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DIE GESCHICHTE VON JOSEPH...
Aus Nr. 08 - 2006

Am Zielpunkt angelangt? Doch es kommt alles anders...


Ehemalige Studenten über den letzten Abschnitt der Professorentätigkeit Ratzingers an der neuen bayerischen Universität. Umgeben von der Wertschätzung der Studenten und der Zuneigung seiner Geschwister glaubt der Dogmatik-Professor, am Ort seiner Bestimmung angelangt zu sein: bis Paul VI. seine Pläne durchkreuzt...


von Gianni Valente


Panorama der Donaustadt Regensburg

Panorama der Donaustadt Regensburg

In Regensburg läßt sich’s leben, hier, wo die Donau ruhig dahinströmt, die Türme der Patrizierhäuser stolz emporragen, bei den feierlichen Messen in der gotischen Kathedrale St. Peter die liturgischen Gesänge der Regensburger Domspatzen erklingen. Regensburg ist eine gemütliche Stadt, Erbin bedeutender Epochen, das entspannte, liebliche Gesicht dessen, was man alteuropäische Kultur nennt. Ein Hauch von Gnade hat die Stadt vielleicht mehr als einmal zu einem Vorposten, einer Art Wachtturm gemacht, dem das Schicksal beschieden war, an der Grenze zu anderen Welten zu liegen. Als das alte Castra Regina von den Römern gegründet wurde, erklang dort zunächst die unverständliche Sprache der Kelten, bis dann andere, aus dem Osten gekommene Völker das Reich auf den Kopf stellten. Im Bombenkrieg blieb die mittelalterliche Innenstadt als einzige unter allen deutschen Großstädten unzerstört. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verlief dann nur achtzig Kilometer von der bayerischen Stadt entfernt die Grenze zur Tschechoslowakei, die Trennlinie zwischen dem Westen und einer „anderen“ Welt – der des Real-Sozialismus.
Im Jahr 1968, als die sowjetischen Panzer gegen den Prager Frühling rollten, erinnerte auch die im Westen gärende Revolte der Kinder der Bourgeoisie an die marxistische Untergrabung der sozialen Ordnung. Im Jahr zuvor hatte der Freistaat Bayern im Zuge der „Bildungsoffensive“ der 70er Jahre seine vierte Universität bekommen. Es gab den ein oder anderen, der Professor Joseph Ratzinger schon von Anfang an auf dem Lehrstuhl für Dogmatik sehen wollte. Der brillante, geschätzte Konzilstheologe war 1966 von der Theologischen Fakultät Münster nach Tübingen übergewechselt, um seiner bayerischen Heimat wieder näher zu sein: er – und mehr noch seine Schwester, die ihn fürsorglich betreute – wurden oft von Heimweh geplagt. Heinrich Schlier, der große, vom Luthertum kommende katholische Exeget – ein Freund Ratzingers seit der Lehrtätigkeit der beiden in Bonn – hatte ihn mit den Worten vorgewarnt: „Herr Ratzinger, Sie dürfen nicht vergessen, daß Tübingen nicht Bayern ist.“ Und das wurde auch Joseph und seiner Schwester Maria bald klar. Dennoch widerstand Ratzinger zunächst der Versuchung, schon 1967, im Jahr der Eröffnung der Universität, nach Regensburg zu ziehen. Er war damals gerade erst in die berühmte schwäbische Hochburg der Theologie umgezogen, und der Gedanke, sich mit all den verwaltungstechnischen Problemen herumschlagen zu müssen, mit denen neugegründete akademische Institutionen unweigerlich zu kämpfen haben, reizte ihn ganz und gar nicht. So ging der Lehrstuhl für Dogmatik an Johann Auer, den Kollegen aus Bonner Zeiten. Aber schon zwei Jahre später, Anfang 1969, war alles anders. In Tübingen hatten die Studentenunruhen den Alltag der Theologischen Fakultät gründlich auf den Kopf gestellt: Vorlesungen, Prüfungen, akademische Versammlungen waren zu einem einzigen Schlachtfeld geworden. „Ich selber hatte mit den Studenten keine Probleme. Aber ich habe gesehen, wie wirklich Tyrannis ausgeübt worden ist, in brutalen Formen auch,“ zog Ratzinger in seinem Buch im Interview-Stil, Salz der Erde, Resümee [Joseph Ratzinger, Salz der Erde, Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, München 1996, S. 82]. „Anfang 1969,“ erzählt Peter Kuhn, damals Assistent Ratzingers, „bin ich Heinrich Schlier begegnet. Er fragte mich, wie es unserem ‚Chef‘ in Tübingen ergehe. Als ich ihm sagte, daß die Dinge nicht gerade gut liefen, meinte er: ‚In Regensburg soll ein zweiter Lehrstuhl für Dogmatik eingerichtet werden. Ich kenne einen Professor dort gut: Franz Mussner; er unterrichtet Exegese des Neuen Testaments. Ich könnte ihm sagen, daß Ratzinger unter den neuen Umständen bereit sein könnte, nach Regensburg zu gehen‘.‚Herr Professor,‘ sagte ich zu ihm, ‚wenn Sie etwas tun können, dann tun Sie das sofort‘.“ So erreichte Professor Ratzinger bereits Anfang Herbst des Jahres 1969 der Ruf aus jenem Ort, der ihm damals seine definitive Bestimmung zu sein schien. „Ich wollte meine Theologie in einem weniger aufregenden Kontext weiterentwickeln und mich nicht in ein ständiges Kontra hineindrängen lassen,“ schrieb er später in seiner Autobiographie als Erklärung für seine „Flucht“ aus Tübingen [Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977), Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart 1998, S. 153]. Sein ehemaliger Student Martin Bialas, heute Rektor der Passionisten in der Nähe von Regensburg, meint jedoch: „Sein Bruder Georg war Chorleiter der Domspatzen geworden. Ein Umzug nach Regensburg hätte die drei Geschwister Ratzinger wieder zusammengeführt. Ich bin sicher, daß das, und nicht die theologische Polemik, der Hauptgrund dafür war, daß er hierher gekommen ist.“ In der Stadtrandgemeinde Pentling, wo er sich mit seiner Schwester niederließ und seit 1971 ein eigenes Haus mit Garten bewohnte, zelebrierte Joseph Ratzinger jeden Tag, auch sonntags, die Messe. Seine Schwester war immer an seiner Seite. „Da kommen sie ja, Joseph und Maria,“ pflegten seine Pfarrkinder zu scherzen, wenn sie die beiden auf dem Weg zur Kirche kommen sahen.

Ratzinger,
der Ökumene-Verfechter
Für Joseph Ratzinger begann ein neues Abenteuer. Die Theologische Fakultät trat an die Stelle die Philosophisch-Theologischen Hochschule der Diözese, und war in der ersten Zeit auch dort untergebracht, wo sich die letztere befand – in der Altstadt im 1803 aufgehobenen Dominikanerkloster, wo schon Albert Magnus gewirkt hatte. Schon bald wurde die gesamte akademische Aktivität und auch die Theologische Fakultät an die Peripherie der Stadt verlegt, wo die neue Universität in Fertigbauweise entstand. Zur Universität fuhr Ratzinger gewöhnlich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, manchmal nahmen ihn aber auch Studenten und Mitarbeiter in ihren recht originellen Fahrzeugen mit: der „Ente“ von Peter Kuhn und dem schon etwas „gediegeneren“ Opel Kadett von Wolfgang Beinert.
Die neue Theologische Fakultät war wie ein unbeschriebenes Blatt. Im Gegensatz zu Tübingen konnte sie auf keine große Geschichte zurückblicken. Aber das hatte auch seine Vorteile: arbeiten ließ es sich hier in aller Freiheit, man mußte keiner allzu erdrückenden Vergangenheit Rechnung tragen. Verglichen mit der chaotischen Zeit der 68er Studentenproteste in Tübingen erschien die Regensburger Fakultät als eine Oase des Friedens, wenn man sie auch sicher nicht als eine Art von reaktionärem Widerstandsbunker gegen bestimmte Entwicklungen der postkonziliaren Theologie beschreiben konnte. Die unter den Studenten gängigen politischen Parolen waren dieselben wie überall: „Für den Sieg des vietnamesischen Volkes“ stand in roten Lettern an der Wand der Uni-Mensa zu lesen. Der gesamte Lehrkörper setzte sich aus „Neuzugängen“ zusammen, Professoren unterschiedlicher, manchmal sogar gegensätzlicher theologischer Ausrichtung. Repräsentanten der beiden „Pole“ waren der altgediente, scholastisch geprägte Professor Auer und der die Befreiungstheologie befürwortende Norbert Schiffers, Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie. „Um die Wahrheit zu sagen,“ vertraut uns Martin Bialas an, „wurde erzählt, daß der Regensburger Bischof Rudolf Graber auch Professor Ratzinger für eine Art ‚Modernisten‘ hielt, und ihm seine Ankunft an der Fakultät einiges Kopfzerbrechen bereitete. Ein Veto legte er dagegen aber nicht ein, obwohl er das durchaus hätte tun können.“ Tatsächlich passten all die Entscheidungen, die der bayerische Professor in den Jahren darauf traf, all seine Initiativen – die Themen seiner Vorlesungen und die Art, wie sie gehalten wurden, die Teilnahme am Fakultätsleben, die öffentlichen Stellungnahmen – auch recht wenig zu dem Klischee vom „bekehrten“ Konservativen oder reuigen Konzilstheologen.
Joseph Ratzinger auf einem Foto von 1971

Joseph Ratzinger auf einem Foto von 1971

Schon an den Titeln seiner Vorlesungen und Seminare kann man erkennen, welch großes Interesse Joseph Ratzinger für die aktuellen kirchlichen und theologischen Belange wie auch für den ökumenischen Dialog mit den anderen christlichen Konfessionen hatte. 1973 befaßte sich etwa das Hauptseminar mit den Texten der Vollversammlung des Ökumenischen Kirchenrats, an der Ratzinger gemeinsam mit einem anderen deutschen Theologen, Walter Kasper, teilgenommen hatte. Der Hauptkurs des Wintersemesters 1973/1974 wurde von einem Seminar über die theologischen „Neuheiten“ begleitet, die damalige Gelehrte auf diesem Gebiet „hervorgebracht“ hatten – von Rahner bis Moltmann, Schoonenberg bis Pannenberg. Im Jahr 1974 wurde dem Ekklesiologie-Kurs ein Seminar über Lumen gentium, die vom II. Vatikanischen Konzil erarbeitete Konstitution über die Kirche, zur Seite gestellt. 1976 befaßte sich das Hauptseminar mit der Möglichkeit der Anerkennung der Confessio Augustana, der von dem Lutheraner Philipp Melanchton abgefassten Glaubensformel, durch die katholische Kirche. Das Seminar befand über die Argumente, die ein einstiger Doktorand Ratzingers, Vinzenz Pfnür, für eine derartige Anerkennung vorbrachte und die sein Meister zu teilen schien. Die Methode war immer die einer direkten, vorurteilslosen Auseinandersetzung mit allen problematischen Punkten. Wie einer der damaligen Regensburger Studenten, der Steyler Pater Vincent Twomey, in seinem gerade erschienenen Buch Benedikt XVI. Das Gewissen unserer Zeit schreibt, „fanden sich die Studenten der unterschiedlichsten Semester und Studienrichtungen zu Beginn eines jeden Semesters in einem der größeren Hörsäle ein. Gebannt lauschten sie dort den Vorlesungen Joseph Ratzingers. Ganz gleich, welchen Traktat er in diesem Semester behandelte (Schöpfung, Christologie oder Ekklesiologie), er begann immer damit, die Materie zunächst in den zeitgenössischen kulturellen Kontext einzubinden und dann in den der jüngsten theologischen Entwicklungen. Abschließend zog er seine eigene, originelle, gelehrte und systematische Bilanz.“ Von seinen Studenten verlangte er nur, daß sie ihren kritischen Geist auch den neuen Konformismen gegenüber nicht aufgaben. Ein anderer ehemaliger Student Ratzingers, Joseph Zöhrer, heute Professor für Theologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, berichtet: „Wenn jemand in eine Diskussion etwas unüberlegte Argumente einwarf, reagierte er mit unterschwelliger Ironie. Als ein Student einmal eine These einfach nur auf ein Zitat des Theologen Karl Rahner stützen wollte, stellte Ratzinger trocken fest, er wundere sich darüber, wie man zuerst seine verständliche Skepsis der Formel ‚Roma locuta causa finita‘ gegenüber zum Ausdruck bringen und dann ohne mit der Wimper zu zucken zu der Formel ‚Rahner locutus causa finita‘ übergehen könne…“.
Was seine Kollegen anging, fühlte sich Ratzinger besonders den Exegeten Mussner und Gross verbunden, wenn er auch stets in einer gewissen Distanz verblieb, sich nicht an akademischen Seilschaften beteiligte, keinen Grund zum Anstoß gab. „Er ist kein Polemiker,“ erklärt Bialas, „keiner, der die Auseinandersetzung sucht. Und gerade deshalb hatte ich stets den Eindruck, daß es ihm später wohl nicht immer ganz leicht gefallen ist, fast 25 Jahre lang die Sendung zu erfüllen, die ihm Papst Wojtyla mit der Leitung des ehemaligen Heiligen Offiziums übertrug.“ In Regensburg erkannten auch die anderen Professoren schon bald, welche Vorteile sein entgegenkommendes Wesen barg – wenn es z.B. darum ging, zufriedenstellende Kompromisse für etwaige akademische Streitigkeiten zu finden. Auch aus diesem Grund wählten sie ihn zunächst zum Dekan der Fakultät, dann sogar zum Vizepräsidenten der Universität. In dieser Eigenschaft trug auch er unter anderem dazu bei, die Forderung nach Grundkursen in Marxismus höflich, aber entschieden zurückzuweisen, die von Studenten und der Universitätsleitung vorgebracht worden waren.

Eine Schule freier Denker
An der Fakultät hatten die Vorlesungen Ratzingers mit normalerweise 150-200 Studenten den größten Zulauf. Was jedoch am meisten beeindruckte – und wohl auch so manchen Neid schürte –, war vor allem die immer größer werdende Gruppe von Studenten aus ganz Deutschland, ja der ganzen Welt, die den Wunsch äußerten, unter seiner Leitung ihr Doktorat machen zu dürfen oder sich gar zu habilitieren. Es war die Doktorandengemeinschaft, die sich auf Initiative von Peter Kuhn, Wolfgang Beinert und dem Schönstatt-Pater Michael Marmann hin schon in Tübingen näher zusammengeschlossen hatte, ihre Glanzzeit aber wohl in den Siebzigerjahren in Regensburg erlebte.
Joseph Ratzinger mit Hans Maier, bayerischer Kultusminister, 
und Abt Augustin Mayer (heute Kardinal) während der Würzburger Bischofssynode bei einer Kaffeepause (1971)

Joseph Ratzinger mit Hans Maier, bayerischer Kultusminister, und Abt Augustin Mayer (heute Kardinal) während der Würzburger Bischofssynode bei einer Kaffeepause (1971)

Ratzinger hatte eine atypische Auffassung von der in der deutschen Hochschul-Tradition festgelegten Rolle des Doktorvaters. Er kümmerte sich nicht um jeden einzelnen seiner Doktoranden, dazu hätte er gar nicht die Zeit gehabt: sein Schülerkreis war viel zu groß, setzte sich nie aus weniger als 25 Studenten zusammen. Er traf sich normalerweise jeden zweiten Samstag mit ihnen im Regensburger Priesterseminar. Dieser extra moenia universitatis gemeinsam verbrachte halbe Tag wurde gewöhnlich, wie schon in Tübingen, von einer Messe eingeleitet. Danach berichteten die einzelnen Doktoranden über die Fortschritte ihrer Studien und unterbreiteten diese dem kritischen Urteil der anderen. Die Spannbreite der vom Professor vergebenen, bzw. ihm vorgeschlagenen Dissertations- und Habilitationsthemen – vom hl. Ignatius von Antiochien bis zu Nietzsche, von der Theologie des Mittelalters bis zu Camus, vom Konzil von Trient bis zu den personalistischen Philosophen – ist eine indirekte Bestätigung seiner absoluten Offenheit. „Der ein oder andere von uns spielte ab und zu mit dem Gedanken an eine theologische Schule à la Ratzinger,“ erklärt Pater Bialas. „Aber der erste, der ein derartiges Streben ablehnte, war der Professor selbst. Er sagte immer, er hätte keine ‚eigene‘, keine Sondertheologie.“ „Die Diskussion ging ihm über alles,“ erinnert sich Twomey. „Der Professor wog die Einwände zu einem jeden Thema sorgfältig ab, und zwar sowohl die historischen als auch die der zeitgenössischen Theologen, und ließ dabei alle Meinungen und Hypothesen zur Sprache kommen, auch die derer, die als Letzte zum Kreis gestoßen waren.“ Der „mäeutische“ Ansatz, mit dem er die Debatte führte, machte es ihm möglich, seine eigenen Beiträge auf ein Minimum zu reduzieren. Auch in den Kontroversen, die von diesen gleichsam demokratischen, versammlungsähnlichen Doktorandenkolloquien ausgelöst wurden, nahm er eine unparteiische Haltung, super partes, ein. „Bei der Vielfalt theologischer Meinungen im Innern der Gruppe,“ erläutert Twomey, „war eine gewisse Spannung ganz einfach unvermeidlich.“ So hatte der Schülerkreis Ratzingers auch tatsächlich rein gar nichts mit dem think tank eines theologischen Einheitsdenkens gemeinsam: und schon gar nichts mit einer Seilschaft karrierebesessener Akademiker. Ein zukünftiger Monsignore der Römischen Kurie war genauso dabei wie ein freundliches, schüchternes koreanisches Mädchen; aufrechte Ökumeniker, aber auch überzeugte Ordensleute, die ihr Leben in den Dienst der Mission stellen sollten. In den kommenden Jahren sollte mehr als einer der Jungtheologen – beispielsweise Hansjürgen Verweyen und Wolfgang Beinert – zu umstrittenen theologischen Fragen wie der Zulassung von Frauen zum Priesteramt und einem Einheitskatechismus für die gesamte katholische Kirche ganz andere Haltungen einnehmen als ihr einstiger Lehrer. „Aus heutiger Sicht kann ich mich über die Freiheit, die wir damals genossen, nur wundern,“ räumt Zöhrer ein. „Vor allem jetzt, wo ich erfahren habe, wie sehr andere, als liberal geltende Doktorväter ihren Studenten die Luft abschnürten, sie sogar bestraften, wenn auch nur der kleinste inhaltliche Dissens vernehmbar wurde…“.
Schon seit Tübingen organisierte der Schülerkreis am Ende eines jeden Semesters Begegnungen mit berühmten Professoren und Theologen außerhalb der Fakultät. So kam es, daß der Doktorvater und seine Studenten im Laufe der Jahre mit all jenen zusammentrafen, die man als die Kapazitäten der postkonziliaren theologischen Welt bezeichnen konnte: Es waren Yves Congar, Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar, Heinrich Schlier, Walter Kasper, aber auch die bedeutenden evangelischen Theologen Wolfhart Pannenberg, ein Systematiker, und Martin Hengel, ein Exeget und Historiker aus Tübingen. Es waren einmalige Gelegenheiten, die für die damaligen Doktoranden bis heute freudige, einzigartige Erinnerungen bilden. Wie die an jene Exkursion, als sich die Gruppe von Tübingen auf den Weg nach Basel gemacht hatte, um den protestantischen Theologen Karl Barth aufzusuchen. „Durch einen glücklichen Zufall,“ erinnert sich Peter Kuhn, „kamen wir gerade in dem Semester nach Basel, in dem Barth – damals schon emeritierter Professor – mit seinen Schülern ein Seminar über Dei Verbum hielt, die Konstitution des II. Vatikanischen Konzils über die Göttliche Offenbarung. Wir mischten uns unter die Zuhörer und konnten überrascht feststellen, mit welchem Ernst sich Barth und seine Gruppe protestantischer Studenten mit diesem Thema auseinandersetzten, das in katholischen Kreisen so oft mit großer Oberflächlichkeit angegangen wurde. Barth war voller Neugier. Schließlich stellte er unserem, um so viel jüngeren Professor die Fragen – noch dazu mit großem Respekt. Bei der anschließenden Begegnung mit Urs von Balthasar kritisierte einer der Studenten die von dem großen Schweizer Theologen aufgestellte Theorie von der leeren Hölle – worauf der von sich ein wenig eingenommene Großtheologe unwillig reagierte.“

Theologen der Mitte
Joseph Ratzinger bei den Arbeiten der deutschen Bischofskonferenz in  Stapelfeld (März 1971)

Joseph Ratzinger bei den Arbeiten der deutschen Bischofskonferenz in Stapelfeld (März 1971)

Joseph Ratzingers Freiheit und Freude daran, sich offen und ehrlich auch mit Einstellungen auseinanderzusetzen, die der seinen fremd waren, kann man sicher nicht als eine Art theologischen Relativismus interpretieren. In den Stürmen, die die Grundfesten der Kirche in jener Zeit erschütterten, verschanzte er sich nicht in seiner Regensburger Oase des Friedens. Es war zwar nach wie vor nicht sein Stil, Anathemata zu verhängen; angesichts des Konflikts, der die „Internationale der Theologen“ spaltete, traf er jedoch eine klare Entscheidung. Der Bruch machte sich auch in der Internationalen Theologenkommission spürbar, die Paul VI. 1969 auf Vorschlag der ersten Bischofssynode eingerichtet hatte und der auch Ratzinger seit ihren Anfängen angehörte. Hier stand der Professor aus Bayern auf der Seite jener – von Balthasar, Henri De Lubac, Marie-Jean Le Guillou, Louis Bouyer, dem Chilenen Jorge Medina Estévez –, die in dem hektischen Klima des „ständigen Revolutionzustands“, das den Großteil der theologisch-akademischen Kreise vergiftete, eine Entartung sahen, eine Karikatur der vom II. Vatikanischen Konzil vorangetriebenen Reform. Auch im Innern der vom Papst ernannten Kommission wurde heftig diskutiert. Wie Ratzinger in seiner Autobiographie selbst sagt, „verließen Rahner und Feiner, der Schweizer Ökumeniker, schließlich die Kommission, die ihrer Meinung nach nichts taugte, weil sie nicht bereit war, sich mehrheitlich radikalen Thesen anzuschließen“ (op.cit., S. 157). Auf der Ebene des Verlagswesens wurde das Ende der „Einheitsfront“ der „Nachkonzilstheologen“ auch durch die 1972 gegründete Internationale Katholische Zeitschrift Communio besiegelt. Von keinem Geringeren als Urs von Balthasar maßgeblich gefördert, fungierte sie als Sammelstelle für alle dem Radikalismus von Concilium abgeneigten theologischen Kreise, jener Zeitschrift – unter deren Gründungsmitgliedern auch Ratzinger war –, die 1965 als Vehikel für die Umsetzung des Konzilsprogramms entstanden war. Der Regensburger Professor wurde von Anfang an in das Projekt von Communio miteinbezogen – ein Projekt, das schon bald, wie von Balthasar feststellte, ein Netzwerk international interessierter Anhänger finden sollte. An die neue theologische Front drängten auch einige „vielversprechende junge Leute von Comunione e Liberazione“ (wie sie Ratzinger in seiner Autobiographie, S. 157, nennt), beispielsweise der heutige Patriarch von Venedig, Angelo Scola. Zur Redaktion der deutschen Ausgabe gehörte auch der bayerische Kultusminister Hans Maier. Ab 1974 erschien die Zeitschrift auch in vielen anderen Sprachen: englisch (USA), französisch, spanisch (Chile), polnisch, portugiesisch, brasilianisch... In den Achtziger- und Neunzigerjahren kam dann fast die gesamte, zahlreiche Garde der Theologen, die Papst Wojtyla zu Bischöfen machte – und von denen einige dann später ins Kardinalskollegium eintreten konnten – aus dem Kreis um Communio: die Deutschen Karl Lehmann und Walter Kasper, der 1995 verstorbene Schweizer Eugenio Corecco, der Brasilianer Karl Romer, der Belgier André Mutien Léonard, der Italiener und Mitglied von Comunione e Liberazione, Scola, der Chilene Medina Estévez, der Kanadier Marc Ouellet, der Österreicher und Dominikaner Christoph Schönborn. Der letztere gehörte übrigens zum Schülerkreis Ratzingers, da er zwei Semester lang die Vorlesungen des bayerischen Professors in Regensburg besuchte und mit ihm intensiven Kontakt hatte. Im Jahr 1992, zum 20. Jahrestag von Communio, zog Ratzinger seine eigene, persönliche Bilanz aus dieser kollektiven Erfahrung und fragte sich, jede Gefahr der Selbstverherrlichung vermeidend: „ Haben wir zur Genüge diesen Mut gehabt? Oder haben wir uns vielleicht hinter gelehrten theologischen Reden verkrochen, um allzu sehr zu beweisen, daß auch wir mit der Zeit gehen? Haben wir das Wort des Glaubens wirklich in verständlicher, zu Herzen gehender Weise in eine hungernde Welt getragen? Oder sind auch wir nicht gar im Kreise derer geblieben, die sich im Abtausch von Fachsimpeleien schöntun?“.

Die Einladung gilt
„Das Gefühl, immer deutlicher eine eigene theologische Sicht zu gewinnen, war wohl die schönste Erfahrung der Regensburger Jahre,“ schreibt Ratzinger in seiner Autobiographie (op.cit., S. 176). Mitte der Siebzigerjahre konnte der fast fünfzig Jahre alte Theologe trotz aller Bitterkeit, die er über die zermürbenden kirchlichen Konflikte empfand, die kleinen Freuden dessen genießen, was er als seine Lebensbestimmung betrachtete: Er lebte nun in seiner Heimat Bayern, hatte seine geliebten Geschwister um sich, konnte Blumen ans Grab der Eltern bringen, die auf dem Friedhof in der Nähe seines Hauses ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Vor allem aber erlaubte ihm seine Arbeit, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn schon immer am meisten begeistert hatte: sich in die Theologie zu versenken und zu unterrichten, umgeben von freien und engagierten Mitarbeitern, in der Hoffnung, den Studenten, die zum Teil aus der ganzen Welt zu seinen Vorlesungen kamen, die Freude daran zu vermitteln, immer wieder neue Seiten der Kirchenväter, der Liturgie, des gesamten Schatzes der Tradition zu entdecken. Und als der Erzbischof von München, Kardinal Julius Döpfner, im Sommer 1976 plötzlich starb, nahm Ratzinger die Gerüchte, laut denen er sein Nachfolger werden soll, zunächst keineswegs ernst: „Die Grenzen meiner Gesundheit waren ebenso bekannt wie meine Fremdheit gegenüber Aufgaben der Leitung und der Verwaltung,“ schreibt er in seiner Autobiographie (op.cit., S. 176). Doch die Wahl von Paul VI. fiel tatsächlich auf ihn.
Reinhard Richardi, damals Professor an der Rechtsfakultät der Regensburger Universität und mit dem Papst noch heute freundschaftlich verbunden, erzählt 30Tage: „Die Überraschung war groß. Es war offensichtlich, daß ihn Paul VI. schätzte, in ihm einen bedeutenden Theologen auf der Linie der Konzilsreform sah, ihn an der Leitung der Kirche beteiligen wollte. Er kreierte ihn ja auch schon wenige Monate nach seiner Ernennung zum Erzbischof zum Kardinal. Wenn er ihn jetzt als seinen Nachfolger auf dem Petrusstuhl sehen könnte, würde er vielleicht sagen: Ich war sicher, daß Gott schon damals in besonderer Weise seinen Blick auf ihn gerichtete hatte.“ All das hätte sich der zukünftige Benedikt XVI. damals wohl sicher nicht träumen lassen. Richardi berichtet: „Ich kann mich noch gut daran erinnern, als seine Ernennung zum Nachfolger Döpfners bekannt wurde. Genau an diesem Tag waren meine Frau, meine Kinder und ich bei ihm zu Hause eingeladen. Er rief uns an und sagte: die Einladung gilt natürlich – auch wenn sie mich zum Bischof gemacht haben. Also bis später!“.


(unter Mitarbeit von Pierluca Azzaro)


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