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EDITORIAL
Aus Nr. 05 - 2005

Erinnerung an Moro


Am 27. Jahrestag der Ermordung Aldo Moros wurde am Sturzo-Institut der detaillierte Essay des Historikers Prof. Agostino Giovagnoli vorgestellt. Ein Essay mit dem Titel Der Fall Moro, geschrieben mit Hilfe aller möglichen Quellen – auch der des Institutsarchivs, das übrigens eine detaillierte Rekonstruktion jener Personen enthält, die diese nicht enden wollenden tragischen Wochen selbst miterlebt haben.


Giulio Andreotti


Auffindung der Leiche Aldo Moros in der Via Caetani 
(9. Mai 1978).

Auffindung der Leiche Aldo Moros in der Via Caetani (9. Mai 1978).

Am 27. Jahrestag der Ermordung Aldo Moros wurde am Sturzo-Institut der detaillierte Essay des Historikers Prof. Agostino Giovagnoli vorgestellt. Ein Essay mit dem Titel Der Fall Moro, geschrieben mit Hilfe aller möglichen Quellen – auch der des Institutsarchivs, das übrigens eine detaillierte Rekonstruktion jener Personen enthält, die diese nicht enden wollenden tragischen Wochen selbst miterlebt haben.
Was hier herausklingt, ist eine – wenn auch verhohlene – Kritik an der Regierung, die es nicht nur versäumt hatte, den Angriff der Roten Brigaden zu verhindern, sondern dann auch nicht damit umgehen konnte. Und das, obwohl es bereits zu sehr schwerwiegenden Vorfällen gekommen war, mit Todesfällen und (ein Begriff, der damals benutzt wurde) gambizzazioni [Verwundungen, auch im übertragenen Sinne] in allen Richtungen und auf allen Ebenen.
Man hätte die Gefahr erkennen, hätte ahnen müssen, daß die skrupellosen Täter nicht davor zurückschrecken würden, ihre „Ziele“ so hoch wie möglich zu stecken. Unmittelbar nach dem Verbrechen wurde der Umstand kritisiert, daß das Auto Moros keine schußsicheren Fenster hatte. Zu diesem Thema möchte ich nur sagen, daß mein Chauffeur damals, als mir mein Ministeramt im Senat übertragen wurde [am 29. Juli 1976] das schwere Auto mit Panzerglasscheiben nicht wollte, weil er es als für den Stadtverkehr ungeeignet betrachtete. Er holte es erst am Nachmittag des 16. März 1978 aus der Garage.
Und was die fehlende Information alle Bürger und deren Wohnsitze betreffend anlangt, dürfen wir nicht vergessen, daß wir nicht nur in einem wirklich demokratischen Staat leben, sondern sich die öffentiche Meinung auch gegen jegliche Einschränkung ihrer Privacy und ihrer Freiheit verwehrt. Man denke nur an die Reaktionen, als die Regierung Rumor 1975 das Gesetz Reale verabschiedete (benannt nach Justizminister Oronzo Reale), das der Polizei erlaubte, einen Verdächtigen 48 Stunden lang in Gewahrsam zu nehmen, ohne vorherige Bestätigung durch die Magistratur. Ich erinnere mich noch gut an die scharfe Kritik in dem Leitartikel der Turiner Tageszeitung La Stampa, und an den kleinen Vorsprung, mit dem das Referendum für die Abschaffung abgelehnt wurde, trotz der politischen Unterstützung von Christdemokraten und Kommunisten, die – man höre und staune – dieses Mal an einem Strang zogen. Der Vorsprung war so gering (wie übrigens auch im Falle des Gesetzes zur Parteienfinanzierung), daß es Abgeordneter Berlinguer mit der Angst zu tun bekam und der arme Präsident Leone mit seinem Rücktritt dafür bezahlen mußte.
Ein ähnlicher Vorwurf der unzureichenden Überwachung wurde – ungerechtfertigter Weise – in Amerika nach dem 11. September 2001 erhoben, wo – aufgrund der Tatsache, daß eine Gruppe arabischer Krimineller ungestört dort leben, ja sogar Flugstunden nehmen hatte können – gegen Polizei und Geheimdienste schwerste Vorwürfe laut wurden.
Schwere Kritik wurde dagegen von unserer Seite 1978 erhoben. In Sachen Unzulänglichkeit unseres Informationsdienstes. Man muß nur an General De Lorenzo denken, der politisch sozusagen „gelyncht“ wurde, weil er über eine als übertrieben reichhaltig betrachtete Kartei vorbestrafter oder registrierter Personen verfügte. Vielleicht um uns Christdemokraten zu provozieren, machte sich öffentliche Entrüstung darüber breit, daß unter den „Vorbestraften“ auch ein österreichischer Bischof war [der überdies hochrangige flüchtige Nazis beherbergt hatte]. Ich will hier keineswegs Beurteilungen über die Effizienz der Geheimdienste abgeben, zu denen übrigens auch Leute gehörten, die uns für naiv hielten, weil wir der Meinung waren, die demokratischen Regeln wären ausreichend, um uns vor der kommunistischen Gefahr zu schützen.
Hinter dem „Fall Moro“ stand zweifelsohne, und vor allem, die interne (vielleicht auch äußere) Reaktion gegen die kommunistische Partei, die im Jahr 1976 eine Einparteienregierung hatte durchgehen lassen, die von mir geleitet wurde, und die – ohne Unterbrechung seit Mai 1947 andauernde – Opposition beiseite schob. Das war also die erste Konkretisierung der Linie Berlinguer-Moro, die sich eher als Linie nationaler Solidarität beschreiben ließe denn als ein historischer Kompromiß.
Was ich dazu sagen möchte ist, daß wenn sich Berlinguer der Reaktion Moskaus stellen mußte, Moro darüber besorgt war, daß sich Washington so schwer dabei tat, die – wenn ich es einmal so nennen darf – „Atlantische Rechtgläubigkeit“ dieser Entwicklungen zu verstehen. Er wußte nicht (und sollte auch nie wissen), was vorher passiert war, als er die Mitte-Links-Regierungen vorangetrieben hatte und das Unverständnis jenseits des Atlantiks fürchtete (so sehr, daß er mich anflehte, im Amt des Verteidigungsministers zu bleiben, um die Auswirkungen einzudämmen). Viele Jahre später kam ans Licht, daß die Amerikaner bereits direkte Kontakte zu einem sozialistischen Emissär gehabt hatten (dem Abgeordneten Pieraccini), ja, sich sogar über ein Hilfsprogramm einig geworden waren, das jenes ersetzte, das, durch die italienische kommunistische Partei (PCI), von den Russen bereitgestellt wurde.
Die Feststellung, daß wir aufgrund des aufsehenerregenden Massakers in der Via Fani die Dimensionen der Roten Brigaden überschätzten, ist vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen. Und wenn auch einige Zweifel bestehen blieben, so ergab sich in der Folge doch, daß Anführer und Gruppe eine relativ geringe Zahl ausmachten.
Sie hatten von Anfang an beschlossen, auch Moro zu opfern, oder glaubten sie etwa, durch Verhandlungen ihre gefangenen Kumpane freibekommen zu können? Die Briefe Moros helfen lediglich bei der Rekonstruktion der beiden Phasen: zu Anfang wollte Moro selbst die Regierung zu Verhandlungen bringen (was die politische Anerkennung der linken, gegen die PCI gerichteten Splittergruppe bedeutet hätte), und das auch durch Vermittlung des Papstes, der ihm – noch aus FUCI-Zeiten – sehr nahe stand. Als das nichts fruchtete, versuchte er, seine Schergen davon zu überzeugen, auf ihrer Seite zu sein und bereit, die verräterischen Christdemokraten (DC) wie auch Berlinguer & Co. zu bestrafen. Es gibt meiner Meinung nach klare Beweise dafür. In einem seiner letzten Briefe bat er das Unterhaus um seine Verlagerung von der DC-Gruppe in die gemischte Gruppe. Ich glaube, daß er, als sie ihn am 9. Mai wieder seine eigene Kleidung anziehen ließen, meinte, befreit zu werden. Einen zum Tode verurteilten Mann wird es ja wohl kaum interessieren, zu welcher Parlamentsgruppe er gehört.
Das Zwischenspiel mit der Falschmeldung, in der vom Duchessa-See die Rede war, wurde später geklärt. Überzeugt davon, daß sich die Regierung auf keine Verhandlungen einlassen konnte, hatte der Heilige Vater eine hohe Lösegeldsumme angeboten. Wir hatten uns dem nicht entgegengestellt, ja, wir hofften auf einen positiven Ausgang und atmeten auf, als wir erfuhren, daß man einen Weg gefunden hatte (durch den Kaplan des Mailänder Gefängnisses San Vittore). Später, als der Priester gestorben war und somit kein Beichtgeheimnis mehr bestand, erfuhr man, daß es sich um einen Betrug gehandelt hatte. Der „Beweis“, den der vatikanische Emissär vor Abschluß der Verhandlungen verlangt hatte, erging durch die Ankündigung einer dramatischen (Falsch-) Meldung, nach der man Moros Leiche im Duchessa-See versenkt hätte. Die Roten Brigaden erklärten die Meldung sofort für falsch, und wenn auch tatsächlich eine Leiche im Duchessa-See gefunden wurde, so hatte das jedoch mit dieser Geschichte nichts zu tun.
Hinter dem „Fall Moro“ stand zweifelsohne, und vor allem, die interne (vielleicht auch äußere) Reaktion gegen die kommunistische Partei, die im Jahr 1976 eine Einparteienregierung hatte durchgehen lassen, die von mir geleitet wurde, und die – ohne Unterbrechung seit Mai 1947 andauernde – Opposition beiseite schob. ...
Am 9. Mai, als der Betrüger das Lösegeld erhalten sollte, wurde – merkwürdiger Zufall – Moro ermordet und die Leiche hinter den Botteghe Oscure, Sitz der kommunistischen Partei, „deponiert.“
Stimmt es, daß die Befreiung eines einzigen Brigade-Mitgliedes für die Befreiung Moros ausreichend gewesen wäre, und daß Präsident Leone bereit war, die Gefangene Besuschio zu begnadigen? Die Antwort lautet nein, denn selbst, wenn sie begnadigt worden wäre, so wurde ihr doch wegen einem anderen Verbrechen der Prozess gemacht, was die Pflicht, sie zu verhaften bedeutete, es hätte sich also um eine unnötige Provokation gehandelt, anzunehmen, sie befreien zu können.
Die unnachgiebige Haltung den Roten Brigaden gegenüber wird von einigen besonders auf die Kommunisten zurückgeführt, denen die schwachen Christdemokraten unterworfen waren. Das stimmt nicht. Und es stimmt auch nicht, daß der Abgeordnete Fanfani an jenem schrecklichen 9. Mai bereit war, die DC davon zu überzeugen, ihren Kurs zu ändern und den Verhandlungen zuzustimmen. Ausgenommen von ein paar wenigen abweichenden Stimmen waren die Christdemokraten – Regierung und Partei – von Anfang an der Meinung gewesen, nicht klein beizugeben. Und schließlich wäre es – wenn wir, um einen der unsrigen zu retten, von unserer Pflicht abgewichen wären – zu unvorhergesehenen Reaktionen seitens der Familien der Roten-Brigaden-Opfer gekommen. Eine der Witwen des Massakers in der Via Fani rief uns an und drohte, sich vor den DC-Büros, an der Piazza del Gesù, mit Benzin zu übergießen und anzuzünden.
Es können noch so viele Jahre ins Land gehen, sich noch so viele Dinge ändern: der Schmerz über jenes schreckliche Jahr 1978 bleibt ungemildert. Die DC hat sich – im Gegensatz zu dem, was Aldo Moro damals stolz von der Abgeordnetenbank aus bekräftigt hatte – den Prozess machen lassen.
Und ist von der Bildfläche verschwunden. Ohne Moro war der von ihm geschaffene weise politische Plan ohnehin nicht umsetzbar.


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