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FRANKREICH
Aus Nr. 06 - 2005

JAHRESTAGE. Hundert Jahre nach dem Gesetz, das die Trennung von Kirche und Staat sanktionierte.

Ein Lob auf die „gesunde Laizität“


Der französische Kardinal Jean-Louis Tauran rekonstruiert die Geschichte der Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Frankreich von 1905 bis heute: das antiklerikale und laizistische Gesetz, das zunächst Polemiken auslöste und dessen spätere gemäßigtere Umsetzung der Kirche dann doch noch ein friedliches Leben ermöglichte. Interview.


von Gianni Cardinale


Kardinal Jean-Louis Tauran, Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche.

Kardinal Jean-Louis Tauran, Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche.

Einer der wichtigsten Jahrestage des Jahres 2005 ist zweifellos die 100-Jahr-Feier des Gesetzes, das 1905 die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich sanktionierte. Ein Thema, dem übrigens auch eines der letzten Dokumente von Papst Johannes Paul II. gewidmet ist: der Brief, den der Papst am 13. Februar an alle Bischöfe und den Präsidenten des französischen Episkopats schickte.
30Tage hat Kardinal Jean-Louis Tauran, Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche gebeten, die 100 Jahre Geschichte dieses Ereignisses und seine Auswirkungen auf das heutige Frankreich für uns zu rekonstruieren. Der Franzose Tauran leitete – vor Erhalt des Kardinalspurpurs – 13 Jahre lang die Diplomatie des Hl. Stuhls. Unsere Begegnung fand im Büro der Vatikanischen Bibliothek statt. Der gerade von einer Reise nach Frankreich zurückgekehrte Tauran berichtet zufrieden: „Ich habe eine Gruppe wirklich vorbildlicher Seminaristen aus Südfrankreich getroffen: junge Männer, die ihre Berufung voller Freude leben, eine schlichte und tiefe eucharistische Frömmigkeit haben. Dann war ich als päpstlicher Gesandter noch in Le Puy und führte die Fronleichnamsprozession durch die Straßen der Stadt: das war 40 Jahre lang nicht mehr vorgekommen.“. Im Zusammenhang mit seiner Reise in die Heimat war es unvermeidlich, daß wir im Rahmen unseres Gesprächs auch auf das französische Referendum zu sprechen kamen, mit dem im Mai die sogenannte Europäische Verfassung abgelehnt wurde.
Bevor wir mit dem Interview beginnen konnten, war es dem Kardinal ein Anliegen, an Johannes Paul II. zu erinnern: „Er war ein Papst, der den großen Einfluß des französischen Katholizismus auf die gesamte katholische Kirche anerkannte. Er las oft und gerne französische theologische, philosophische und literarische Werke. Er erzählte mir auch von seiner Freundschaft mit Kardinal Gabriel-Marie Garrone, Erzbischof von Toulouse und späterer Präfekt der Kongregation für das katholische Bildungswesen, den er sehr bewunderte.“

Zum 100. Jahrestag des Gesetzes von 1905 schrieb Johannes Paul II. einen Brief an die französischen Bischöfe, in dem er es als „schmerzliches und traumatisches Ereignis“ bezeichnete. Was meinte er damit?
JEAN-LOUIS TAURAN: Dieses Gesetz wurde als Angriff auf die katholische Kirche empfunden, weil es die Kirche ihres Eigentums beraubte und versucht hat, sie nach einem demokratischen politischen Modell zu organisieren und die Umwandlung der religiösen Einrichtungen in sogenannte „kulturelle Vereine“ verlangte, die aus Laien bestanden, denen auch die Bischöfe untergeordnet sein sollten. Eine überaus schwerwiegende Maßnahme, die sich jedoch in den Rahmen einer Geschichte einfügte, die während der Revolution begonnen hatte – mit der Zivilkonstitution des Klerus von 1790 – und die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, mit einer stark antiklerikal ausgerichteten Gesetzgebung angedauert hatte, die die Sonntagsruhe abschaffte, die katholischen Schulen, die religiösen Orden. Aber nicht nur das. Émile Combes – ein ehemaliger Seminarist, der mit der Kirche besonders hart ins Gericht ging – wollte die Bischöfe sogar allein ernennen, ohne den Papst! Als der Sozialist Jean Jaurès dann Erziehungsminister Jules Ferry, den großen Bewerksteller der Laisierung des französischen Schulwesens fragte, wie sein Programm aussah, erhielt er eine erleuchtende Antwort: die Menschheit ohne Gott zu organisieren. Ferry sprach auch von den großen Diözesen des Freidenkens. Die Laizität wurde zu einer Alternativ-Ideologie. Und Ferry meinte auch: wir haben zwar die religiöse Neutralität verheißen, aber keine philosophische oder politische Neutralität. Es war Laizismus, und nicht jene gesunde Laizität – wie es Pius XII. definierte –, die die Kirche nur befürworten kann.
Wann und wie gerieten die Dinge dann aber außer Kontrolle?
TAURAN: Als Präsident Émile François Loubet im April 1904 auf Staatsbesuch nach Rom kam, wo er im Quirinal den König traf, wollte ihn der Papst – die römische Frage war noch nicht geklärt – nicht im Vatikan empfangen. Als der Hl. Stuhl dann zwei französische Bischöfe, die in ihren Diözesen Probleme hatten und im Verdacht standen, der Regierung gegenüber zu „weich“ zu sein, nach Rom zitierte, nahm Paris das zum Anlaß, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Es war der 30. Juli 1904. Im November darauf legte die Regierung Combes den sehr restriktiven Gesetzesvorschlag zur Trennung von Staat und Kirche vor, der dann, in einer von Aristide Briand vorgeschlagenen akzeptableren Form am 9. Dezember 1905 von der französischen Regierung unter Émile Rouvier angenommen wurde.
Nach dem Gesetz von 1905 kam es auch zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Polizei und Gläubigen...
TAURAN: Ja, vor allem dann, als die Staatsbeamten in die Kirchen eindringen wollten, um die Kirchengüter einzuziehen. Es kam zu Auseinandersetzungen, es gab Verwundete, ja sogar einen Toten. Da sah der Staat zum Glück endlich ein – wie es Georges Clemenceau nannte, der eine größere Dialogbereitschaft zeigte –, daß ein Kerzenständer wohl kaum ein Menschenleben wert sein könne...
Laut Le Monde soll Johannes Paul II. das Gesetz von 1905 gelobt haben…
TAURAN: Es gab kein Lob, und das konnte es auch nicht geben. Aber es gibt die Anerkennung dessen, daß dieses Gesetz der Kirche immerhin ermöglicht hat, in Frieden zu leben, da es niemals wirklich wortwörtlich umgesetzt wurde: seit 1906 ermöglichte die Gesetzgebung eine recht elastische Interpretation. Und das positive Urteil von Johannes Paul II. betraf diesen Aspekt, aber bestimmt nicht das Gesetz an sich...
Wie sahen die wichtigsten Inhalte des Gesetzes aus?
TAURAN: Das Gesetz von 1905 sah die unilaterale Abschaffung des Napoleonischen Konkordats von 1801 vor und legte fest, daß die Republik keinen Kult anerkennen und finanzieren dürfe, da man die Religion lediglich als Kult, nicht aber in ihrer sozialen Dimension betrachtete. Es legte auch fest, daß die Kirchengüter vom Staat eingezogen wurden, die Kultgebäude dagegen wurden kulturellen Vereinen anvertraut, die von den Gläubigen demokratisch gewählt worden waren. Besonders dieser letzte Punkt war dem Papst ein Dorn im Auge: Die katholische Kirche ist keine demokratische Gesellschaft, und der Bischof darf nicht de facto von der Leitung der Ortskirche ausgeschlossen werden. Das war auch der Grund dafür, daß Pius X. in der Enzyklika Vehementer nos vom Februar 1906 den mit einer wahren religiösen Apartheid vergleichbaren Laizismus als „Pest“ unserer Zeit bezeichnete. Und die Katholiken betrachteten ihn als monströse Ungerechtigkeit.
Hatte die klare Trennung von Staat und Kirche auch positive Auswirkungen – hat sie die französische Kirche in einem gewissen Sinne gereinigt und sie vor Versuchungen weltlicher Natur bewahrt?
TAURAN: Ja, dieses Gesetz hat die Kirche evangeliumsgemäßer gemacht, weil es sie „ärmer“ machte, den einfachen Leuten näher brachte. Aber nicht nur das: die Tatsache, daß sie nicht länger vom Staat finanziert wurde, hat ihr auch eine größere Ausdrucksfreiheit beschert. Die katholischen Gläubigen haben sich um ihre Kirche geschart und eine bemerkenswerte Großzügigkeit gezeigt. Wie auch schon bei den vorherigen antiklerikalen Gesetzen. So kam es auch, daß der streng laizistisch ausgerichtete Ferdinand Buisson, Generalinspektor des öffentlichen Unterrichts, sagen konnte: wir haben der Kirche alles genommen, was ihre Kraft ausmachte: Titel, Privilegien, Reichtum, Ehren, Monopole – und doch erfreut sie sich einer größeren Popularität als zuvor. Da war noch ein christliches Volk, das reagierte und sich voller Zuneigung um seine Kirche scharte, sie verteidigte.
Die Kokarda und die französischen Fahnen auf der Kathedrale Notre Dame von Paris.

Die Kokarda und die französischen Fahnen auf der Kathedrale Notre Dame von Paris.

Eminenz, Sie haben vorhin auf die Tatsache angespielt, daß dieses Gesetz von 1905 – so wie es im engeren Sinne gemeint war – in Wahrheit niemals angewandt wurde...
TAURAN: Ja, das was danach folgte, war ein wahrer legislativer Dschungel von Anfügungen und Interpretationen. Daher auch die Furcht, daß ein Infragestellen des Gesetzes bedeute, eine Art Büchse der Pandora zu öffnen. Viele sagen, daß es besser wäre, das aktuelle Gesetz beizubehalten, ohne eine fundamentalistische Interpretation davon zu geben, sondern, indem man es im Licht der Verordnungen interpretiert, die seiner Anwendung ein Jahrhundert lang die Richtung gewiesen haben.
Das Gesetz wurde dann auch nicht im ganzen Land angewandt...
TAURAN: Frankreich tanzt immer aus der Reihe ! Es ist ein ganz besonderes Land. Auf den Territorien der Republik gibt es mindestens vier Rechtsordnungen, die den Kult regeln. Die republikanische Laizität nach dem Gesetz von 1905 gilt tatsächlich auf dem gesamten französischen Territorium, mit drei Ausnahmen. In Elsaß-Mosel – Gebiete, die 1905 zum Deutschen Reich gehörten und nach dem 1. Weltkrieg wieder an Frankreich angegliedert wurden – gilt immer noch das Napoleonische Konkordat von 1801 auf der Grundlage dessen es Aufgabe des Präsidenten einer weltlichen Republik – in seiner Eigenschaft als Erbe des Kaisers – ist, die Bischöfe von Straßburg und Metz zu ernennen. Im Department Guyana ist der Katholizismus – laut königlichem Erlaß von 1828 – offizielle Religion. Was nun die Territorien jenseits des Atlantik und des Pazifik angeht, haben wir ein Statut öffentlichen Rechts, laut dem, was von den Dekreten von 1939 festgelegt wurde. Dazu kommt noch, daß es seit 2002 eine Kommission für den Dialog zwischen Regierung und Kirche gibt, unter Vorsitz des Ministerpräsidenten und des apostolischen Nuntius; eine Kommission, die mit der Lösung der Probleme der Kirche in Frankreich befaßt ist. Wie man sieht, eine wirkliche sui generis Situation. Wie ich bereits bei anderen Gelegenheiten betont habe, muß man die Kirche vielleicht vom Staat trennen, aber man darf die Kirche niemals von der Gesellschaft trennen. Es wäre meiner Meinung nach besser, nicht von Trennung zwischen Kirche und Staat zu sprechen, sondern vielmehr von einer Unterscheidung zwischen den beiden.
In den Zwanzigerjahren war jedoch eine Aussöhnung zwischen Hl. Stuhl und Frankreich möglich. Wer hat nachgegeben: Rom oder Paris?
TAURAN: Keiner der beiden. Es handelte sich um einen Kompromiß. Der auch wegen einem sehr wichtigen Faktum möglich geworden war, das mit dem 1. Weltkrieg zusammenhing: der Verbrüderung von Soldaten, Priestern und Seminaristen – die ja auch an die Front gerufen worden waren – in den Schützengräben. Die jungen Franzosen, die in den weltlichen Schulen des Staates dazu erzogen worden waren, die Priester als Profiteure zu betrachten, hatten dabei entdecken können, daß die Realität anders aussah als die laizistische Propaganda. An der Front starben 1.800 Priester, 1.500 Ordensleute und 1.300 Seminaristen. Dazu kommt noch, daß die Regierung sehr wohl wußte, daß die Kirche dazu verdammt war, sozusagen in einer Befindlichkeit der „Rechtlosigkeit“ zu leben. Und so kam es dann schließlich doch noch – nach Verhandlungen, die sich von 1921 bis 1924 hinzogen – zu den sogenannten Briand-Cerretti-Vereinbarungen, die vorsahen, daß die Kultgebäude nicht länger Vereinen von demokratisch gewählten Laien anvertraut wurden, sondern diözesanen Vereinen unter Vorsitz des Bischofs. Um sicher gehen zu können, daß diese Verpflichtungen von Frankreich auch eingehalten wurden, verlangte Papst Pius XI. ein Gesetz zur Religionsfreiheit, das der Staat allerdings nicht gewähren wollte. Und so entschied man sich für eine Reihe von Dokumenten mit unterschiedlicher Rechtsgültigkeit.
Worin bestanden also die vom damaligen Premier Briand und Erzbischof Bonaventura Cerretti, Sondergesandter des Hl. Stuhls, unterzeichneten Abkommen?
TAURAN: In einem Memo über die Wiederanknüpfung der diplomatischen Beziehungen von 1921, weshalb Cerretti Nuntius in Paris wurde. Im Jahr 1921 hatten wir dann ein anderes Memo über die Ernennung der Bischöfe, und einen Briefwechsel zwischen dem Außenminister und dem apostolischen Nuntius in Sachen theologische Fakultät von Straßburg und Diözesan-Vereine. Dann noch ein verbales Abkommen über die Prozedur zur Garantie der Rechtsgültigkeit dieser Abkommen. Der Hl. Stuhl manifestierte seine Ratifizierung dieser Abkommen mit der Enzyklika Maximam gravissimamque vom Januar 1924; der französische Staat dagegen steuerte eine Beurteilung des Staatsrates bei.
Die Vereinbarungen Briand-Cerretti von 1924 wurden damals geheimgehalten. Sind sie noch immer geheim?
TAURAN: Man trägt sich mit dem Gedanken, sie zu veröffentlichen, aber ich weiß nicht, wie weit dieser Gedanke gediehen ist. In diesem Zusammenhang darf man den Rechtsstreit nicht vergessen, der dem Ganzen zugrunde liegt. Die einen halten sie für richtige internationale Abkommen, andere dagegen nicht. Auch in Frankreich gibt es eine Denk­richtung, laut der es sich um internationale Abkommen handelt, die demnach auch in der offiziellen Sammlung der Abkommen veröffentlicht werden müßten.
Das Problem ist also nicht so sehr, ob man sie veröffentlichen soll oder nicht, sondern vielmehr, wo...
TAURAN: In einem gewissen Sinne ja.
Die Hundertjahrfeier könnte eine gute Gelegenheit bieten...
TAURAN: Ja, das stimmt. Das Problem ist, ob es Frankreich akzeptieren wird, diese Abkommen in die offizielle Sammlung der Abkommen einzufügen. Von seiten des Hl. Stuhls stünde der Veröffentlichung nichts im Wege.
Frankreich ist das einzige europäische Land, das in der Verfassung seine Laizität bekräftigt. Dennoch kam der derzeitige französische Staatspräsident Jacques Chirac zur Verleihung des Titels „erster Ehrenkanoniker des Laterankapitels“ nach Rom; ein Titel, der den Königen des ancien régimes vorbehalten war. Kommt Ihnen das nicht ein wenig merkwürdig vor?
TAURAN: Ein überaus merkwürdiger Umstand, der aber die paradoxe Natur der Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Frankreich widerspiegelt. Eines Landes einer tief verwurzelten katholischen Tradition, in dem das Gedankengut der Revolution von 1789 formidable Auswirkungen hatte.
Oben, Titelseite des Petit Journal vom März 1906 über die gewalttätigen Ausschreitungen zwischen den Einwohnern des Loire-Tals und den Behördenvertretern nach Approbierung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche.

Oben, Titelseite des Petit Journal vom März 1906 über die gewalttätigen Ausschreitungen zwischen den Einwohnern des Loire-Tals und den Behördenvertretern nach Approbierung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche.

Der Vorgänger Chiracs, François Mitterrand, hat diesen Titel nie in Besitz genommen...
TAURAN: Und er hat auch nie um einen offiziellen Besuch im Vatikan angesucht.
Obwohl er doch eine katholische Erziehung genossen hatte...
TAURAN: Präsident Mitterand war getauft und in einer christlichen Familie aufgewachsen. In seiner Jugend war er ein gläubiger Katholik und hatte kein Problem damit, das auch zu zeigen. Dann wurde sein Glaube zwar schwächer, er hat sich aber stets intensiv mit den letzten Fragen des Lebens beschäftigt. Er war ein Freund von Jean Guitton, mit dem er oft über den Tod diskutierte. Als er Anordnungen hinsichtlich seines Begräbnisses gab, und man ihn fragte, ob es zivil oder kirchlich sein sollte, meinte er: „Ich kann mir eine religiöse Trauerfeier vorstellen.“ „Ich kann mir... vorstellen“: eine für Mitterrand typische Formulierung. Ich kann mich daran erinnern, daß Kardinal Jean-Marie Lustiger bei der feierlichen Trauerfeier in Notre Dame, wo ich den Hl. Stuhl repräsentierte, in seiner Homilie eine Reihe von Zitaten des Präsidenten auflistete, die seinen christlichen Glauben zeigten – wenn auch oft in wenig expliziter Weise. Er war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, was man auch an einer Episode sieht, die ich nicht kannte – die mich aber auch nicht sehr überrascht hat – und die in Radio Vatikan berichtet wurde.
Welche?
TAURAN: In den Nachrichten vom 13. März wurden zwei Episoden berichtet, die sich kurz vor seinem Tod ereigneten. Zunächst einmal „ein Besuch im Kloster St. Katherina auf dem Berg Sinai, wo er eingestand, dort den besten Teil von sich zurückgelassen zu haben“. Und dann „eine unerwartete Sympathie für die hl. Therese von Lisieux: als die Reliquien nach Paris gebracht wurden und die Prozession bei seinem Apartment vorbei kam, bat Mitterrand darum, anzuhalten, stieg mühsam aus dem Auto und legte die Hand auf die Urne.“ Diese Episoden sagen – wie Radio Vatikan feststellen konnten – viel aus über die „Komplexität seiner Persönlichkeit.“
Kommen wir wieder auf das Gesetz von 1905 zurück. Ist eine Revision dieses Gesetzes denkbar, auch im Licht der steigenden Zahl islamischer Gläubiger in Frankreich? Minister Nicolas Sarkozy meint ja. Und hat das auch in seinem jüngsten Buch La République, les religions, l’espérance beschrieben.
TAURAN: Ich lebe nicht seit vielen Jahren in Frankreich, aber es erscheint mir doch nicht sehr glaubwürdig, daß ein Gesetz, das bereits 100 Jahre auf dem Buckel hat, so vollkommen sein soll, daß man es nicht verändern darf. Aber sowohl Sarkozy als auch die katholischen Bischöfe sind sich dessen bewußt, daß die Gefahr besteht, eine erneute Debatte über die Beziehungen zwischen Staat und Kirche auszulösen, die laizistische und antiklerikale Gefühle wieder aufleben lassen könnte. Und so sind eben viele der Meinung, daß man das Gesetz besser so lassen sollte wie es ist und es im Licht der Gesetzgebung des vergangenen Jahrhunderts vervollständigen solle. Ich glaube, daß das die Lösung ist, die die meisten Bischöfe befürworten. Man muß vermeiden, daß dieses Gesetz in einer fundamentalistischen Weise ausgelegt werden kann, was jedoch zum Glück nie der Fall war.
Eine Frage zu dem Buch Sarkozys: Le Figaro hat von seinem Besuch im Vatikan berichtet, wo er Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano, Giovanni Lajolo und Ihnen das Buch vorgestellt hat...
TAURAN: Ja, bei dieser Gelegenheit hat uns der Minister eine Kopie seines Buches geschenkt. In meines hat er folgende Widmung geschrieben: „Votre ami tout simplement.“ Was mir an diesem Buch gefallen hat ist, daß es von einem Minister geschrieben wurde, der keine Angst davor hat, über Religion zu sprechen und bekräftigt, daß sich die Christen ihres Glaubens nicht schämen und keine Minderwertigkeitskomplexe haben dürfen. Besonders interessant ist auch die in dem Buch abgegebene Definition von Laizität: „Ich glaube an eine positive Laizität, eine Laizität, die das Recht garantiert, die eigene Religion als ein Grundrecht der Person zu leben. Die Laizität ist nicht der Feind der Religionen, im Gegenteil: sie ist die Garantie dafür, daß ein jeder von uns an seinem Glauben festhalten, ihn leben darf.“
Diese Definition von Laizität könnte praktische Auswirkungen haben, wie die staatliche Finanzierung religiöser Organismen...
TAURAN: Sarkozy bringt zum Problem der Finanzierung der Kirchen, der Moscheen und der Synagogen – im Vergleich zum Großteil der französischen Politwelt – ein heterodoxes Denken zum Ausdruck. Wieder auf das Buch zurückkommend wiederhole ich, daß mir am meisten gefallen hat, daß Sarkozy den Mut gehabt hat, ein Buch über die Religion zu schreiben und zu bekräftigen, daß er ein gläubiger Katholik ist. Davon einmal abgesehen, finden sich in dem Buch auch einige Behauptungen, die einer genaueren Betrachtung und Präzisierung bedürften.
Wird deshalb soviel über die Religion diskutiert, weil sich die islamische Präsenz zunehmend spürbar macht?
TAURAN: Ein anderes französisches Paradox ist, daß diese Diskussion über die Religion tatsächlich auf den Islam zurückzuführen ist. Die Muslime waren es, die die Regierenden dazu gezwungen haben, sich das Problem der Rolle der Religion in der Gesellschaft von heute zu stellen, als doch jahrelang folgende Philosophie galt: man kann alles tun, auch Katholik sein, solange man es nur nicht sieht. So lautete die Antwort, die einem französischen Studenten von einem Kommilitonen und Agnostiker gegeben wurde.
Die Debatte uferte im vergangenen Jahr zur Polemik aus, als das Gesetz approbiert wurde, mit dem die Zurschaustellung religiöser Symbole verboten wurde – ein Gesetz, das man in Wahrheit erlassen hatte, um islamischen Mädchen zu verbieten, in der Schule ein Kopftuch zu tragen...
TAURAN: Mir scheint, daß die Anwendung des Gesetzes friedlicher über die Bühne ging, als man gedacht hatte. Wie damals das Gesetz von 1905. Ich kann ja verstehen, daß es jemandem, der nicht in Frankreich lebt, merkwürdig erscheinen mag, daß man für einen derartigen Fall ein Gesetz erlassen soll. Aber in Frankreich tut man das ja bekanntlich oft und gern...
Apropos Islam: ist er Ihrer Meinung nach eines der Hauptprobleme für die westliche Gesellschaft und für die Kirche?
TAURAN: Vor allen Dingen glaube ich, daß man nicht von einem einzigen Islam sprechen, ihn als einen einheitlichen Block betrachten darf. Die Realität ist vielmehr die eines vielfältigen Islam: es gibt viele Formen von Islam. Ich selbst habe beispielsweise jahrelang meine Sendung im Libanon erfüllt, wo ich viele Muslime kennenlernen durfte, mit denen ich mich sehr gut verstand – mit anderen dagegen gestalteten sich die Beziehungen komplizierter. Im vergangenen Jahr konnte ich in Quatar an einer Begegnung zum islamisch-christlichen Dialog teilnehmen, die der Emir organisiert hatte, der auch eine nachfolgende Begegnung „zu dritt“ vorschlug – eventuell auch mit jüdischen Teilnehmern. Ein Vorschlag, der von seinen Religionsgenossen mit unverhohlener Ablehnung aufgenommen wurde. Es gibt verschiedene Arten von Islam. Und darin liegt auch die Schwierigkeit für den Dialog: einen repräsentativen Gesprächspartner zu finden, mit dem man sprechen kann. Wir sind sozusagen dazu verurteilt, mit der muslimischen Welt zu dialogieren. Weil der Dialog der Schlüssel zu einer jeden dauerhaften Lösung ist. Leider hat sich im Westen die Formel „Islam = Terrorismus“ nur allzu leicht durchsetzen können. Eine Formel, die nicht der Wahrheit entspricht. Ich glaube, daß es der Großteil der muslimischen Welt gar nicht erwarten kann, sich von diesem Stempel des Terrorismus zu befreien, der die wahre islamische Botschaft verschleiert. Aber der Weg ist noch ein weiter.
In den Medien wird das französische, dem religiösen Faktum gegenüber feindlich eingestellte Modell einem amerikanischen gegenübergestellt, das dem Glauben und den kirchlichen Einrichtungen einen größeren Respekt entgegenbringt. Haben auch Sie diesen Eindruck?
TAURAN: Diese Realität ist Frucht der Geschichte. In den Vereinigten Staaten ist das religiöse Faktum ganz einfach nicht wegzudenken. Vor ein paar Monaten hat sich in den USA aus einer Umfrage ergeben, daß 85% aller Amerikaner das tägliche Gebet für wichtig halten – das hat mich sehr beeindruckt. Diese Religiosität ist ein positives Faktum – solange es nicht in Fundamentalismus und Proselytenmacherei umschlägt.
Das politische Panorama in Amerika wurde in den letzten Jahren vom Phänomen der sogenannten Neokonservativen dominiert, den neocons, zu denen auch einige einflussreiche Persönlichkeiten der amerikanischen Kirche gehören – weshalb der ein oder andere auch von teocons spricht. Sind Sie der Meinung, daß diese politisch-kulturelle Bewegung auch nach Europa „exportiert“ werden kann?
TAURAN: Ich glaube nicht. Und zwar aufgrund dessen, was ich vorher gesagt habe. Was mir Sorgen bereitet ist der Umstand, daß es in Europa in den Regierungs- und Administrationsstrukturen an konsequenten Katholiken fehlt, deren Berufung es ist, im Dienst der res publica zu stehen. Das ist das große Manko unseres Kontinents. Ich wüsste nur allzu gerne, wieviele Politiker sich als Christen outen und, wenn sie beispielsweise sonntags an Versammlungen teilnehmen, das Bedürfnis verspüren, an der heiligen Messe teilzunehmen.
Beim Päpstlichen Französischen Seminar vom vergangenen November haben Sie behauptet, daß den Glauben vermitteln heute nichts mit „Propaganda oder Proselytenmacherei“ gemeinsam haben dürfe. Wie haben Sie das gemeint?
TAURAN: Manchmal macht sich die Gefahr spürbar, daß die Evangelisierungssendung der Kirche zur Propaganda oder zur Proselytenmacherei wird – oder man sie doch zumindest als solches betrachtet. Wie Jesus müssen wir das vorschlagen, was wir als einzige Frohbotschaft für die Menschen aller Zeiten ansehen. Die Diskretion und der Respekt, den wir denen entgegenbringen sollen, die nicht glauben, geht mit dem Teilen und mit dem Zeugnis einher. Die Menschen wollten keine Predigten, keine Verkündigungen, sondern sind an jenen Christen interessiert, die ihren Glauben mit ihrem täglichen Leben bezeugen.
Eine Karikatur, auf der zwei Vertreter der Regierung Rouvier dargestellt sind, die ein Kruzifix entfernen.

Eine Karikatur, auf der zwei Vertreter der Regierung Rouvier dargestellt sind, die ein Kruzifix entfernen.

Eminenz, ich möchte Ihnen nun eine Frage zur Aktualität stellen. Ende Mai hat das französische Volk mit einem Referendum den bereits in der Ratifizierungsphase durch 25 Länder der Union befindlichen europäischen Verfassungsvertrag abgelehnt. Wie beurteilen Sie das?
TAURAN: Ich glaube, daß die Franzosen den Verfassungstext nicht gelesen haben und daher auch nicht beurteilen konnten, was auf dem Spiel stand. Wieviele wären schon in der Lage, eine Definition von Europa abzugeben? Es war also eine Angst-Reaktion. Aber Europa geht weiter; wir dürfen nicht vergessen, daß es die Völker sind, die Europa machen, nicht die Institutionen. Auch wenn Europa – wie man mir gesagt hat – ein paar Jahre lang im Rahmen der Abkommen von Nizza leben wird und das Europa des Euro das einzig funktionierende sein wird, weshalb das politische Europa – zumindest in nächster Zukunft – nicht mehr sein wird als ein Projekt. Aber ich möchte doch betonen, daß die Arbeit für ein vereinteres Europa weitergehen muß: immerhin eröffnet es „einen Raum, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann“, wie es in der Präambel des Vertrages heißt.
Diese Präambel scheint dem Hl. Stuhl nicht sehr gefallen zu haben...
TAURAN: Nein, natürlich nicht. Für uns Christen weist der Text des Verfassungsvertrages die ein oder andere Lücke auf, wie beispielsweise den fehlenden Verweis auf die christlichen Wurzeln. Und auch die Artikel zum Leben, zum Recht der Familie und zur Diskriminierung müßten anders formuliert werden. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß das primäre Recht der Europäischen Union mit dem Vertrag zum ersten Mal einen institutionellen Dialog mit den Kirchen vorsieht. Und das ist nicht wenig.
Eine letzte Frage. Welche Bedeutung kann die Wahl von Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst für Europa haben?
TAURAN: Unser Papst Benedikt XVI. zeigt in seinem Buch Wendezeit für Europa, daß unser Kontinent in keiner Phase seiner Geschichte gelebt hat, ohne den Blick auf das Heilige zu richten. Und so – dank des „Zusammenlebens“ mit Gott – ist es Europa mehr oder weniger gelungen, die Menschen zu lehren, miteinander zu leben. Mir scheint, daß die Kirche von heute, unter der Führung eines zutiefst europäischen Papstes – immerhin heißt er Benedikt! – ihren Beitrag dazu leisten kann, daß sich ein Europa herausbildet, wo Völker und Bürger vertrauensvoll in die Zukunft blicken können, unter den Augen Gottes.



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