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ÖKUMENISMUS
Aus Nr. 03 - 2005

ORTHODOXE. Die Verehrung der Reliquien der Heiligen.

Diese Rührung, die uns vereint


Interview mit Kardinal Marc Ouellet, Erzbischof von Montreal. Als ehemaliger Sekretär des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen konnte er viele orthodoxe Bischöfe zu den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus begleiten. Hier sein Bericht...


von Gianni Cardinale


Kardinal Marc Ouellet

Kardinal Marc Ouellet

Als der Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., am 27. November vergangenen Jahres nach Rom kam, wo die feierliche Übergabe eines Teils der Reliquien der Heiligen Gregor von Nazianz und Johannes Chrysostomos stattfand, ließ er über Radio Vatikan wissen: „Das ist eine der schönsten Aufgaben, die ich in meinen 13 Jahren als Patriarch erfüllen durfte.“ Ein Satz, der in vielerlei Hinsicht überraschen mag und zeigt, welch hohen Stellenwert die Verehrung der Reliquien der Märtyrer und Heiligen in der Orthodoxie einnimmt.
Den kanadischen Kardinal Marc Ouellet, seit 2002 Erzbischof von Quebec, hat diese Aussage jedoch nicht überrascht. Der 60jährige Sulpizianer kam Mitte Januar zur Plenarversammlung der Päpstlichen Kommission Lateinamerikas, deren Mitglied er ist, nach Rom und war gerne zu einem Gespräch mit 30Tage bereit.

Eminenz, es hat den Anschein, als hätte die Reliquienverehrung bei den Orthodoxen einen höheren Stellenwert als bei uns Katholiken...
MARC OUIELLET: Man kann tatsächlich den Eindruck haben, daß der Reliquienkult bei den Orthodoxen intensiver empfunden wird als in der katholischen Kirche von heute. Dazu kommen mir einige Episoden in den Sinn, deren Zeuge ich werden durfte, als ich noch Sekretär des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen war. Eine ereignete sich im März 2002. Ich begleitete eine Delegation der griechisch-orthodoxen Kirche bei ihrer Besichtigung der Basiliken St. Peter und St. Paul. Es handelte sich um eine Gruppe von Bischöfen unter Leitung von Metropolit Attica Panteleimon, der in die Ewige Stadt gekommen war als Gegenbesuch zu der Reise auf den Spuren des Apostels Paulus, die Johannes Paul II. im Mai 2001 nach Athen geführt hatte.
Was hat Sie bei diesem Besuch der Apostelgräber am meisten beeindruckt?
OUELLET: Der Delegat der Dombauhütte von St. Peter, Bischof Vittorio Lanzani, begleitete uns in die Vatikanischen Grotten. Als wir vor dem Confessio-Altar angekommen waren, standen wir vor einer Urne, in der die baumwollenen Pallien aufbewahrt sind. Msgr. Lanzani erklärte den griechischen Bischöfen, daß sich dahinter das Grab des Apostels Petrus befände. Metropolit Panteleimon fragte, wo genau denn die Reliquien zu finden wären, und Msgr. Lanzani deutete auf die grüne Marmorplatte rechts von der Urne mit den Pallien. Ich hatte zuerst nicht verstanden, warum Panteleimon diese Frage gestellt hatte. Aber schon wenig später wurde es mir klar. Ich empfinde noch heute Bewunderung und Staunen, wenn ich daran denke, wie die griechischen Bischöfe ihre breitkrempigen schwarzen Hüte abnahmen, niederknieten, mit der Stirn die grüne Marmorplatte berührten, hinter der sich das Grab des Petrus befindet. Und dann beteten sie.
Was geschah in St. Paul vor den Mauern?
OUELLET: Als wir vor der weißen Marmorplatte standen, die über dem Grab des Völkerapostels liegt, baten uns die griechischen Bischöfe darum, sie einen Augenblick allein zu lassen. Später erzählte mir einer der Bischöfe dann, daß sich ein jeder von ihnen auf den Boden gelegt und sein Brustkreuz in den Spalt hatte rutschen lassen, der sich in der Marmorplatte befindet, damit das Kreuz den Ort der Bestattung des Paulus berühre. Diese Episoden haben mich nachhaltig beeindruckt. Und daher wundert es mich keineswegs, daß Patriarch Bartholomaios die Übergabe der Reliquien Gregors von Nazianz und Johannes’ Chrysostomos als den bedeutendsten Moment seines Dienstes als Patriarch von Konstantinopel betrachtet.
In der Ausgabe des Osservatore Romano vom 10.-11. Januar stand ein Artikel von Msgr. Walter Brandmüller zu lesen, Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften. Darin wird behauptet, daß es keine Beweise dafür gäbe, daß die Reliquien dieser beiden Heiligen während des 4. Kreuzzuges entwendet worden seien.
OUELLET: Zu diesen Polemiken möchte ich mich nicht äußern. Es ist eine Tatsache, daß diese Reliquien zuerst in Konstantinopel waren und sich heute in Rom befinden. Aber dazu fällt mir noch eine andere Episode ein, die mit dem Besuch der Bischöfe des Jahres 2002 zusammenhängt.
Bartholomaios I. betet 
vor dem Grab des Apostels Petrus in den Vatikanischen Grotten (Morgen des 29. Juni 2004).

Bartholomaios I. betet vor dem Grab des Apostels Petrus in den Vatikanischen Grotten (Morgen des 29. Juni 2004).

Welche?
OUELLET: Ich erinnere mich daran, daß der Delegation die Reliquien gezeigt wurden, die man beim berüchtigten 4. Kreuzzug in Konstantinopel entwendet und nach Rom gebracht hatte. Ich hätte mich vor lauter Scham am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Aber Panteleimon zupfte mich nur am Ärmel und sagte: wir sind wirklich froh darüber, daß diese Reliquien hier aufbewahrt sind; viele Reliquien sind verlorengegangen, diese hier aber nicht, und so können wir sie heute verehren. Diese Worte – vielleicht auch ein bißchen von einem gesunden Sinn für Diplomatie diktiert – halfen mir, diesen Moment der Peinlichkeit zu überwinden. Und waren mir ein großer Trost.
Eminenz, erlauben Sie mir noch eine letzte Frage zu den Perspektiven des Ökumenismus. Manchmal kann man den Vorwurf hören, daß die Katholiken der Orthodoxie zu viele Zugeständnisse machen; letztere dagegen der Kirche von Rom überhaupt keine Zugeständnisse macht.
OUELLET: Ich kann diese Perplexität verstehen. Aber ich glaube, daß doch stets die Kirche von Rom, die den Vorsitz hat in der Liebe, den ersten Schritt tun muß. Sie muß es sein, die in Demut versuchen soll, das Gebot des Herrn zu befolgen, nach dem die Brüder eins sein sollen.


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