EDITORIAL
Aus Nr. 08 - 2008

Laizität


Ich denke oft an meine Kindheit zurück, besonders an die Spaziergänge mit meiner Tante Mariannina, die uns in ihrer Wohnung in der Via dei Prefetti (wo ich geboren wurde) aufgenommen hatte. Es war ein tägliches „Eintauchen“ in die persönlichen Erinnerungen dieser Tante, die als 16-Jährige die große Wende vom 20. September 1870 miterlebt hatte.


Giulio Andreotti


Die Bresche an der Porta Pia, Detail, 
Carlo Ademollo, Museo del Risorgimento, Mailand.

Die Bresche an der Porta Pia, Detail, Carlo Ademollo, Museo del Risorgimento, Mailand.

Es gibt einige häufig verwendete Wörter, die sehr unterschiedliche, ja manchmal sogar gegenteilige Bedeutungen haben. Ein solches Wort ist „Laizität“ (Vorsicht! Es ist etwas anderes als Laizismus).
In der Praxis geht die Forderung nach Laizität derzeit mit einer kritischen Haltung denen gegenüber einher, die Verhalten und Ziele mit ihrem religiösen Glauben rechtfertigen. Mit bemerkenswerter Nonchalance verweist man oft auf das Mittelalter. Bei den Untertanen des Kirchenstaats war eine gewisse Verwirrung vielleicht noch gerechtfertigt, da die Gewaltenteilung ja tatsächlich nicht immer ganz klar war. In manchen Straßen der römischen Altstadt kann man an den Hausmauern noch heute Tafeln mit Verordnungen gegen mögliche Umweltsünden sehen.
Interessant sind auch die Marmortäfelchen, die daran erinnern, dass der Tiber wenige Wochen nach der Einnahme Roms durch die Piemontesen über die Ufer getreten war. So mancher Nostalgiker schrieb darauf Schmähsprüche gegen jene, die den Papst „verjagt“ hatten. Um dem einen Riegel vorzuschieben, brachte man sie einfach ein paar Meter höher an, was letztendlich für noch mehr Verwirrung sorgte.
Ich denke oft an meine Kindheit zurück, besonders an die Spaziergänge mit meiner Tante Mariannina, die uns in ihrer Wohnung in der Via dei Prefetti (wo ich geboren wurde) aufgenommen hatte. Es war ein tägliches „Eintauchen“ in die persönlichen Erinnerungen dieser Tante, die als 16-Jährige die große Wende vom 20. September 1870 miterlebt hatte. Nicht ohne einen Anflug von Ironie erzählte sie mir, dass es so manchen – dereinst papstfeindlichen – Römer gab, der ihm dann, als es mit der weltlichen Macht vorbei war, sichtlich nachtrauerte.
Zu diesem Thema gäbe es – auf beiden Seiten – viel zu sagen. Meine Tante war eine unverbesserliche Papstanhängerin geblieben und vermisste sichtlich das Ritual der täglichen Nachmittagsspaziergänge in der Via Giulia, wo sie dem liebenswürdigen, großzügig Segen erteilenden Pius IX. immer die Hand küssen durfte. Die „Piemontesen“ (wie man die Italiener nannte) hatten ihrer Meinung nach alles verdorben.
Der hinter das Bronzetor [des Vatikanpalasts] verbannte Papst hatte abstrakter Weise vielleicht sogar eine größere Bedeutung erlangt, aber er war nicht länger jene nahe „Obrigkeit“, die jederman das Gefühl gab, tatsächlich zu regieren.
Bei einer Studientagung der Italienischen Katholischen Studentenverbindung im Jahr 1941 fragte jemand, ob der Status ante Porta Pia dem Leben nach dem Tod mehr hinderlich als förderlich gewesen sei. Ein Problem, das ich persönlich mir eigentlich nie gestellt habe. Als ich (1919) geboren wurde, war die Eingliederung Roms in das Königreich Italien schon fast ein halbes Jahrhundert her und immer weniger umstritten. Viele Jahre später sollte ein zukünftiger Papst – Kardinal Montini – bei einer Ansprache auf dem Kapitol unumwunden erklären, dass der Verlust der zivilen Sorgen ein Geschenk Gottes an seine Kirche gewesen sei. Ich kann mich diesbezüglich daran erinnern, dass manche diese moderne Haltung als wenig korrekt denen gegenüber empfanden, die die Porta Pia mit Waffengewalt verteidigt und dann das freiwillige Exil der Unterwerfung unter die Feinde des Papstes vorgezogen hatten.
Zu diesem Thema fällt mir ein Ausspruch von Präsident De Gasperi ein, der Gott einmal dafür dankte, sich nicht mehr mit der Römischen Frage herumschlagen zu müssen: Immerhin hatte das katholischen Politikern, die hohe Ämter im italienischen Staat bekleiden, eine dramatische Entscheidung abgenommen. Ein militanter Katholik hätte Schwierigkeiten – zumindest psychologischer Art – damit gehabt, einen derartigen Übergang miterleben zu müssen.
Pius IX. auf einem Gemälde von Francesco Podesti, Vatikanische Museen.

Pius IX. auf einem Gemälde von Francesco Podesti, Vatikanische Museen.

Die jüngst erfolgte Reise des Papstes nach Frankreich gab Anlass zu spontanen Vergleichen. Es ist jedenfalls sicher, dass die Katholiken der anderen Länder den Papst als Oberhaupt der universalen Kirche sehen und sicher nicht als jemanden, der Verbindungen – aktiver oder passiver Art – zu ihren jeweiligen staatlichen Institutionen hat.
Und schließlich ist es kein Zufall, dass die Kirche eine angemessene Zeitspanne verstreichen ließ, bevor sie zur Eröffnung des Seligsprechungsprozesses von Pius IX. schritt.
Gerade Pius IX. kam nämlich die historische Rolle zu, den Übergang zu vollziehen, und seine Biographen stellten deutlich seine persönliche Distanzierung von den historischen Protesten gegen die Usurpatoren heraus – Proteste, die zu machen er in einer gewissen Weise protokollarisch nicht umhin kam.
Die Ansprachen, die Papst Benedikt XVI. in den vergangenen Tagen in Frankreich hielt, enthalten (und das musste so sein) wenige Verweise auf Episoden der Vergangenheit. Doch da ist bestimmt kein Anflug von nostalgischem Wehmut.
Wir müssen die alte Welt – mit all ihrem Licht und Schatten – hinter uns lassen und in jeder nur möglichen Weise am Aufbau der neuen Welt arbeiten.
Ohne wenig faire Unterscheidungen und Vergleiche anzustellen muß man dem derzeitigen Papst eine ganz besondere Prägnanz zugestehen, die – und das ist kein Zufall – mehr Eindruck auf die Nichtpraktizierenden zu machen scheint als auf die... ganz besonders Gläubigen.
Doch damit genug. Ich habe nämlich nie die erstaunliche Mahnung vergessen, die Don Primo Mazzolari in seinem Artikel „Auch ich habe den Papst gern“ aussprach. Einem Artikel, der nicht nur überraschend ehrlich ist, sondern auch frei von jeglicher Rhetorik.


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