Startseite > Archiv > 04 - 2003 > Die Schlange vermittelt die Erkenntnis von Gut und Böse
GNOSTIZISMUS
Aus Nr. 04 - 2003

Die Aktualität der antiken Gnosis und ihrer Entstellungen

Die Schlange vermittelt die Erkenntnis von Gut und Böse


Der Pakt mit der Schlange. Die Aktualität der antiken Gnosis und ihrer Entstellungen.


von Lorenzo Bianchi


Die bronzene Schlange, Antonie van Dyck (1599-1641), Prado-Museum, Madrid.

Die bronzene Schlange, Antonie van Dyck (1599-1641), Prado-Museum, Madrid.

„Es ist daher besser und gesünder, einfach und unwissend zu sein und Gott durch die Liebe nahezukommen, als zu glauben, viele Dinge zu wissen und nach vielen Gedankenabenteuern blasphemisch gegen Gott zu sein"1: So lautet das synthetische Urteil, das der hl. Irenäus, Bischof von Lyon, in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts über die Theorien der verschiedenen häretischen gnostischen Sekten abgegeben hat. Ein in dieser Zeitschrift erschienener Artikel von Massimo Borghesi2, der sich mit der Gnosis befasst, der die moderne Kultur unterliegt, hat an den Bezug Letzterer auf die Gnosis der antiken Welt erinnert, besonders an die Lehre der Sekte der Ophiten.
Diese Sekte von „Schlangenanbetern" ist uns aus mehr oder weniger verbreiteten Andeutungen in den Werken christlicher Apologeten bekannt: von den Beschreibungen des Irenäus3 und Hippolyt4 bis zu den synthetischeren Berichten des Tertullian5, Origenes6, Epiphanius7 und Philastrius8, bis hin zu einer Anspielung, die sich bei Augustinus findet9. Sie ist uns auch aus einem original gnostischen Traktat bekannt, der in Koptisch (dem Ägyptischen der hellenistischen und römischen Epoche) abgefaßten Hypostase der Archonten aus Manuskript II von Nag Hammadi10, der große Ähnlichkeiten mit dem aufweist, was uns durch Irenäus überliefert wurde.
Vor allem Irenäus, zu dessen Lebzeiten das Gedankengut der gnostischen Ophiten am weitesten verbreitet war, sprach von ihnen und „ihren verrückten Ideen11". Beim Lesen des Bericht des Irenäus wird man feststellen können, wie schwierig es ist, der komplizierten und phantasievollen Geschichte des katastrophalen und fatalen Falls des Geistes des göttlichen Schöpfers in die Materie zu folgen und die Natur der Entartungen von Verstand und Realität in ihren Theorien herauszustellen (siehe im Kasten auf dieser Seite die überaus synthetische, aber doch nicht weniger bedeutungsvolle, dem Tertullian zugeschriebene Darstellung). Die Ophiten (oder Naassener, jene Bezeichnung, unter der sie Hippolyt kennt) haben ihren Namen von der Schlange (fiw in Griechisch), denn für sie ist die Schlange das Zentrum, das dominierende Element der Ereignisse, von denen ihre Lehre gekennzeichnet ist. Die Schlange ist — in Antagonismus mit dem bösen Demiurgen und Schöpfer der Materie — die Vermittlerin des Dualismus, der dem gnostischen Konzept zugrunde liegt. Die Schlange ist es, die die gnosis gibt, die Erkenntnis von Gut und Böse. Die Schlange ist das positive Element, das angebetet werden muß, an das man sich wenden muß, um das zu retten, was im Menschen an „Pneumatischem", Spirituellem, vom Schöpfer des Guten Kommenden verborgen ist (in der Materie des Fleisches wie in einem Gefängnis), und um das auf immer abzulegen, was „hylisch" ist , stofflich, also böse: all das Böse, das in der Welt ist und das die Welt ist12. Eine Erlösung, die — gerade wegen der Verachtung des Fleisches, der Materie — auch durch einen Libertinismus der schlimmsten Form (siehe hierzu die Passage im zweiten Kasten auf der vorherigen Seite, mit der Irenäus seine Beschreibung der verschiedenen häretischen gnostischen Sekten abschließt13) erreicht werden kann.
Knapp zweihundert Jahre nach Irenäus, zur Zeit des Augustinus, klang die gnostische Lehre aus der manichäischen wieder heraus, die deren grundsätzliche Natur beibehält, bzw. den Dualismus, der auch den Menschen — Frucht der doppelten Schöpfung eines guten Gottes und eines bösen Demiurgen — teilt in Gut und Böse, Licht und Finsternis.
Dieselben Merkmale finden sich bis zum Mittelalter, bei den Anhängern der mittelalterlichen gnostischen Sekte der Bogomilen, die predigten, daß Gott die Seele geschaffen oder emaniert, der Teufel dagegen den Körper geformt hat. Dieser Gedanke findet sich auch noch bei der Bewegung der Katharer.
Und wenn es — abgesehen von diesen chronologischen Grenzen — rein historisch betrachtet auch schwer ist, die „Abstammung" des modernen Gnostizimus von dem der Antike zu erkennen, wird Letzterer doch vor allem im Rahmen einer esoterischen Spekulation14 in einem gewissen modernen Kulturkontext wiederaufgegriffen. Die Verweise auf die antike Gnosis der Sekte der Ophiten, die Prof. Borghesi in zitiertem Artikel herausgestellt hat, sind der Beweis dafür.

Anmerkungen
1 Irenaeus von Lyon, Adversus haereses II, 26, I.
2 M. Borghesi, Der Pakt mit der Schlange, in 30TAGE, Nr.2, Februar 2003, SS.78-84.
3 Irenaeus von Lyon, op.cit. I, 30, 1-15.
4 Hippolytus, Refutatio; spricht an verschiedenen Stellen von den Schlangenanbetern: V,7, 2-9, 9 (aus einem Text der Nassener); V,10, 2 (der Psalm der Nassenes über die Seele); V, 24, 2-27, 5 (aus dem Buch des Baruch des Gnostiker Justin.
5 An den beschädigten Text des Tertullian, De praescriptione haereticorum, fügen einige Kodexe eine Fortsetzung an, veröffentlicht unter dem Titel Libellus adversus omnes haereses. Die Ophiten kommen vor in II, 1-4.
6 Origenes, Contra Celsum VI, 24-39.
7 Epiphanius, Panarion I, 37.
8 Philastrius, Liber de haeresibus I, 2, 9.
9 Augustinus, De Genesi contra Manichaeos II, 36-40.
10 Siehe W. Förster (ed.) Gnosis, Bd. II, Zurich-Stuttgart 1971, SS. 46-52. Die deutsche Übersetzung findet sich auf S.53-62. Die engl. Übersetzung in J. Robinson (ed.), The Nag Hammadi Library in English, 2. Ausgabe, Leiden 1984, SS. 152-160.
11 Irenaeus von Lyon, op.cit. I, 30, I.
12 vgl. U. Bianchi, Prometeo, Orfeo, Adamo. Tematiche religiose sul destino, il male , la salvezza, Ateneo Editions , Rom 1991, S. 29.
13 Irenaeus von Lyon, op. cit. I, 31, 2.
14 Siehe das Buch von G. Filoramo, Il risveglio della gnosi ovvero diventare dio, Rom-Bari 1990.




Italiano Español English Français Português