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BEILAGE
Aus Nr. 12 - 2007

Das Herz und die Gnade bei Augustinus. Unterscheidung und Entsprechung



von Kardinal Angelo Scola


Kardinal Angelo Scola.

Kardinal Angelo Scola.

Demut: der Paradeweg
Vor ein paar Monaten hat der Heilige Vater Benedikt XVI. – dessen allgemein bekannte Nähe zu Augustinus auch aus seinem Lehramt deutlich wird – bei der heiligen Messe in den Gärten des „Almo Collegio Borromeo“ von Pavia den Bekehrungsweg des heiligen Bischofs nachvollzogen und den letzten und definitiven Einschnitt mit folgenden Worten beschrieben: „Augustinus hatte eine letzte Demut gelernt – nicht nur die Demut, sein großes Denken dem einfachen Glauben der Kirche einzufügen, nicht nur die Demut, seine großen Einsichten in die Einfachheit der Verkündigung zu übersetzen, sondern auch die Demut anzuerkennen, dass er und die ganze pilgernde Kirche immerfort der barmherzigen und täglich vergebenden Güte Gottes bedürfen und dass wir dann Christus, dem einzig Vollkommenen, am meisten ähnlich werden, wenn wir wie er zu Menschen der Barmherzigkeit werden“1.
Der Bezug des Papstes auf die Demut des Augustinus führt uns direkt zum Kern der Lehre des Bischofs von Hippo über „das Herz und die Gnade“. Schon das Wort „Demut“ erklärt nämlich, was im Menschen geschieht, der – aus reiner Gnade – der lebendigen Barmherzigkeit Gottes begegnet. So kann Don Giacomo Tantardini in dem Buch, das wir heute Abend vorstellen, zu recht schreiben: „Augustinus sagt, dass nur in der Begegnung zwischen dem Herzen, also der Innerlichkeit, und der Gnade, also der Präsenz des Herrn, die Innerlichkeit wieder sie selbst wird, das Herz wieder Herz, also wieder Kinderherz wird […] Die Demut Jesu ist die Tugend, der wir nacheifern können. Wir können nicht sein Wunder-Wirken nachahmen – sein Sanft-Sein, sein Klein- und Demütig-Sein aber können wir alle nachahmen“2.

Wille und Gnade: eine augustinische lectio
Ich habe aus dem immensen Erbe, das uns Augustinus hinterlassen hat, eine Seite aus De libero arbitrio ausgesucht, die ich heute Abend mit Ihnen zusammen lesen möchte.
Genau gesagt den Dialog, dem bekanntlich eine Diskussion zugrunde liegt, zu der es zwischen Herbst 387 und Sommer 388 3 in Rom gekommen war. Im Jahr 387 – genau gesagt am 24./25. April, in der Osternacht – wurde Augustinus von Ambrosius in Mailand getauft. Vollendet hat Augustinus das Werk in Afrika nach seiner Priesterweihe Anfang 391. Nachdem er auf Wunsch seines Bischofs Valerius im Jahr 395 (oder 396, wie einige meinen) Bischofskoadjutor von Hippo geworden war, schickte er drei Kopien besagten Buches an Paulinus von Nola (christlicher Dichter und Bischof, 355-431)4.
Seinen Ausgang nimmt der Dialog bei folgender Frage des Evodius an Augustinus: „Dic mihi, quaeso te, utrum Deus non sit auctor mali? / Sag mir doch bitte, ob Gott nicht der Ursprung des Bösen ist“ (I, 1, 1). Das Thema ist also nicht direkt die Freiheit des Menschen, sondern die Verantwortung Gottes dem Bösen gegenüber. Wie Madec meint, „könnte der Dialog gut den Titel der ‚Theodizee‘ von Leibniz tragen: Essaies de théodizées sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal5. Der Dialog zwischen Evodius und Augustinus wirft jene Frage auf, die den Menschen schon immer und zu allen Zeiten gequält hat: warum gibt es das Böse? Eine Frage, deren Macht, unsere Menschlichkeit zu verletzen, besonders deutlich wird, wenn man sie so formuliert: wie kommt es, dass ich Böses tue?
Schon die ersten Seiten besagten Werkes lassen erkennen, dass wir es hier mit einem „klassischen“ Autor zu tun haben – und könnte man sich einen würdevolleren Vertreter als Augustinus vorstellen? Jede zeitliche oder kulturelle Distanz wird nämlich mit einem Schlag hinweggefegt und sofort jene tiefgründige Frage deutlich gemacht, die sich die Leser aller Epochen gestellt haben.
Aber es gibt noch einen Grund, warum ich heute Abend mit Ihnen gerade einen Auszug aus De libero arbitrio lesen wollte. Augustinus selbst hat dieses Werk nachgelesen und interpretiert. So schrieb Augustinus – wie Don Giacomo anmerkt – ja auch „im Jahr 388 gegen die Manichäer De libero arbitrio. Ein interessantes Werk, auch weil es danach von den Pelagianern benutzt wurde, um zu unterstellen, dass Augustinus unmittelbar nach seiner Bekehrung weder die Lehre von der Erbsünde, noch die Lehre von der Gnade akzeptierte, deren Verteidiger er dann aber werden sollte. Augustinus schrieb später bekanntlich die Retractationes, um zu zeigen, dass auch im De libero arbitrio, das für die Freiheit des Menschen eintritt, die Erbsündenlehre (wie sie ihm vor allem von Ambrosius gelehrt worden war) enthalten ist – und auch die Gnadenlehre“6. So erleben wir also dank De libero arbitrio nicht nur einen Augustinus, der sich selbst interpretiert, sondern erfahren auch sozusagen „aus erster Hand“ und unverfälscht, was er über einen Aspekt dachte, der mit dem Problem des Bösen zusammenhängt und für das Leben eines jeden Menschen so entscheidend ist: die Rolle, die der menschliche Wille in der Beziehung zwischen Gnade (Jesus Christus) und Freiheit (Mensch) spielt.
Lassen Sie uns eine kurze Passage dieses Dialogs betrachten. Sie stammt aus dem 3. Buch, 3, 7: „Ev. – Mihi si esset potestas ut essem beatus, iam profecto essem: volo enim etiam nunc, et non sum, quia non ego, sed ille me beatum fecit / : E. – Wenn es in meiner Macht stünde, glücklich zu sein, dann wäre ich es sicher schon; ich will es heute schon sein, und ich bin es nicht, weil nicht ich mich glücklich mache, sondern er es tut.“
Giacomo Tantardini, <I>Il cuore e la grazia in sant’Agostino. Distinzione e corrispondenza</I>, Città Nuova, Roma 2006, pp. 343-344.

Giacomo Tantardini, Il cuore e la grazia in sant’Agostino. Distinzione e corrispondenza, Città Nuova, Roma 2006, pp. 343-344.

Mit wenigen Worten wirft der Augustinus-Text hier zwei Fragen auf, die für den Menschen unserer Tage – den so genannten postmodernen Menschen – von grundlegender Bedeutung sind. Zunächst einmal die der Glückseligkeit: man muss nur bedenken, wie prägnant der Begriff beatus im christlichen Latein ist: gemeint ist damit jene vollkommene und definitive Glückseligkeit, die nicht in der direkten Reichweite des Menschen liegt und doch eine Freude schafft, die nicht vorübergehend, zum Sterben verurteilt ist wie rein weltliche Freuden. Und während dem modernen Menschen am meisten die Frage der Wahrheit und Gerechtigkeit am Herzen lag (bis zum Fall der Mauern, versteht sich), so beschäftigt den postmodernen Menschen heute vor allem die der Glückseligkeit und der Freiheit. Ich habe rheit und ruft, von deiner Erfahrung ausgehend, sich selbst hervor“), antwortet Augustinus dem Evodius.
So verweist uns der heilige Bischof darauf, dass die menschliche Erfahrung, für sich selbst betrachtet, dem Menschen die Frage der Wahrheit über sich selbst eröffnet. Worin aber besteht diese grundlegende menschliche Erfahrung, auf die sich Augustinus bezieht? Sie besteht aus zwei Elementen: Dem Wunsch nach Glückseligkeit – erstes Element – und dem Bewusstsein des Umstandes, dass der Mensch diese Glückseligkeit nicht von sich aus erlangen kann. Ein Anderer kann dieses Verlangen stillen, und das ist der zweite wesentliche Aspekt.
Im Zusammenhang mit der so verstandenen Glückseligkeit befasst sich der Heilige mit einem Thema, das ich gerne genauer beleuchten möchte: die Rolle, die der Wille dabei spielt.
Non enim posses aliud sentire esse in potestate nostra, nisi quod cum volumus facimus. Quapropter nihil tam in nostra potestate, quam ipsa voluntas est. Ea enim prorsus nullo intervallo, mox ut volumus praesto est / Du kannst Dir in der Tat dessen bewusst sein, dass nur das in unserer Macht steht, was wir dann tun können, wenn wir es wollen. Nichts liegt so sehr in unserer Macht wie der Wille selbst. Unmittelbar steht er uns zur Verfügung im Akt unseres Wollens.“
Das war eine der Behauptungen, die Pelagius und seine Jünger bei der Kontroverse mit Augustinus gebrauchten, um das Gewicht der Erbsünde und der Gnade zu schmälern. Pater Augustin Trapè merkt an, dass Augustinus sein De libero arbitrio schrieb, nachdem er die Illusion der Manichäier überwunden hatte, die es dem Menschen erlaubte, sich der eigenen Verantwortung für das zugefügte Böse zu entziehen, weil die Sünde für sie nicht vom freien Willen ausging, sondern dem Vorhandenseins zweier Prinzipien (gut und böse) im Menschen zuzuschreiben war. De libero arbitrio war also entstanden, „um zu zeigen, dass der menschliche Wille im wesentlichen frei ist und also auch seine Handlungen in seiner Hand liegen“7. Ein paar Zeilen weiter unten in der zitierten Passage kann Augustinus dann ja auch bekräftigen: „Voluntas igitur nostra nec voluntas esset, nisi esset in nostra potestate. Porro, quia est in potestate, libera est nobis / Unser Wille wäre folglich kein Wille, wenn er nicht in unserer Macht läge. Weil er aber in unserer Macht liegt, ist er für uns frei“ (III, 3, 8). Gerade diese Behauptung wurde von den Pelagianern gegen Augustinus verwendet. Wie hat der Heilige darauf reagiert?
Doch lassen wir ihn selbst zu Wort kommen, und zwar durch einen Text aus den Retractationes (I, 9, 3): „Die neuen Häretiker und Jünger des Pelagius sollen nicht allzu sehr auftrumpfen! Wenn wir uns in diesen Büchern nämlich zu vielen Äußerungen zugunsten der Willensfreiheit haben hinreißen lassen, dann deshalb, weil es die Art dieser Diskussion erforderte. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir uns mit Leuten wie ihnen auf eine Stufe stellen wollen, die bei ihrer Verteidigung der Willensfreiheit so weit gehen, dass kein Raum mehr bleibt für die göttliche Gnade und meinen, letztere werde uns aufgrund unserer Verdienste gewährt.“
Später im Text bekräftigt er: „Die Pelagianer mögen durchaus behaupten – was sie auch tun –, wir wären auf ein und derselben Linie. Aber das entbehrt jeder Grundlage. Gewiss ist es der Wille, der uns sündigen oder den rechten Weg einschlagen lässt, und genau dieses Konzept haben wir auch in den hier ausgeführten Aussagen entwickelt [gemeint sind die Passagen aus De libero arbitrio, die Augustinus in den Retractationes zitiert]. Wenn die göttliche Gnade also nicht ‚einschreitet‘ und den Willen aus der Befindlichkeit des Unterworfenseins befreit, die ihn zum Sklaven der Sünde werden lässt, und ihn seine Fehler überwinden hilft, ist es den Sterblichen unmöglich, ein frommes und geglücktes Leben zu führen. Und wenn dieser helfende göttliche ‚Eingriff‘, der den Willen befreit, diesem nicht zuvorkäme, müsste man ihn als eine aufgrund seiner Verdienste gewährte Belohnung betrachten, und dann wäre es keine Gnade mehr, da man ja als Gnade in einem jeden Fall das betrachtet, was unentgeltlich gegeben ist“ (I, 9, 4).
Doch kehren wir vor dem Hintergrund dieser Augustin’schen Präzisierungen wieder zum Thema unserer lectio zurück – der Passage aus De libero arbitrio – und sehen wir uns die Beziehung zwischen Wille und Macht genauer an, also letztendlich die zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Freiheit, bzw. zwischen „Herz und Gnade.“
Augustinus geht dabei von einigen unumstößlichen Tatsachen im Leben des Menschen aus, die nicht in der Macht seines Willens liegen. „Et ideo recte possumus dicere: ‚Non voluntate senescimus, sed necessitate‘; aut: non voluntate infirmamur, sed necessitate‘; aut: ‚non voluntate morimur, sed necessitate‘; et si quid aliud huiusmodi / Man kann sagen: ‚Man altert nicht, weil man will, sondern aus Notwendigkeit; man wird nicht krank, weil man will, sondern aus Notwendigkeit; man stirbt nicht, weil man will, sondern aus Notwendigkeit‘, usw.“.
Mit großem Scharfsinn befasst sich Augustinus mit Alter, Krankheit und Tod. Mit Dingen also, die necessitate passieren – ohne dass der Wille des Menschen Einfluss darauf hätte – und die den Kontrast zwischen dem Wunsch nach beatitudo und der Unmöglichkeit zeigen, diese Glückseligkeit aus eigener Kraft zu erreichen. Und der Tod scheint ja auch das bereits erwähnte Verlangen nach Glückseligkeit und Freiheit radikal zu leugnen, indem er den Menschen auf das reduziert, was necessitate passiert. Aber hier zeigt sich die ganze Überzeugungskraft der Augustin’schen Argumentation, die sich auch angesichts solch unabwendbarer Tatsachen nicht geschlagen gibt: „‚Non voluntate autem volumus‘, quis vel delirus audeat dicere? / Aber wer, der bei gesundem Verstand ist, wollte schon sagen, dass wir das, was unseres Willens ist, nicht wollen?“.
Unsere Erfahrung lässt uns einen Punkt erkennen, der diese necessitas radikal aus den Angeln hebt: die Möglichkeit des Wollens, die den Kern der Erfahrung der Freiheit bildet.
Augustinus fährt fort: „Quamobrem, quamvis presciat Deus nostras voluntates futuras, non ex eo tamen conficitur ut non voluntate aliquid velimus. Nam et de beatitudine quod dixisti, non abs teipso beatum fieri, ita dixisti, quasi hoc ego negaverim: sed dico, cum futurus es beatus, non te invitum, sed volentem futurum. Cum igitur praescius Deus sit futurae beatitudinis tuae, nec aliter aliquid fieri possit quam ille praescivit, alioquin nulla praescientia est, non tamen ex eo cogimur sentire, quod absurdissimum est et longe a veritate seclusum, non te volentem beatum futurum / Und auch wenn Gott ein Vorwissen unserer zukünftigen Wünsche hat, folgt daraus nicht, dass wir etwas wollen ohne Willen. Als Du bezüglich der Glückseligkeit gesagt hast, dass Du nicht von Dir aus glücklich wirst, hast Du das gesagt, als würde ich es leugnen. Ich sage aber, dass Du deshalb glücklich wirst, weil Du das willst, und nicht, weil Du es nicht willst. Gott weiß also im Voraus um unsere zukünftige Glückseligkeit, und nur das Ereignis, um das er vorher weiß, kann eintreten, sonst wäre es kein Vorwissen. Dennoch sind wir nicht deshalb gezwungen zu denken, dass Du glücklich wirst, ohne es zu wollen. Denn gäbe es etwas Absurderes, von der Wahrheit weiter Entferntes?“.
Besonders tiefblickend bekräftigt Augustinus, dass die Glückseligkeit, also jene Seligkeit, die zu erlangen nicht in unserer Macht steht und die von Gott gegeben ist, (sehr wohl!) mit unserem Willen zu tun hat. In der Tat wird nämlich niemand – wie der heilige Bischof sagt – glücklich, ohne es zu wollen.
Besonders tiefblickend bekräftigt Augustinus, dass die Glückseligkeit, also jene Seligkeit, die zu erlangen nicht in unserer Macht steht und die von Gott gegeben ist, (sehr wohl!) mit unserem Willen zu tun hat. In der Tat wird nämlich niemand – wie der heilige Bischof sagt – glücklich, ohne es zu wollen. Nicht aber etwa deshalb, weil der Wille in der Lage wäre, das, was er will, auch wirklich in Gang zu setzen – er ist ja auch nicht in der Lage, die so heiß ersehnte Glückseligkeit zu erlangen –, sondern weil der wirklich und definitiv freie Wille die Macht hat, das zu wollen, was uns gegeben ist.
Ich kann das Geschenk (die Gnade) wollen. Oder besser: ich bin wirklich frei und entscheide aufgrund der Fülle meiner Existenz, wann ich beschließe, dem Geschenk der Gnade zuzustimmen. Diese Würde der menschlichen Freiheit ist es, die das Herz zum wahren Ansprechpartner der Gnade macht. Und so wird die vollkommen und stets unentgeltliche Gnade wirklich effizient, wenn die Freiheit „ja“ sagt, (nicht wie etwas Automatisches, das sich dem Menschen aufdrängt); sie löscht die Freiheit nicht aus, sondern ruft sie zur Teilnahme und betont sie somit noch. Pater Trapè kommentiert hierzu: „Im pelagianischen Streit war Augustinus dann stets darauf bedacht, nicht nur die Freiheit des Menschen zu bekräftigen, sondern auch die Notwendigkeit der Gnade [...]; und ebenso unermüdlich war er darauf bedacht, daran zu gemahnen, die beiden Wahrheiten festzuhalten (ohne die erste wird das ganze menschliche Leben über den Haufen geworfen, ohne die zweite das ganze christliche Leben), auch wenn man nicht versteht, wie die beiden miteinander existieren können. Man hat unrecht, wenn man behauptet, dass Augustinus die Freiheit geopfert hätte, um die Gnade zu verteidigen. Die Gnade hilft dem Willen – wie der Doctor gratiae schreibt –, den in seiner Natur liegenden Schwächen nicht nachzugeben, sie nimmt ihn aber nicht weg [...]. ‚Der freie Wille wird nicht genommen, weil ihm geholfen wird, sondern ihm wird eben gerade deshalb geholfen, weil er nicht genommen wird‘ (Ep. 157, 10)“8.
Eine herrliche Synthese dieses Gedankens bringt Augustinus in Sermo 169, 11, 13 zum Ausdruck: „Wer Dich ohne Dich geschaffen hat, rechtfertigt Dich nicht ohne Dich: Wer Dich ohne Dein Wissen geschaffen hat, wird Dich nicht ohne Dein Wollen rechtfertigten.“ Auf derselben Linie kann Dante mit dem Scharfsinn des literarischen Genies sagen: „Das größte Gut, das Gott in seiner Gnade geschaffen hat / und das zu seiner Güte am besten passt / das er am höchsten wertet / das ist des Willens Freiheit ja gewesen“9. Und das Konzil von Trient nahm diesen Gedanken mit jener genialen Formulierung wieder auf – Ausdruck der Ausgewogenheit des Katholizismus –, die beim Beschreiben der Dynamik des freien Willens, der stets von der erlösenden Gnade bewegt wird, von einer Mitwirkung durch Zustimmung spricht: „Si quis dixerit liberum hominis arbitrium a Deo motum et excitatum nihil cooperari assentiendo Deo excitanti atque vocanti quo ad obtinendam iustificationis gratiam se disponat ac praeparet, neque posse dissentire, si velit, sed velut inanime quoddam nihil omnino agere mereque passive se habere: anathema sit10.
Das Herz ist also gerufen, aus freien Stücken jene Seligkeit zu wollen, die nur Frucht des Geschenks der Gnade sein kann. Welche sind die privilegierten Ausdrücke seines freien Willens der Gnade gegenüber? Das Verlangen und die dankbare Annahme des Geschenks. Denn „wer das Heil erbittet, wird gerettet: wer es erbittet, wer das Verlangen danach hat. Und so etwas gilt für jeden Menschen. Nur das Geheimnis kennt das Herz des Menschen. Ein Moment des Wolllens genügt“11.

Die „Arbeit“ der Freiheit
Können diese eben betrachteten Worte des Augustinus uns etwas lehren? Uns Männer und Frauen der heutigen Zeit, die es so nach Glückseligkeit und Freiheit dürstet?
Wir können in der Tat nicht leugnen, dass der Einfluss der Wissenschaftstechnik auf unsere persönliche Existenz und die Gesellschaft in den fortgeschrittenen Demokratien, vor allem im Westen, stark spürbar ist. Die Wissenschaftstechnik scheint die Religionen oder Philosophien weitgehend ersetzt zu haben: sie ist es nun, die uns die Frage beantwortet nach dem Ursprung des Lebens, nach seinem Verlauf und seinem Zweck. Genau genommen hängt selbst das Phänomen der Globalisierung weitgehend mit dem Umstand zusammen, dass der Westen dabei ist, der ganzen Welt eine Vorstellung von Glückseligkeit aufzudrängen, die reines Produkt der Wissenschaftstechnik ist.
Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als leugne die Kultur unserer Zeit die Lehre des Augustinus, von der wir hier ausgegangen sind, nämlich folgende Behauptung des Evodius: „Wenn es in meiner Macht stünde, glücklich zu sein, dann wäre ich es sicher schon; ich will es auch jetzt, und ich bin es nicht, weil nicht ich mich glücklich mache, sondern er es tut.“
Die Wissenschaftstechnik scheint nun dem Menschen die Macht zu geben, glücklich zu sein. Nicht nur die Glückseligkeit zu wollen, sondern sie von sich aus haben zu können, auf direktem Weg, ohne sie auch nur irgendwie als Geschenk zu erhalten.
So entsteht der Anspruch auf eine bedingungslose Freiheit. Eine Freiheit, in deren Macht alles steht: „ich kann, also muss ich“ lautet der kategorische Imperativ der Wissenschaftstechnik.
Don Giacomo Tantardini und Kardinal Angelo Scola.

Don Giacomo Tantardini und Kardinal Angelo Scola.

Vielleicht hatte schon Descartes die kultur-historische Rechtfertigung der Macht erkannt, die in der Wissenschaftstechnik liegt: das Versprechen, den Menschen zum Meister und Herrn der Natur zu machen („maître et possesseur de la nature“). Die Macht des wissenschaftlichen Wissens liegt einerseits in ihrem theoretischen und praktischen Universalismus (im Gegensatz zur Vielfalt und Konfliktualität der Religionen), andererseits in dem immer größer werdenden Reservoir an Möglichkeiten, die die Wissenschaft der Welt durch die Technik zur Verfügung stellt. Und so hindert die Wissenschaftstechnik den Verstand ja auch tatsächlich daran, die Grundsatz-Fragen zu stellen („Und wer bin ich? Wer gibt mir letzten Ende, über den Tod hinaus, Gewissheit durch seine Liebe?“). Und sie treibt die Freiheit dazu, sich fast ausschließlich für Errungenschaften zu engagieren, die einer Technik überlassen bleiben, die immer mächtiger wird und daher auch immer mehr selbst-rechtfertigend.
Hier lässt sich eine postmoderne Form von Utopie erkennen, die auf sozialer Ebene schwerwiegende Folgen hat. Alles, was nicht unter diese Art „wissenschaftlichen Universalismus“ fällt, wird nämlich in eine Art Indianerreservat abgedrängt und kann so nicht mehr darauf hoffen, irgendeine universale öffentliche Bedeutung zu erlangen.
Was kann man gegen diese Mentalität tun? Es nützt sicher wenig, zu klagen oder wie besessen nach dem Schuldigen zu suchen. Hier bedarf es des Glaubens, verstanden als menschlich vollendete Antwort. Des lebendigen Glaubens, der Zeugnis ablegt für die Wahrheit, die Schönheit und die Güte des unentgeltlichen Geschenks der Begegnung mit Christus. Den Weg der Begegnung zwischen Herz und Gnade. Zwischen der Fähigkeit, zu wollen, die niemals fehlt, und dem Geschenk, das das Verlangen nach Glückseligkeit stillt. Und es ist kein Zufall, wenn die Bekenntnisse des Augustinus auch heute noch – gleich nach der Bibel – das meist gedruckte Buch der Welt sind.
Don Giussani, auf den sich Don Giacomo bei seinen „Lesungen“ aus den Werken des Augustinus stützt, kann in einem Kommentar zum Evangeliumsbericht vom reichen jungen Mann den Paradeweg ausmachen, um zum Menschen von heute zu sprechen. Er beschreibt die Aufgabe der Freiheit bei der Begegnung mit der Gnade wie folgt: „Denken Sie an den reichen jungen Mann, der sich seinen Weg durch die auf der Straße versammelte Menschenmenge bahnt und mit offenem Mund Jesus lauscht – und an Jesus, der ihn ansieht. Und da sagt er zu ihm: ‚Guter Meister, was soll ich tun, um in das zu kommen, was du das Himmelreich nennst, in die Wahrheit der Wirklichkeit, in die Wahrheit des Seins?‘. Und Jesus sieht ihn an und sagt zu ihm: ‚Befolge die Gebote‘.‚Aber die habe ich immer befolgt‘. – Und Jesus blickt ihn an und liebt ihn –: ‚Nur eines fehlt Dir noch: ‚folge mir radikal nach‘. Es ist ein Arbeitsprojekt: die Unentgeltlichkeit, von der er umhüllt war, wird zu einer Arbeit […]; der Wert des Lebens, meines Lebens, ist Dein Werk, das ist eine Arbeit. Arbeit nennt man die Beziehung zwischen der Freiheit und der Möglichkeit, die der Schöpfer aufstrahlen lässt“12.
Wo aber kann man einen solchen Glauben lernen? Die Männer und Frauen unserer Zeit müssen dort, wo sie sich befinden, wo sie lieben und arbeiten, kurzum: in ihrem reellen Leben, die konkrete Begegnung mit christlichen Gemeinschaften machen. Gemeinschaften, in denen die Erfahrung gemacht werden kann, dieses Geschenk (die Gnade) zu wollen, das das Verlangen stillt. Gemeinschaften, die der verloren gegangenen und unterdrückten Freiheit des postmodernen Menschen den Vorteil nahelegen, alle christlichen Geheimnisse in allen Konsequenzen des täglichen und sozialen Lebens zu leben. Gemeinschaften, in denen das lebendige und persönliche Geschenk des Gekreuzigten und Auferstandenen (Gnade) – wie von Balthasar sagte – wie eine fruchtbare Wunde ist, die heilen zu können sich kein menschliches Ansinnen anmaßen kann.
Christliche Gemeinschaften aus Männern und Frauen am Arbeiten, wie Giussani zu sagen pflegte. Die die Unentgeltlichkeit, von der sie überrascht werden, erleben wollen. Gemeinschaften, wo die einzelne Person in aller Freiheit erleben kann, wie sich der Wille sehr viel mehr in der Annahme des Geschenks erfüllt, als in dem Anspruch, die Macht zu haben, von sich aus glücklich zu werden.


Anmerkungen
1 Benedikt XVI., Predigt bei der heiligen Messe in den Gärten des „Almo Collegio Borromeo“, Pavia, 22. April 2007.
2 G. Tantardini, Il cuore e la grazia in sant’Agostino. Distinzione e corrispondenza, Città Nuova, Rom 2006, SS. 343-344.
3 Vgl. D. Gentili, Einführung zu Dialoghi II. Opere di Sant’Agostino III/2, Città Nuova, Rom 1976, SS. 137-151.
4 Vgl. Epistolae 31, 4.7.
5 G. Madec, Saint Augustin et la philosophie. Notes critiques, Paris 1996, S. 61.
6 G. Tantardini, op. cit., S. 47.
7 A. Trapè, Introduzione generale a sant’Agostino, Città Nuova, Rom 2006, SS. 112-113.
8 Ibid., S. 113.
9 Paradies V, 19-22.
10 Konzil von Trient, Dekret De iustificatione (13. Januar 1547), Kan. 4: „Wer sagt, der von Gott bewegte und erweckte freie Wille des Menschen wirke durch seine Zustimmung zu der Erweckung mit dem Ruf Gottes nichts dazu mit, sich auf den Empfang der Rechtfertigungsgnade zuzurüsten und vorzubereiten, und er könne nicht widersprechen, wenn er wollte, sondern tue wie etwas Lebloses überhaupt nichts und verhalte sich rein passiv: der sei mit dem Anathema belegt.“
11 G. Tantardini, op. cit., S. 208.
12 L. Giussani, Affezione e dimora, Bur, Mailand 2001, S. 272.


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