um Vergebung und um Aussöhnung bittet, dürfen wir Bischöfe uns nicht zurückziehen.

Kinder in der Kathedrale von Managua
OBANDO BRAVO: Nicaragua ist heute Gott sei Dank ein pluralistisches Land. Und mein Bischofsmotto ist folgender Ausspruch des Paulus: „Omnibus omnia factus sum“, „Ich bin allen alles geworden.“ Ich stehe jeden Tag um fünf Uhr auf und gehe nachts spät schlafen, um genug Zeit zu haben, Audienzen zu geben und meine Priester und Gläubigen auch in den entlegensten Dörfern zu besuchen. Das macht keine Schlagzeilen. Und es kommt vor, daß ich Politiker treffe, die mich um eine Audienz bitten. Das macht sehr wohl Schlagzeilen. Es wundert mich also keineswegs, daß mich der ein oder andere kritisiert hat. Vor allem jetzt, wo bald wieder Wahlen ins Haus stehen.
Aber die Präsidentschaftswahlen sind doch erst nächstes Jahr...
OBANDO BRAVO: Im November. Aber die tatsächliche Wahlkampagne hat bereits begonnen. Ich kann nur hoffen, daß diese Wahlen in einem entspannten Klima stattfinden, und daß die Nicaraguaner in aller Freiheit von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, ohne einen jeden, der anders denkt, als Feind zu betrachten, den man bekämpfen muß, sondern einfach nur als eine Person, die andere politische Vorstellungen hat. Und ich denke, daß verschiedene Meinungen zu haben die Gesellschaft durchaus bereichern kann.
Fürchten Sie, daß auf die bevorstehenden Wahlen von außen Druck ausgeübt werden könnte?
OBANDO BRAVO: Die Wahlen sind eine interne Frage für das nicaraguanische Volk, das sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muß. Gewiß darf es internationale Beobachter geben, damit die Korrektheit und die Glaubwürdigkeit des Wahlprozesses gewährleistet werden kann. Von außen kommende Eingriffe anderer Art würden mir allerdings nicht gefallen.
Wird die Kirche Präferenzen haben?
OBANDO BRAVO: Natürlich nicht. Wir können keine Propaganda für die Partei „x“ oder „y“ betreiben. Wenn es zu großen Ungerechtigkeiten kommen sollte, wird die Kirche natürlich nicht zögern, sie anzuklagen, aber sie ist nicht bereit, sich auf das Parkett der Parteipolitik zu begeben. Wenn uns ein politischer Leader um eine Audienz oder auch um einen Segen bitten sollte, werden wir ihm das gewähren, ganz gleich, welcher Partei er angehört. Ich habe immer gewählt und gedenke, das auch dieses Mal zu tun. Aber die Wahl ist geheim. Und das ist auch gut so. Als Mitglieder der Hierarchie dürfen wir für niemanden Partei ergreifen.

Bauern demonstrieren nahe der Hauptstadt für die Schaffung besserer Lebensbedingungen
OBANDO BRAVO: Die lateinamerikanische Kirche ist eine Kirche, die sich voll und ganz der edlen Aufgabe der Evangelisierung verschrieben hat. Und ich glaube, daß sie – mit Gottes Gnade – eine starke Kirche ist. Stark, weil sie Jesus und die allerheiligste Jungfrau Maria liebt, die unter den zahlreichen Namen angerufen wird, die ihr das Christenvolk im Laufe der Jahrhunderte gegeben hat: Reine, Unbefleckte, Fürsprecherin... Und weil sie eine überaus große Verehrung für Jesus im Sakrament empfindet. Wenn Sie an irgendeinem beliebigen Donnerstag abend in Managua eine Kathedrale betreten, werden Sie dort Tausende von Gläubigen vorfinden, die an der Anbetung des Allerheiligsten teilnehmen, es in Prozession tragen und schließlich die Messe mitfeiern.
Ein historischer Schwachpunkt der lateinamerikanischen Kirche ist der Mangel an Priesterberufungen...
OBANDO BRAVO: Allein auf dem Seminar der Erzdiözese Managua haben wir achtzig Seminaristen. Darüber hinaus gibt es noch das Seminar „Redemptoris Mater“ der Neokatechumenalen mit weiteren vierzig Priesterkandidaten. Als ich nach Managua kam, gab es dort nur 10 Seminaristen. Heute setzt sich der Großteil des Klerus meiner Erzdiözese aus Nicaraguanern zusammen. Und es ist ein junger Klerus. Der einzige Alte ist der Erzbischof...
Halten Sie es für möglich, daß es in Zukunft einen lateinamerikanischen Papst gibt?
OBANDO BRAVO: Die Möglichkeit kann nie ausgeschlossen werden. Aber wichtig ist, daß der Kardinal, der zum Papst gewählt werden wird, ein Mann Gottes ist und derjenige, der am besten geeignet ist, Seine Kirche zu leiten. Ob er nun Italiener, Europäer, Afrikaner oder aus Ozeanien ist, ist nicht so wichtig. Aber hier sprechen wir von der Zukunft. Wir hier in Nicaragua hoffen und beten darum, daß uns der Herr Johannes Paul II. noch lange erhalten möge, den Papst, der unser geliebtes Land zweimal besucht hat.