ANALYSE. Die katholische Kirche und der Krieg.
Der erste Kreuzweg des 21. Jahrhunderts
Der Krieg im Irak war für den Papst nicht einfach nur „ein bedauerlicher Krieg.“ Er wurde von Anfang an als ein „Zeichen der Zeit“ gesehen. Ein beunruhigendes Zeichen für einen Bruch mit den Regeln, die das Leben der internationalen Gemeinschaft ein halbes Jahrhundert lang gewährleistet hatten, und ein erstes Anzeichen für einen Machthunger mit ungeahnten Ausmaßen.
von Marco Politi
Johannes Paul II. beim Kreuzweg im Kolosseum am 23. März 2002
Daher hat Johannes Paul II. für seinen Kreuzweg beim Kolosseum dieses Jahr Worte gewählt, die den Tod heraufbeschwören. „Die Erde ist ein Friedhof geworden. Wieviele Menschen, wieviele Grabstätten: ein einziger Planet von Gräbern...“ Ein Text, den er 1976 für Paul VI. geschrieben hat, und den er daher wohl mit noch größerer Intensität empfindet. Bereichert durch das Bild Mariens, gebeugt über die Menschheit, um „das Wehklagen der Kinder“ zu hören und sie zu trösten.
Gewiß, für den Gläubigen ist das Grab des Auferstandenen Unterpfand des Heils, aber die Osterfreude kann und darf nicht auf die Gräber vergessen machen, die von der Gewalt eines Krieges gesät wurden, der vermieden hätte werden können, und dessen Unmoral kein auf dem Schlachtfeld errungener Sieg auslöschen kann.
Karol Wojtyla hat die letzten Monate – vom bedrohlichen Gären der amerikanischen Kriegsvorbereitungen bis zur Sabotage der Arbeiten der UN-Inspekteure, von dem von Bush gestellten Ultimatum, ohne sich um die Legalität der UNO zu kümmern, bis hin zum rücksichtslosen Einsatz der Waffen – in dem vollen Bewußtsein der historischen Bedeutung dieses Ereignisses erlebt.
Der Krieg im Irak war für den Papst nicht einfach nur „ein bedauerlicher Krieg.“ Er wurde von Anfang an als ein „Zeichen der Zeit“ gesehen. Ein beunruhigendes Zeichen für einen Bruch mit den Regeln, die das Leben der internationalen Gemeinschaft ein halbes Jahrhundert lang gewährleistet hatten, und ein erstes Anzeichen für einen Machthunger mit ungeahnten Ausmaßen.
Es gibt zwei Momente in der Zeitgeschichte, in denen Papst Wojtyla klar und deutlich das Sich-Herauskristallisieren einer Wende erkannt hat, eines neuen Kapitels, das vom Engel oder vom Teufel der Geschichte aufgeschlagen wurde; und mit einem ebenso klaren Verstand hat er sich in eine geopolitische Schlacht gestürzt.
Das erste Mal in den Achtzigerjahren, als er noch vor den politischen Leaders des Westens erkannte, daß die Geburt von Solidarnosc in Polen nicht das Phänomen einer Rebellion oder Reform war, das vom kommunistischen System absorbiert werden konnte, sondern eines, das zeigte, daß das sowjetische Modell immer mehr an Boden verlor. So erklärt sich auch die Hartnäckigkeit, mit der sich der Papst dafür einsetzte, daß Lech Walesa wieder auf die politische Bühne zurückkehrte und keinen Kompromiss akzeptierte, auch nicht im Austausch gegen Privilegien für die Kirche. Denn Walesa und seine Gewerkschaft, „und niemand sonst“ waren der Kurs, der eingeschlagen werden mußte, wenn man mit dem Einparteiensystem brechen wollte. Es waren die Jahre, in denen die Politik des Hl. Stuhls im Zeichen des Weitblicks, der Vorsicht und der Hartnäckigkeit stand, auch dank einer strategischen Konvergenz mit dem Amerika Ronald Reagans beim Gemeinsame-Front-Machen gegen das „Imperium des Bösen“. Der „Schande unserer Zeit,“ wie es Kardinal Joseph Ratzinger in einem berühmten Dokument definierte.
Denselben Scharfsinn dafür, daß sich ein neues (und gefährliches) Kapitel in der Geschichte der Menschheit aufzutun schien, zeigte Karol Wojtyla, als die amerikanischen Ideologen der „zügellosen Macht“ im Herbst 2002 damit begannen, George W. Bush von der Notwendigkeit der Invasion und Besetzung des Irak zu überzeugen. Und wieder einmal hat Papst Wojtyla voller Energie und ungeachtet seines Alters eine weltweite politische Aktion ins Rollen gebracht, die den Völkern vor Augen führen sollte, daß es einen alternativen Weg gab „und immer noch gibt“, um die Krisen der Welt in den Griff zu bekommen.
Es lohnt sich, einen Blick auf die Atmosphäre im vergangenen Herbst zu werfen. Das „Nein“ Deutschlands wäre, so sagte man, nichts anderes als ein „Wahlen bedingtes“ Strohfeuer. Frankreich würde zwar protestieren, sich dann aber doch sehr wohl davor hüten, beim Sicherheitsrat ein Veto einzulegen. Russland würde schlau genug sein, sich mit den Amerikanern abzustimmen, Und alle, die einen mehr, die anderen weniger murrend, würden dann das kleinere Übel wählen und es der UNO überlassen, dem Angriff auf den Irak grünes Licht zu geben.
Das Gegenteil war der Fall, und man kann in aller Ruhe analysieren, wie das Handeln von Johannes Paul II. nachhaltig dazu beigetragen hat, jene weitreichende Front zu bilden und zu stärken, die dem Krieg Bushs seine Legitimität absprach und verhinderte, daß die amerikanische Supermacht – trotz der Ausübung von Druck, Drohungen und Erpressungsversuchen wirtschaftlicher Art – bei der UNO die notwendige Mehrheit „zusammenkratzen“ konnte, um dem Unterfangen zumindest einen Anstrich von Legalität zu geben. Wenn Chile und Mexiko, die doch so sehr an guten Beziehungen zu den USA interessiert sind, nicht ja gesagt haben; wenn Deutschland bei seinem „Nein“ geblieben ist, und das trotz der von der christdemokratischen Opposition an Bundeskanzler Schröder geübtenûKritik; wenn Kanada, das durch seine umfangreichen Handelsbeziehungen an die USA gebunden ist, bis zuletzt für Lösungen plädierte, die den UN-Waffeninspekteuren mehr Zeit ließen; wenn in Italien und Spanien – obgleich deren Regierungen mit Bush alliiert sind – die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gegen den Krieg war, kann man doch nicht bestreiten, daß die noch nie dagewesene Mobilmachung der katholischen Hierarchie für die Sache des Friedens durchaus ihr Gewicht hatte. Und in Szene gesetzt hat sie Johannes Paul II.
Der Papst hat seine Politik nach und nach und ohne jegliche Effekthascherei entfaltet. Im Oktober schrieb er einen persönlichen Brief an Präsident Bush, in dem er ihn daran gemahnte, im Rahmen der Vereinten Nationen zu handeln. Im Dezember, begann er damit, durch seine engsten Mitarbeiter präzise Signale zu geben. Sein Außenminister, Jean-Louis Tauran, wies darauf hin, daß der „Präventivkrieg“ jeder Grundlage entbehrt, daß man damit „Gefahr läuft, das Gesetz des Dschungels“ einzuführen, wenn nun jeder Staat beschließen würde, in jeder beliebigen Region der Welt nach eigenem Gutdünken „Ordnung zu schaffen.“ Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano bekräftigte auch, daß der „Präventivkrieg“ nicht zum Vokabular der UNO gehört und warnte die USA davor, eine langfristige Teilung zwischen westlicher und islamischer Welt herbeizuführen. Msgr. Renato Martino, Präsident des Päpstlichen Rates Iustitia et Pax, erklärte, daß es keinen „Weltpolizisten“ geben darf, „der alle an die Kandarre nimmt, die sich schlecht benehmen.“
Nach und nach hat der Papst dann – jeweils den richtigen Zeitpunkt abwartend – als seine Sondergesandten die Kardinäle Roger Etchegaray und Pio Laghi nach Bagdad und Washington geschickt, um an das Verantwortungsgefühl des irakischen und des amerikanischer Leaders zu appellieren: mit dem Ziel, Saddam Hussein dazu zu bewegen, alle Forderungen der Vereinten Nationen bereitwillig zu erfüllen, und George W. Bush, den Weg des Multilateralismus und des in der UNO-Charta enthaltenen Paktes für internationales Zusammenleben nicht zu verlassen. In der Zwischenzeit wurde die Lehre Wojtylas von der vielfältigen Aktivität von Pfarreien, Vereinigungen, Bischöfen, Kardinälen weiterverfolgt, die ein nie dagewesenes Ausmaß angenommen hat.
Und doch könnte man die Person Karol Wojtylas nicht erfassen, wenn man sich nicht dessen bewußt wäre, daß es keinen Moment seiner öffentlichen Aktivität gibt, in dem nicht auch Wojtylas Aspekt als Mystiker und Prediger des Evangeliums zutage tritt. Seine starken Verweise auf die Klagelieder des Jeremias („wenn ich hinausgehe ins offene Land, siehe da, die vom Schwert Durchbohrten; ziehe ich durch die Stadt, siehe da, die Schrecken des Hungers!“), seine Einladungen zum Gebet, seine Ermahnungen zum „Schweigen Gottes“, seine Aufforderung zum Fasten für den Frieden, die auch bei so vielen Nicht-Gläubigen großes Echo fand, haben unter Beweis gestellt, daß der gelebte Glaube keinesfalls ein leerer Trost ist. Kein fleischloser Spiritualismus, sondern konkreter Faktor zur Förderung des Gemeinwohls. Fides et Ratio, die Fixpunkte einer seiner letzten Enzykliken, können mit gutem Recht als „Markenzeichen“ der geopolitischen Bemühungen des Papstes in dieser Jahreszeit betrachtet werden. Dem Glauben und der Vernunft nach hat sich Johannes Paul II. für ein Zusammenleben und harmonische Beziehungen der Menschheit eingesetzt – über jeden Rassenunterschied, jede Religion, Kultur oder Wirtschaftssystems hinaus.
Britische Hubschrauber bei einer Mission in der Nähe von Bassora.
Für das Heute
und das Morgen
Nachdem dieser Krieg mit seinem so sicheren Ausgang ausgebrochen war, hat man sich gefragt, welchen Sinn Wojtylas langer Kampf gehabt habe und die Schlußfolgerung gezogen, daß es besser ist, sich der Realpolitik zu verschreiben und die Appelle von Johannes Paul II. ins Archiv der guten moralischen, um nicht zu sagen moralistischen, Vorsätze gehörten.
Doch weit gefehlt. Karol Wojtyla hat – zusammen mit den gemeinsame Front machenden Deutschen, Russen und Franzosen, der Bewegung der Nicht-Alliierten, den Arabischen Ländern, zahlreichen lateinamerikanischen, asiatischen und afrikanischen Ländern – verhindert, daß die Vereinten Nationen mit einer Zustimmung zur Invasion und Besatzung des Irak ihre moralische Legitimität verlieren könnten. Für jeden, der nicht will, daß das chaosbringende Gesetz des Stärkeren Oberhand hat, ist die UNO auch heute noch der einzige Garant der internationalen Legalität, wie aus den Kommuniqués des Hl. Stuhls – nach den Begegnungen des Papstes mit Joschka Fischer, Kofi Annan, Tony Blair, Tarek Aziz, Silvio Berlusconi – immer wieder hervorgeht. Die Stellungnahmen des Papstes haben allen zu verstehen gegeben – besonders im Nahen Osten – , daß es sich bei Bushs Krieg keinesfalls um einen Zusammenprall zwischen dem Christentum des Westens und dem Islam handelt. Und schließlich ist es Johannes Paul II. auch gelungen, zu bekräftigen, daß die Religionen, im Gegenteil dazu, wie sie von den Fundamentalisten empfunden werden, nicht Werkzeug von Kriegen sein dürfen, sondern Faktoren der Brüderlichkeit und des Zusammenlebens sein können und sind. Die gemeinsamen Kommuniqués zwischen Anglikanern und Katholiken in England, die Dokumente, die gemeinsam von Juden, Christen und Muslimen in Frankreich unterzeichnet wurden, der von den Protestanten und Orthodoxen des Nationalen Rates der Kirchen der USA an den Papst gerichtete Appell, er möge im Glaspalast der UNO sprechen, die Anerkennung, die Muslime aus dem Nahen Osten gezeigt haben – das alles sind wertvolle Samen einer Geopolitik der Zukunft, die im Zeichen von Dialog und Trost steht (aber auch des legitimen Interessenkonflikts – allerdings im Rahmen der allgemein anerkannten internationalen Regeln).
Jetzt, wo der Irak erobert scheint, treten all jene sorgenvollen Vorhersagen zutage, die am Vorabend des Krieges von so vielen Seiten geäußert worden waren und die Roger Etchegaray befürchten ließen, daß wir vor einem „Dritten Weltkrieg“ stünden. Die Destabilisierung der internationalen Beziehungen ist tiefgreifend, wie der Präsident der CEI, Kardinal Camillo Ruini, betont hat. Anstatt der Demokratie wird nun in Bagdad ein amerikanischer Prokonsul Einzug halten, werden die Ministerien von Amerikanern besetzt und der neue Präfekt für das Erdöl ein ehemaliger Shell-Manager sein. Die UNO soll – nach Ansicht des Weißen Hauses – nur als humanitäre Intendanz fungieren.
Johannes Paul II. hat bereits bei seiner jüngst stattgefundenen Begegnung mit dem französischen Minister Dominique de Villepin angedeutet, welchen Kurs der Hl. Stuhl einzuschlagen gedenkt: es den Irakern zu überlassen, über ihre Zukunft und Ressourcen zu entscheiden, den Vereinten Nationen die zentrale Rolle beim Übergang zum Frieden zu übertragen.
Wir wissen bereits, daß die Falken um Bush darüber nur spotten können. Die öffentliche Meinung scheint jedoch weltweit auf der Seite des „alten Mannes aus Rom“ zu sein. Und das ist ein Wunder des Dritten Jahrtausends, das niemand im Konklave vom Oktober 1978 auch nur zu ahnen ge wagt hätte.