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MENSCHENRECHTE
Aus Nr. 06 - 2005

Warum es immer mehr die Zivilisten sind, die unter den Kriegen zu leiden haben.

Bombardierte Städte


Die Genfer Konvention von 1949 verbietet die Bombardierung ziviler Ziele. Und wird noch heute systematisch übertreten. Hat das von fast 200 Nationen unterzeichnete Abkommen noch irgendeinen Wert? Wie kann man ihm neuen Aufschwung geben? Interview mit Gianluigi Rossi, Ordinarius für die Geschichte der Abkommen und internationale Politik.


von Pierluca Azzaro und Davide Malacaria


Seite gegenüber und hier oben, die irakische Stadt Falluja nach den massiven Bombardierungen vom November 2004.

Seite gegenüber und hier oben, die irakische Stadt Falluja nach den massiven Bombardierungen vom November 2004.

Bei Kriegen müssen Zivilpersonen, Kranke und Verletzte geschützt werden; Kriegsgefangene dürfen keiner unmenschlichen oder demütigenden Behandlung ausgesetzt sein. Wenn man die Genfer Konvention heute liest, scheint sie einer längst vergangenen Zeit der Zivilisation anzugehören – einer Zivilisation, die längst unter den Trümmern von Falluja begraben liegt, wo die Wohnhäuser von Zivilpersonen monatelang gnadenlos bombardiert wurden, oder in den Verliesen von Guantánamo und Abu Ghraib vergessen wurde. Und doch gibt es dieses Abkommen noch; die Frage ist nur, ob es nur noch auf dem Papier besteht, ob und wie ihm neuer Aufschwung gegeben werden kann. Wir haben Gianluigi Rossi, Ordinarius für die Geschichte der Abkommen und internationale Politik, sowie Dozent für die Geschichte und Institutionen der afroasiatischen Länder an der Fakultät für Politwissenschaften der römischen Universität „La Sapienza“ um ein Interview gebeten. Der Vizepräsident des italienischen Instituts für Afrika und den Orient (ISIAO) und Chefredakteur der Zeitschrift Africa befaßt sich hauptsächlich mit dem System zum Schutz der Menschenrechte in Afrika, mit besonderem Augenmerk auf der Afrikanischen Union.

Was an der Konvention besonders auffällt, ist der historische Moment, in dem sie unterzeichnet wurde: obwohl der Kalte Krieg gerade erst begonnen hatte, waren viele Nationen jenseits der ideologischen Blöcke vorbehaltlos bereit, die wehrlosen, von den Kriegen betroffenen Bevölkerungen zu schützen. Was war der Schlüssel zu diesem wahren Triumph internationaler Politik?
GIANLUIGI ROSSI: Hier muß klargestellt werden, daß mit der 1949 von fast 200 Nationen unterzeichneten Genfer Konvention eigentlich vier Konventionen gemeint sind, die alle darauf abzielten, das Los der Verwundeten, Kranken, Kriegsgefangenen und Zivilpersonen in Kriegszeiten zu verbessern. Was sich in jenem Jahr ereignete, war also eigentlich kein Anfang, sondern vielmehr das Ergebnis eines bereits 1864 eingeleiteten Prozesses, als (auch dieses Mal in Genf) die erste Konvention unterzeichnet wurde, die den Verwundeten bei den Armeen im Felde gewidmet war. Eine Initiative, die wir Henri Dunant zu verdanken haben, den die Schlacht von Solferino nachhaltig schockiert hatte. Die heutige Rechtsgrundlage und damit den bisherigen Höhepunkt des humanitären Völkerrechts bilden die vier Genfer Abkommen von 1949. Ich glaube, daß eine derartige Initiative gerade vor dem Hintergrund des katastrophalen 2. Weltkrieges erfolgreich sein konnte, bei dem die Zivilbevölkerung nicht weniger hart getroffen worden war als die Soldaten. Der internationalen Gemeinschaft saß der Schock über das Drama dieses Krieges und seine ungeahnten Ausmaße noch sichtlich in den Gliedern, und man war sich einig darüber, daß Zivilpersonen in Kriegszeiten unbedingt geschützt werden müßten.
An dem Dokument beeindruckt auch die aufs Wesentliche reduzierte Sprache: so wird beispielsweise nicht zwischen Kriegen unterschieden: die Rede ist von „jeder kriegsähnlichen Situation“. Konnte die Konvention vielleicht auch gerade deshalb so breite Zustimmung finden, weil man im Namen des Pragmatismus auf eine ideologische Sprache verzichtet hatte?
ROSSI: Die pragmatische, und nicht ideologische Sprache hat sicher dazu beigetragen, daß das Dokument breite Zustimmung finden konnte. Hier sollte man auch an ein anderes wichtiges Merkmal der humanitären Hilfe erinnern: sie muß neutral, also keinesfalls politisch ausgerichtet sein. Es handelt sich um ein Recht, das auf alle und bei allen bewaffneten Konflikten (in die Staaten verwickelt sind, die die Konvention unterzeichnet haben) angewandt wird, unabhängig von den ihnen zugrundeliegenden politischen oder ideologischen Ursachen. Und gerade darin liegt ihre Stärke und ihre Garantie. Aber die Konvention von 1949 ist nicht definitiv. Auch sie hat in der Folge eine Entwicklung durchgemacht, die es ihr ermöglichte, sich an die Geschichte anzupassen. So konnte man in zwei Zusatzprotokollen von 1977 zwei verschiedene Kategorien von kriegsähnlichen Situationen unterscheiden, für die die internationalen Bestrebungen auf dem Gebiet des Kriegsrechts gelten. Das erste Protokoll betrifft „internationale bewaffnete Konflikte, bei denen Völker gegen Kolonialherrschaft und ausländische Besatzung sowie gegen rassistische Regime kämpfen.“ Das zweite bezieht sich dagegen auf „bewaffnete Konflikte, die auf dem Territorium eines Staates von dessen Streitkräften und dissidenten bewaffneten Truppen oder organisierten bewaffneten Gruppen ausgetragen werden, die – unter Führung eines verantwortlichen Oberbefehls – über einen Teil des Territoriums eine derartige Kontrolle haben, daß es ihnen möglich ist, lange und intensive Militäroperationen durchzuführen.“ Ende der Siebzigerjahre hatten sich also neue Arten von Konflikten herauskristallisiert, die es notwendig machten, die Charta von 1949 auf einen neueren Stand zu bringen.
Im Irakkrieg wurden – besonders in Falluja – die Wohnhäuser von Zivilisten massiv bombardiert. Ist das Ihrer Meinung nach kein Abweichen von der Genfer Konvention?
ROSSI: Was sich in Falluja ereignete, ist tragisch. Aber – von dem spezifischen Fall einmal abgesehen – ist das doch eine komplexe, ganz besonders heikle Frage. Seit der Unterzeichnung der Zusatzprotokolle von 1977 sind fast 30 Jahre vergangen, und es gibt nun „aktuellere“ Arten von Konflikten (den Terrorismus, den sogenannten Präventivkrieg, die humanitäre Intervention), die das Problem der Angemessenheit der humanitären Bestrebungen auf dem Gebiet des Kriegsrechts wieder aufgeworfen haben. Beispielsweise in den USA, wo man sieht, daß das diesbezügliche Gesetz von 1949 und 1977 nicht auf den „modernen“ Krieg gegen den internationalen Terrorismus anwendbar ist: es handelt sich nämlich um eine Art neuen Krieg, eine nicht in Betracht gezogene „Spezies.“ Der wahre Haken daran ist, daß der Terrorismus in Wahrheit das Werk kleiner, schwer auszumachender Gruppen ist, und eine diesbezügliche Anpassung des sogenannten Genfer Gesetzes sehr viel mehr wäre als ein einfaches Auf-den-neuesten-Stand-Bringen.
Nach dem 11. September wurde die Genfer Konvention in den USA in Frage gestellt, ja, sogar als überholt bezeichnet. Von Ausnahmen einmal abgesehen weiß man nicht genau, was in Guantánamo geschehen ist, aber man weiß genug über Abu Ghraib: wie konnte es dazu kommen und welche Folgen hat es?
ROSSI: Von der Frage einmal abgesehen, wie man die Genfer Konvention auf Kriegsgefangene anwenden soll, die mit dem Terrorismus in Zusammenhang stehen – und man kann sie sicher nicht auf in Friedenszeiten begangene Terrorakte anwenden – und abgesehen von dem Sonderfall des Irakkrieges scheint es schwer zu sein, dieses Minimum an Menschlichkeit außer Acht zu lassen, auf das sich Artikel 3 der Konvention bezieht, der allen möglichen Gesetzeslücken zuvorkommt und die beteiligten Parteien verpflichtet, unter allen Bedingungen und in einem jeden Fall von kriegerischer Auseinandersetzung Lösungen zu finden, die das Völkerrecht nicht verletzen und die das Gesetz der Menschlichkeit und die Gebote des öffentlichen Gewissens erfordern. Ohne zu vergessen, daß in diesen Fällen auch eine Beurteilung „politischer“ Natur vonnöten ist: Repressalien oder die menschenunwürdige Behandlung von Kriegsgefangenen bergen unweigerlich das Risiko von Terrorakten oder Vergeltungsmaßnahmen. Und dann möchte ich auch darauf hinweisen, daß die Norm aus dem Jahr 1949 die Bombardierung von Kultstätten strikt verbietet.

Kann man der Konvention neuen Aufschwung geben?
ROSSI: Nach Schaffung des internationalen Tribunals für Ruanda sowie für das ehemalige Jugoslawien, vor allem aber nach der Einsetzung des internationalen Strafgerichtshofes, hat das Bewusstsein, daß Kriegsverbrechen bestraft werden müssen, endlich konkrete Formen angenommen. Es scheint mir besonders wichtig, darauf hinzuweisen, daß das Statut des Strafgerichtshofes, das sich in Sachen Kriegsverbrechen eindeutig auf das „Genfer Gesetz“ bezieht, die Konventionen des Jahres 1949 wiederaufgreift. Das ist positiv zu beurteilen, weil ein solch konkreter Bezug auf die Konvention diese für immer noch aktuell und gültig erklärt. Doch davon einmal abgesehen glaube ich, daß ein größeres Engagement der bürgerlichen Gesellschaft vonnöten ist, die sensibilisiert werden muß und sich – von der Basis ausgehend – das Ziel setzen muß, für eine bessere Kenntnis der Normen des internationalen Kriegsgesetzes zu sorgen, um eine gemeinsame Sicht der heiklen Problematiken zu fördern, die sich auf den Wert und die Würde der menschlichen Person beziehen. Eine Schlüsselrolle können meiner Meinung nach dabei die Nichtregierungsorganisationen spielen, die Universitäten, die Rot-Kreuz-Organisationen.
Die Konvention wurde von Staaten unterzeichnet, deren Beziehungen von massiven Spannungen gekennzeichnet sind: USA, Israel, Iran, Nordkorea, um nur einige Beispiele zu nennen. Könnte ein Wiederaufleben der Konvention vielleicht auch ein konkreter Versuch sein, diesem Zusammenprall der Zivilisationen einen Riegel vorzuschieben?
ROSSI: Natürlich wäre ein Wiederaufleben der Konvention auch dem Dialog dienlich. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß die politischen Autoritäten und die Regierungen jene Normen und die ihnen zugrundeliegende Kultur als voll gültig betrachten. Auch in diesem Sinn kann die Sensibilisierungsarbeit im Innern der bürgerlichen Gesellschaft sinnvoll sein. Ebenso nützlich wäre es auch, diese Problematik der UNO darzulegen und den Vereinten Nationen eine größere Rolle zuzugestehen, die immerhin als Antriebsfeder der internationalen Beziehungen fungieren.


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