Startseite > Archiv > 10 - 2005 > Atomwaffen sind unmoralisch
INTERNATIONALE POLITIK
Aus Nr. 10 - 2005

ATOMWAFFENVERBREITUNG. Zu Wort kommt Robert McNamara.

Atomwaffen sind unmoralisch


„Die Atomwaffenpolitik, die die USA derzeit betreiben, ist unmoralisch, illegal, von einem militärischen Standpunkt aus betrachtet unnötig und furchtbar gefährlich.“ „Ich bin mir sicher, daß man in Nordkorea und im Iran Angst hat vor einem Regime-Wechsel, und daher müssen wir durch Verhandlungen auf hoher Ebene dafür sorgen, daß diese Angst überwunden wird.“ Interview mit dem ehemaligen amerikanischen Verteidigungsminister, der in den Sechzigerjahren für das atomare Verteidigungssystem der USA verantwortlich zeichnete.


Interview mit Robert McNamara von Giovanni Cubeddu


Robert McNamara war von 1961 bis 1968 Verteidigungsminister der USA. Die von ihm im Vietnamkrieg eingenommene Falken-Position machte ihn berühmt, doch schon damals verfügte er über jene gesunde Portion Realismus, mit der er US-Präsident Lyndon Johnson zu verstehen gab, daß die USA (die an einem bestimmten Punkt angelangt den Gebrauch der Atombombe nicht ausschlossen) diesen Krieg wohl niemals gewinnen würden. Von 1968 bis 1981 war McNamara Präsident der Weltbank und begann – als die Zeit seiner institutionellen Verpflichtungen vorbei war – jene Überzeugung zu verbreiten, die in den vorhergehenden Jahren in ihm gereift war: die nämlich, daß eine Abrüstung unbedingt notwendig sei – und zwar ganz besonders im Hinblick auf die Atomwaffen. Und so war es erst kürzlich, in einem Moment, in dem eine so weitblickende Abrüstungspolitik nicht viel Zustimmung findet, überaus tröstlich, eine Stellungnahme McNamaras zu hören (Foreign Policy im Mai dieses Jahres), in der er auf die Gefahren der Atomwaffenverbreitung und einer Abschreckungstaktik hinwies, die letztendlich nichts anderes ist als ein Alibi für die Aufrüstung.
Heute werden deutlich weniger Atomsprengköpfe produziert als früher, die Gefahr eines Atomkrieges zwischen den großen Supermächten des Kalten Krieges ist verringert und der Westen macht sich größere Sorgen um die „mittleren Atommächte“, die einer atomaren Hypothese zur Lösung ihrer regionalen Konflikte durchaus nicht abgeneigt gegenüberstehen oder sie als eine Art „As im Ärmel“ sehen könnten, das man dann hervorziehen kann, wenn die Gefahr eines Regime-Wechsels droht – im Namen des von außen aufgedrängten „Demokratie-Exports“.
Robert McNamara

Robert McNamara

Hinter dieser ganzen Debatte darüber, wer nun Atomwaffen haben soll oder nicht, steht eine gehörige Portion Scheinheiligkeit – und das wird aus den Worten McNamaras nur allzu deutlich.
Das II. Vatikanische Konzil hat in Gaudium et spes klar zum Ausdruck gebracht, wie die Kirche darüber denkt: „Während man riesige Summen für die Herstellung immer neuer Waffen ausgibt, kann man nicht genügend Hilfsmittel bereitstellen zur Bekämpfung all des Elends in der heutigen Welt [...]. Darum muß noch einmal erklärt werden: Der Rüstungswettlauf ist eine der schrecklichsten Wunden der Menschheit, er schädigt unerträglich die Armen. Wenn hier nicht Hilfe geschaffen wird, ist zu befürchten, daß er eines Tages all das tödliche Unheil bringt, wozu er schon jetzt die Mittel bereitstellt.“
In der Zwischenzeit kam nicht einmal beim letzten Gipfel der Staats- und Regierungschefs zum 60. Jahrestag des Bestehens der UNO ein Dokument zustande, in dem auch nur der Ansatz eines Engagements für die Nichtweitergabe von Atomwaffen erwähnt worden wäre. Bei diesem traurigen Intermezzo nimmt unser Gespräch mit Mr. McNamara seinen Ausgang.
ROBERT McNAMARA: Als wir 1968 den Atomsperrvertrag aushandelten, haben wir uns verpflichtet, ernstlich den definitiven Abbau der Atomwaffenarsenale voranzutreiben. Im Mai vergangenen Jahres versammelten sich die Diplomaten von mehr als 180 Ländern in New York, um den Vertrag zu überprüfen und sicherzugehen, ob die Unterzeichner ihren Verpflichtungen auch tatsächlich nachgekommen sind. Die Vereinigten Staaten haben sich – aus offensichtlichen Gründen – darauf konzentriert, Nordkorea dazu zu überreden, dem NTP wieder beizutreten und Beschränkungen für die iranischen Bestrebungen im Bereich Atomwaffen auszuhandeln. Die Aufmerksamkeit vieler Nationen, einschließlich einiger Länder, die bald in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnten, war auf die USA gerichtet. Die Tatsache, daß die USA über ein so großes Arsenal an Atomwaffen verfügen und diese in ständiger Alarmbereitschaft halten, ist ja wohl nicht gerade ein Zeichen dafür, daß die USA den Abbau ihrer eigenen Arsenale vorantreiben, und wirft die berechtigte Frage auf, warum sich die anderen Staaten dagegen diesbezüglich einschränken sollten.
Das offensichtliche Fehlschlagen der Revisions-Konferenz des Atomsperrvertrages war eine bittere Erfahrung. Wie konnte es Ihrer Meinung nach dazu kommen? Ist dieser Vertrag ein Überbleibsel des Kalten Krieges?
McNAMARA: Dazu ist zunächst einmal eines zu sagen: Der Atomsperrvertrag war als Kompromiß gedacht. Die fünf erklärten Atommächte bekräftigten, daß sie in dem Falle, daß sich die Staaten ohne Atomwaffen verpflichten sollten, keine solchen zu erwerben, auch auf die ihrigen verzichten würden. Das besagt Artikel 6 dieses Vertrages. Natürlich haben die fünf Staaten in Richtung eines solchen Verzichts nichts getan. Die anderen Staaten wollen natürlich nicht akzeptieren, daß das von ihnen jedoch erwartet wird – immerhin könnten sie es irgendwann mit militärisch gesehen starken Gegnern zu tun haben, vielleicht sogar mit den Atommächten selbst. Die Atommächte, die auch über große konventionelle Ressourcen verfügen, behaupten jedoch weiter, die Atomwaffen zu brauchen, um ihre Länder zu schützen, und die Länder, die keine Atomwaffen besitzen, sollen auch weiter nicht autorisiert sein, solche zu erwerben. Das ist eine Verletzung des Abkommens, das dem Atomsperrvertrag zugrunde liegt.
Das US-Verteidigungsministerium ist der Meinung, daß das Abkommen immer noch Gültigkeit hat – obwohl die Revisions-Konferenz als fehlgeschlagen gelten kann...
McNAMARA: Ich wüßte nicht, wie das gehen soll, der Iran und Nordkorea sind klar gegen den NPT, und wir haben einen amerikanischen Verteidigungsminister, William Perry – der ein recht weiser Minister war und auch ein versierter Wissenschaftler ist, Chef des Sicherheitsprogramms der Universität Stanford –, der im vergangenen August hier in Washington gesagt hat, daß man mit mehr als 50%iger Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsse, daß es in den nächsten 10 Jahren auf amerikanischem Territorium zu einer Atomexplosion käme – und das läßt ja wohl nicht darauf schließen, daß die Atomsperre Erfolg hat.
Sie haben vor kurzem behauptet, daß „es für die USA inzwischen an der Zeit ist, damit aufzuhören, die Atomwaffen – im Stile eines Kalten Krieges – als Werkzeug für die Außenpolitik zu benutzen.“
McNAMARA: Auch auf die Gefahr hin, als banal und provokatorisch zu gelten, würde ich die derzeitige Atompolitik der Vereinigten Staaten als unmoralisch, illegal, militärisch unnötig und furchtbar gefährlich bezeichnen. Die Gefahr eines ungewollten oder unbeabsichtigten Atomwaffenabschusses ist inakzeptabel hoch. Weit davon entfernt, an der Verringerung dieser Gefahren zu arbeiten, ist diese Administration darum bemüht, das amerikanische Atomwaffenarsenal als Trumpfkarte ihrer militärischen Macht beizubehalten – ein Bestreben, das darüber hinaus die internationalen Normen untergräbt, die die Verbreitung von Atomwaffen und Kernspaltmaterial für die nächsten 50 Jahre beschränkt haben.
Es ist überraschend, das gerade aus Ihrem Mund zu hören – immerhin waren Sie selbst einmal amerikanischer Verteidigungsminister.
McNAMARA: Lassen Sie sich eines gesagt sein: Die Genfer Konvention war ein Abkommen zwischen den Nationen, das besagte, daß die militärische Kraft gewissen Prinzipien entsprechend und ausgewogen sein solle. Das bedeutet, daß, in dem Falle, daß eine Nation gegen eine andere Militärgewalt einsetzt, diese nicht das Maß übertreffen darf, das vom Gegner eingesetzt wurde oder das dieser einzusetzen gedenkt. Und dabei muß auch klar unterschieden werden – Zivilisten dürfen also nicht betroffen sein. Es ist klar, daß der Einsatz von Atomwaffen durch eine Atommacht keiner dieser Bedingungen entsprechen kann und daher kann ich nur bekräftigen, daß er unmoralisch und illegal ist. Es ist eine Tatsache, daß die Mehrheit der Richter eines internationalen Gerichtshofs, der über die Legalität der Atomwaffen richtete, zu dem Ergebnis gekommen ist, daß sie illegal sind.
Heuer jährt sich der 60. Jahrestag der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki. Die Zeitschrift Time meinte, daß bei dieser Kriegshandlung, bei der die Vereinigten Staaten Zivilisten wie legitimes Kanonenfutter behandelten, „jede moralische Grenze überschritten wurde.“
McNAMARA: Ja, auch ich beurteile es als unmoralisch. Ich glaube nicht, daß die Vereinigten Staaten vorhatten, Atomwaffen gegen Zivilisten einzusetzen, aber es war einfach vorauszusehen, daß dabei eine große Zahl von Zivilisten getötet werden würde. Und ganz gleich, wie man das, was hier geschehen ist, nennen will: bestehen bleibt doch die Tatsache, daß die USA damit rechnen mußten, ein wahres Massaker unter der Zivilbevölkerung anzurichten.
Gewiß, in dem Moment, als man Atomwaffen einsetzte, hatten ohnehin alle Großmächte im Zweiten Weltkrieg schon Zivilisten auf dem Gewissen; beispielsweise die Briten durch die Bombardierung Dresdens. Verstehen Sie mich nicht falsch: ich will den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki keineswegs rechtfertigen; ich will damit nur sagen, daß bereits mit den massiven Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg unter Zivilisten wahre Massaker angerichtet wurden.
Ich war im März 1945 der Einheit B29 zugeteilt, und auf der Insel Guam im Einsatz, als General LeMay, Kommandant der B29, Feuerangriffe startete, bei denen die B29 nicht mehr für Bombardierungen aus großer Höhe eingesetzt wurden, sondern für Tiefflüge mit Brandbomben. Beim ersten Angriff auf Tokio – ich war in jener Nacht im März 1945 dabei – kamen ca. 80.000 Zivilisten ums Leben. Es war der erste von 66 Angriffen – und wenn auch sicher nicht jedes Mal 80.000, 90.000 oder 100.000 Menschen getötet wurden, so doch sicher sehr, sehr viele.
16. März 1961: Präsident John F. Kennedy bei einem Treffen im Weißen Haus mit Verteidigungsminister Robert McNamara (Mitte) und Vizepräsident Lyndon B. Johnson (rechts).

16. März 1961: Präsident John F. Kennedy bei einem Treffen im Weißen Haus mit Verteidigungsminister Robert McNamara (Mitte) und Vizepräsident Lyndon B. Johnson (rechts).

In der Tat hätte man sich unbedingt fragen müssen, ob es militärisch unausweichlich war, Atomwaffen einzusetzen, um der Notwendigkeit einer Bodeninvasion der größeren japanischen Inseln durch die Amerikaner zuvorzukommen, wo Japan doch schon durch die Feuerangriffe beachtliche Zerstörungen erlitten hatte.
Wie groß ist die atomare Bedrohung heute tatsächlich?
McNAMARA: Die Vereinigten Staaten verfügen derzeit über ca. 4.500 strategische Atomsprengköpfe. Russland hat ca. 3.800. Die strategische Kraft Großbritanniens, Frankreichs und Chinas ist deutlich geringer, jeder dieser Staaten hat zwischen 200 und 400 Atomwaffen in seinen Arsenalen. Die neuen Atommächte Pakistan und Indien verfügen jeweils über weniger als 100 Sprengkörper. Nordkorea behauptet, über Atomwaffen zu verfügen und die amerikanische Intelligence geht davon aus, daß Pyongyang Kernspaltmaterial für 2-8 Bomben hat. Welche Zerstörungskraft haben diese Bomben? Die „mittlere“ Atombombe der USA hat eine Zerstörungskraft, die mehr als 20mal so groß ist wie die, die man über Hiroshima abgeworfen hat. Von den 8.000 aktiven oder operativen amerikanischen Sprengköpfen sind 2.000 in ständiger Alarmbereitschaft, könnten also innerhalb von 15 Minuten abgeschossen werden. Wie können diese Waffen eingesetzt werden? „Zuerst zuschlagen“ war niemals die von den USA vertretene Politik, weder während meiner 7jährigen Amtszeit als Verteidigungsminister, noch danach. Wir waren – und sind es auch weiterhin – darauf vorbereitet, auf Beschluß einer Person, nämlich des Präsidenten, Atomwaffen gegen einen Feind (mit oder ohne Atomwaffen) einzusetzen, wann immer wir der Meinung sein sollten, daß das in unserem Interesse ist. Jahrzehntelang war die Atomkraft der USA solide genug, um einen ersten Schlag einstecken zu können und dem Gegner dann einen „inakzeptablen“ Schaden zuzufügen. Solange wir es mit einem potentiellen Feind zu tun haben, der über Atomwaffen verfügt, war das die Basis unserer atomaren Abschreckung und muß es auch weiter sein.
Schockierend ist, daß die Grundlage der amerikanischen Atompolitik noch heute – mehr als ein Jahrzehnt nach Ende des Kalten Krieges – dieselbe ist, sie sich dem Untergang der Sowjetunion nicht angepasst hat. Die Pläne und Prozeduren wurden nicht überarbeitet, um zu gewährleisten, daß die Wahrscheinlichkeit geringer ist, daß die USA oder die anderen Staaten den Knopf drücken könnten. Man hätte wenigstens alle strategischen Atomwaffen in ständiger Alarmbereitschaft entfernen müssen, wie auch schon mehrfach bekräftigt – beispielsweise von General Lee Butler, dem letzten Kommandanten des „Strategic Air Command“. Diese einfache Änderung würde die Gefahr eines unbeabsichtigten Atomwaffenstarts sehr verringern. Und dann wäre es für die anderen Staaten auch ein Zeichen dafür, daß die USA daran arbeiten, ihr Vertrauen in die Atomwaffen abzubauen.
Zur Zeit des Kalten Krieges war eine Art „theologischer Antikommunismus“ im Umlauf, und manch einer – nicht nur in den Reihen der US-Administration – war nur allzu geneigt, die Abschreckung mittels Atomwaffen als Lösung für internationale Kontroversen zu betrachten. Sie selbst haben kürzlich über eine unmittelbar bevorstehende „Apokalypse“ geschrieben. Wollten Sie damit vielleicht sagen, daß hier zwischen Religion und Politik ein Zusammenhang besteht?
McNAMARA: Ich habe das Wort „Apokalypse“ nicht wegen seiner religiösen Konnotation gebraucht. Ich halte nicht viel von dieser Art verzerrter religiöser Interpretationen. Ich habe ihn gebraucht, weil er allgemein ein schreckliches Ereignis beschreibt. Im unbeabsichtigten oder zufälligen Einsatz von Atomwaffen liegt heute eine große Gefahr, und das ist es, was ich als apokalyptisches Ereignis bezeichne – allerdings ohne irgendeinen religiösen Bezug.
In diesem Zusammenhang gibt es jedoch – wie ich meine – durchaus Religionsfaktoren, die in Betracht gezogen werden müßten. Die katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten haben Ende der Achtzigerjahre einen Bericht veröffentlicht. Dahinter stand ein Priester aus Massachussets, der noch am Leben ist; es ist die beste, von Zivilisten erstellte Erklärung über mit dem Einsatz von Atomkraft verbundene moralische und menschliche Probleme, die ich jemals gelesen habe. Dieser Bericht bekräftigt, daß das Menschengeschlecht zum ersten Mal seit der Zeit der Genesis die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu zerstören. Das müssen wir verhindern. Ich bin wirklich der Meinung, daß wir damit anfangen müßten, ernsthaft über die Atomwaffenweitergabe zu sprechen, weil sie absolut gegen die moralischen Prinzipien verstößt.
Sie haben auch geschrieben, daß Sie noch nie „ein Dokument gesehen haben“, „das einen Plan zum Beginn eines Atomkriegs seitens der USA oder der Nato darlegt, der irgendeinen Vorteil für die USA oder die Nato hätte.“ Darf man das als Botschaft an jene verstehen, die heutzutage einen „moderaten Einsatz“ von Atomwaffen befürworten, beispielsweise gegen die sogenannten „Schurkenstaaten“?
 Rechts, eine Aufnahme der von der amerikanischen Marine um Kuba errichteten Seeblockade, 
Protest gegen die dort stationierten sowjetischen Raketen.

Rechts, eine Aufnahme der von der amerikanischen Marine um Kuba errichteten Seeblockade, Protest gegen die dort stationierten sowjetischen Raketen.

McNAMARA: Was ich damit sagen will ist, daß Atomwaffen von einem militärischen Standpunkt aus keiner Nation irgendeinen Nutzen bringen – außer dem, den Gegner vom Gebrauch seiner eigenen Atomwaffen abzuschrecken. Und wenn dieser Gegner keine Atomwaffen hat, dann bleibt überhaupt kein Nutzen übrig. Das ist der erste Punkt. Der zweite ist, daß auch wenn der Gegner Atomwaffen hat, es keinerlei Rechtfertigung dafür gibt, tatsächlich mit deren Einsatz zu beginnen: gegen eine andere Atommacht wäre das reiner Selbstmord. Und dafür, sie gegen ein Land einzusetzen, das keine Atommacht ist, gibt es erst recht keine Rechtfertigung, da das von einem moralischen Standpunkt aus verwerflich und von einem politischen aus untragbar wäre. Die Atommächte müssen sich also gut überlegen, wie sie die Aufrechterhaltung ihrer Atomarsenale rechtfertigen wollen. Wenn sie das täten, kämen sie, wie ich meine, zu derselben Überzeugung, bei der schon ich angelangt bin, daß nämlich alle oder fast alle Atomwaffen eliminiert werden müßten.
Ich wiederhole also: Bomben gegen eine gegnerische Atommacht abzuwerfen, ist Selbstmord, es gegen einen Feind zu tun, der keine Atomwaffen hat, wäre militärisch gesehen nicht notwendig, moralisch verwerflich und politisch untragbar.
Ich bin sehr früh zu diesen Schlußfolgerungen gelangt, schon bald, nachdem ich Verteidigungsminister geworden war. Obwohl ich glaube, daß die Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon Johnson meine Meinung teilten, war es doch einem jeden von uns unmöglich, diese Überzeugungen öffentlich zu machen, weil sie der von der Nato festgelegten Politik vollkommen entgegenstanden.
Nachdem ich mich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte, beschloß ich, einige Informationen öffentlich zu machen, die – wie mir sehr wohl bewußt war – Kontroversen auslösen würden. Ich hatte aber das Bedürfnis, die immer unrealistischer werdende Diskussion über die Notwendigkeit von Atomwaffen um eine Portion Realität zu bereichern. Mit meinen Artikeln und Vorträgen habe ich mir erlaubt, die irrige Annahme zu kritisieren, daß man Atomwaffen in einem beschränkten Ausmaß einsetzen könne. Es gibt keine Möglichkeit, einen Atomangriff auch nur irgendwie einzuschränken; man kann nicht verhindern, daß er enorme Zerstörungen anrichtet und unzählige Menschenleben kostet, und es gibt keinerlei Garantie gegen die nicht auszudenkende Eskalation, die auf den ersten Atom­angriff folgen würde.
Laut „Nuclear Posture Review“ von 2002 ist die amerikanische Regierung autorisiert, weitere Forschungen im Bereich Atomenergie anzustellen, Experimente durchzuführen und Sprengkörper zu bauen. Bedeutet das, daß sich die Amerikaner auf dem atomaren Vormarsch befinden?
McNAMARA: Ja, genauso ist es; und meiner Meinung nach liegt diese Revision vollkommen falsch, und zwar sowohl in ihren Schlußfolgerungen als auch ihren Beurteilungen...
Darin ist von der Möglichkeit der Verbreitung von besser zu handhabenden Atomwaffen die Rede.
McNAMARA: Sie haben, wie ich glaube, wenigstens zwei neue Atomwaffen vorgeschlagen. Eine mit Tiefenwirkung und eine neue taktische Atomwaffe. Es wäre eine grobe Fehleinschätzung, auf diesem Weg weitermachen zu wollen, und ich kann nur hoffen, daß der amerikanische Kongress die Genehmigung verweigern wird.
Kann man sagen, daß eines der Resultate des 11. September auch die atomare Revision ist? Besteht da ein Zusammenhang?
McNAMARA: Nein, da besteht kein Zusammenhang, in keinster Weise... Die Attentate vom 11. September haben keinerlei Einfluß auf die Frage, ob die Vereinigten Staaten Atomwaffen benutzen sollen oder nicht. In Wahrheit denke ich das Gegenteil: nämlich, daß diese Attentate in einem gewissen Sinne die Existenz eines neuen gegnerischen terroristischen Potentials bestätigt haben; zu den Waffen, auf die die Terroristen abzielen, gehören auch Atomwaffen, bzw. Kernspaltmaterial, und wir müssen daher alles in unserer Macht Stehende für die Einschränkung der Atomwaffen und des Kernspaltmaterials tun. Aber bisher ist ein wünschenswertes Engagement in dieser Richtung leider ausgeblieben.
Sie haben geschrieben, daß Fidel Castro den Vereinigten Staaten eine Lektion erteilt hat...
McNAMARA: Die Krise der in Kuba stationierten Raketen hat gezeigt, daß die Vereinigten Staaten und die UdSSR – wie in der Tat auch der Rest der Welt – dem Atomdesaster im Oktober 1962 nur um ein Haar entgangen sind.
Auf dem Höhepunkt der Krise besaß Kuba 162 Sprengköpfe sowie mindestens 90 taktische Waffen. Bei einer 1992 in Havanna abgehaltenen Konferenz mußten wir dann von einem ehemaligen sowjetischen Offizier erfahren, daß die Russen damals im Falle einer amerikanischen Invasion Kubas zum Atomkrieg bereit gewesen wären. Am Ende dieser Begegnung fragte ich Castro, ob er Chruschtschow geraten hätte, im Falle einer amerikanischen Invasion mit Waffengewalt vorzugehen, und wenn ja, wie er sich die Reaktion der USA vorgestellt hätte. „Wir sind von der Annahme ausgegangen, daß eine Invasion Kubas einen Atomkrieg ausgelöst hätte,“ antwortete Castro. „Wir waren uns sicher...., daß wir gezwungen gewesen wären, den Preis unserer eigenenZerstörung zu bezahlen.“ Dann fuhr er fort: „Ob ich bereit gewesen wäre, Atomwaffen einzusetzen? Ja, ich wäre damit einverstanden gewesen, sie einzusetzen.“ Und weiter: „Wenn Mr. McNamara oder Mr. Kennedy an unserer Stelle gewesen wären, wenn ihr Land eine Invasion riskiert hätte, oder eine Besatzung... dann hätten sie, glaube ich, taktische Atomwaffen eingesetzt.“
Was empfinden Sie heute vor diesem Hintergrund?
McNAMARA: Ich hoffe, daß Präsident Kennedy und ich uns nicht so verhalten hätten, wie Castro glaubte. Seine Entscheidung hätte sein Land zerstört. Wenn wir in derselben Weise darauf reagiert hätten, hätte das den USA unverstellbaren Schaden zugefügt. Aber Menschen können irren. In einem konventionellen Krieg kosten Fehler Menschenleben, manchmal Tausende von Menschenleben. Der Beschluß, Atomwaffen zu benutzen, hätte jedoch ganze Nationen zerstört.
Und die Lektion Castros?
McNAMARA: Es gibt keine Möglichkeit, das Risiko auf ein akzeptables Niveau zu senken. Außer dem, bei der Politik der ständigen Alarmbereitschaft anzusetzen, und sofort danach alle oder fast alle Atomwaffen abzubauen. Die Vereinigten Staaten müßten diesbezüglich sofortige Schritte einleiten, in Abstimmung mit Rußland.
Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) ist in ihrem letzten Bericht vom Juli dieses Jahres auf die nordkoreanischen und iranischen Atomprogramme der Urananreicherung eingegangen, wobei man Pyongyang verurteilte, das Verhalten Teherans aber mit größerer Mäßigung sah.
Wenn die USA noch lange mit ihrer gegenwärtigen Atompolitik weitermachen, wird es unweigerlich zu einer verstärkten Verbreitung der Atomwaffen kommen. Einige oder vielleicht fast alle Nationen, wie Ägypten, Japan, Südkorea, Saudiarabien, Syrien und Taiwan werden mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls atomare Aufrüstungsprogramme einleiten.
McNAMARA: Ich beurteile das iranische wie auch das nordkoreanische Atomprogramm als sehr, sehr gefährlich. Aber es gibt keine militärische Lösung. Ein Angriff auf Nordkorea hätte für die USA katastrophale Folgen, weil die Nordkoreaner Seoul und einen Großteil der dort stationierten amerikanischen Truppen hinwegfegen könnten. Ebenso absurd wäre es, wenn die USA unter den derzeitigen Bedingungen den Iran angreifen würden – wir haben nicht genug Truppen im Irak. Für die Lösung dieser beiden Situationen müssen wir uns also auf die Diplomatie verlassen. Bisher hat sich die Diplomatie als relativ ineffizient erwiesen, aber sie muß die Probleme angehen, die in Nordkorea und im Iran dazu geführt haben, Atomwaffen zu entwickeln. Und eines der Probleme ist die Angst, daß sich die USA in Richtung Regime-Wechsel bewegen. Sie haben gehört, wie Präsident Bush den Irak, Nordkorea und den Iran als „Übel“ bezeichnete, als Emissäre einer Achse des Bösen, und sie haben gesehen, daß die USA im Irak einen Regime-Wechsel herbeigeführt haben. Ich bin sicher, daß es in Nordkorea und im Iran Menschen gibt, die einen Regime-Wechsel fürchten – und um diese Angst zu beseitigen, ist es wichtig, daß auch auf hoher Ebene Verhandlungen geführt werden.
Wenn die USA noch lange mit ihrer gegenwärtigen Atompolitik weitermachen, wird es unweigerlich zu einer verstärkten Verbreitung derselben kommen. Einige oder vielleicht fast alle Nationen, wie Ägypten, Japan, Südkorea, Saudiarabien, Syrien und Taiwan werden mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls atomare Aufrüstungsprogramme einleiten, was einerseits das Risiko des Gebrauchs von Atomwaffen erhöht und andererseits auch bedeuten kann, daß Atomwaffen und Kernspaltmaterial in den Händen von Schurkenstaaten oder Terroristen landen.
Weder die Administration Bush noch der Kongress, weder das amerikanische Volk noch andere Nationen haben bisher darüber diskutiert, welchen Wert alternative Politiken – für ihre Länder und für die ganze Welt – haben können, die Atomwaffen mit großer Reichweite betreffen. Aber diese Debatten hätten schon seit langem stattfinden müssen. Wenn es dazu kommen sollte, wird man – wie ich meine – bei derselben Schlußfolgerung anlagen wie ich, gemeinsam mit einer steigenden Zahl von hochgradigen Militärs: wir müssen sobald wie möglich die Eliminierung fast aller Atomwaffen erreichen. Viele erliegen immer noch der großen Versuchung, an den Strategien der letzten 40 Jahre festzuhalten. Ein solches Verhalten wäre aber ein großer Fehler, der inakzeptable Risiken für die ganze Nation bedeuten könnte.
Sie waren 13 Jahre lang Präsident der Weltbank, konnten aus nächster Nähe miterleben, was Armut bedeutet, wer die Armen sind. Welche Spur hat diese Erfahrung bei Ihnen hinterlassen, einem Mann, der so direkt mit unglaublich hohen Militärausgaben konfrontiert war? Hatten Sie da nicht das Gefühl, daß hier ein Widerspruch besteht?
McNAMARA: Ich glaube, ich hatte Gelegenheit, mich um beide Dinge zu kümmern…


Italiano Español English Français Português