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ARGENTINIEN
Aus Nr. 06 - 2003

DIE BEIDEN ANSPRACHEN AM NATIONALFEIERTAG.

Der Präsident und der Kardinal



von Gianni Valente


Kardinal Jorge Mario Bergoglio, Primas von Argentinien

Kardinal Jorge Mario Bergoglio, Primas von Argentinien

Am 25. Mai, dem Nationalfeiertag, wurden zwei wichtige, in so manchem Punkt konform gehende Anprachen an das argentinische Volk gerichtet.
ºei den Feierlichkeiten zu seiner Amtseinsetzung (bei denen übrigens auch der brasilianische Präsident Inácio Lula da Silva, der venezolanische Präsident Hugo Chávez, und der kubanische líder máximo Fidel Castro anwesend waren) hielt der neugewählte Präsident Nestor Kirchner vor dem Kongress eine Rede, aus der ganz andere Töne herauszuhören waren als die, die die argentinische Politik noch in den Neunzigerjahren angeschlagen hatte. Gerade er – der Kandidat mit dem Ruf, am wenigsten Charisma zu haben, der, den die Argentinier ohne allzu große Begeisterung gewählt hatten, ja, eigentlich nur, um den Alptraum einer Rückkehr Menems in weite Ferne rücken zu lassen – appellierte an den Stolz seiner Landsleute, als er den Weg eines „nationalen Kapitalismus“ absteckte, mit einem Staat, der wieder eine positive Rolle spielt und „dort Gleichbehandlung bringt, wo der Markt ausschließt und ausgrenzt.“ Basierend auf der grundlegenden Feststellung, daß „die Lösýng für das Problem der Armut nicht bei der Sozialpolitik ansetzen muß, sondern bei der Wirtschaftspolitik.“ Kirchner wollte auch betonen, daß die Begleichung der enormen Auslandsverschuldung Argentiniens „nicht auf Kosten von Hunger und Ausgrenzung gehen darf“, sondern mit einem realen wirtschaftlichen Aufschwung einhergehen muß. Als Priorität auf internationaler Ebene nannte er „den Aufbau eines politisch stabilen Lateinamerika, in dem Wohlstand herrscht, vereint auf den Grundlagen der Ideale Demokratie und soziale Gerechtigkeit, wie auf der regionalen Integration im Rahmen der Mercosur [das Projekt eines gemeinsamen Marktes, an das sich bisher Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay angeschlossen haben, wie auch Bolivien und Chile als assoziierte Mitglieder, Anm.d.Red.].“ Auch die ersten Schritte der neuen argentinischen Regierung haben gezeigt, daß die Achse mit dem Brasilien Lulas wünschenswert ist, vor allem in Fragen der Wirtschaftspolitik und der internationalen Politik. „Es ist, als wären die Wahlen in unseren Ländern von derselben Partei gewonnen worden,“ lautete ein Ausspruch des neuen argentinischen Ministers für Äußeres, Rafael Bielsa.
Am selben Tag, dem der Amtseinsetzung des neuen Präsidenten, wurden noch andere Worte gesprochen, die tief an das Herz des Landes rührten: in der Homilie des argentinischen Kardinalprimas, Jorge Mario Bergoglio, beim Te Deum zum Jahrestag der Mai-Revolution. Worte voller Realismus und christlicher Anteilnahme an dem Leid, das das argentinische Volk erdulden muß, und das suggestiv und eindringlich mit der Evangeliumserzählung vom Barmherzigen Samariter verglichen wurde: „Wenn wir uns auf den Weg machen, treffen wir unweigerlich auf den Verletzten. Heute, und in immer zunehmenderem Maße, machen diese Verletzten die Mehrheit aus. In der Menschheit und in unserem Land. [...] Die Einbeziehung oder Ausschließung des am Straßenrand liegenden Verletzten steht für alle wirtschaftlichen, politischen, sozialen und religiösen Projekte. Wir alle haben tagtäglich die Wahl, barmherzige Samariter zu sein oder gleichgültige Passanten.“ Der Erzbischof von Buenos Aires wollte mit diesem Gleichnis aus dem Evangelium auf die spekulativen Mechanismen internationaler Prägung und auf die soziale und politische Trägheit hinweisen, „die auf dem besten Weg ist, aus dieser Welt einen verlassenen Weg zu machen.“ Er zitierte die poetische Prophetie des Martin Fierro, imaginärer Vater des Vaterlandes, der meinte, daß „unser ewiger und steriler Haß und Individualismus denen draußen, die uns verschlingen wollen, die Pforten öffnet.“ Er verwies auf das Bündnis zwischen den ‚Straßenräubern‘ und den ‚Passanten, die vorübergehen und auf die andere Seite schauen‘. Dann beschrieb er das „Versinken eines Volkes in der Mutlosigkeit“ als „Sich-Schließen eines perfekten Teufelskreises: die unsichtbare Diktatur der realen Interessen, jener versteckten Interessen, die sich unsere Ressourcen, unsere Urteils- und Denkfähigkeit zueigen gemacht haben.“ Im Hinblick eines möglichen Auswegs hat der Kardinal seine Landsleute aufgefordert, sich nicht über die Vergangenheit zu beklagen, sondern wieder zu einer konkreten Minimal-Politik zu finden: „Man muß von unten und auf lokaler Ebene anfangen, sich für die Lösung konkreter Probleme einsetzen, bis zum entlegensten Winkel unseres Landes – mit derselben Sorge, die der Barmherzige Samariter jeder Wunde des Verletzten angedeihen ließ. Wir haben kein Vertrauen in die abgedroschenen Reden und den angeblichen Bericht zur Lage der Nation.“ Und nachdem er auch den Patriotismus ins Spiel gebracht hat [„Wo immer Ödland war, haben unsere Gründerväter, und später die anderen, die dieses Land bevölkerten, Arbeit geschaffen und Heroismus entstehen lassen, Organisation und sozialen Schutz“], schloß er, Maria die Bitte anvertrauend, daß das christliche Gedächtnis zum vorteilhaften Trost gereichen möge für das ganze Land: „Kümmern wir uns um die Schwäche unserer verletzten Bevölkerung. Ein jeder mit seinem Wein, seinem Öl, so gut er kann. Kümmern wir uns um die Schwäche unseres Vaterlandes, indem ein jeder aus seiner Tasche das Notwendige beiträgt, damit unser Land eine rastspendende Herberge für alle wird, niemanden ausgeschlossen. [...] Möge unsere Mutter, Maria von Luján, die bei uns geblieben ist und uns auf dem Weg unserer Geschichte begleitet, als Zeichen des Trostes und der Hoffnung, das Gebet von uns Pilgern erhören, uns Trost schenken und uns ermutigen, dem Beispiel Christi zu folgen, das Beispiel dessen, der unsere Schwäche auf seine Schultern lädt.“
G.V.



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