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AKTUALITÄT
Aus Nr. 02/03 - 2010

„Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen schaffst du dir Lobgesang“

„Viele wollen, dass die Kirche einfach nur sie selbst bleibt“


„Die Kirche darf sich nicht scheuen, den anderen gegenüber in der Öffentlichkeit ein herzliches Gesicht zu zeigen. Ihr wahrer Schatz aber ist das Evangelium, das der Heilige Geist in uns liest. Ein Schatz des Gebets und der Demut.“ Interview mit Kardinal Carlo Maria Martini.


Interview mit Kardinal Carlo Maria Martini von Gianni Valente


„Zuerst lernen wir, danach lehren wir, dann gehen wir in uns und lernen zu schweigen. Und in der vierten Phase lernt der Mensch zu bitten.“ Dieses indische Sprichwort, das Kardinal Carlo Maria Martini in einem seiner letzten Bücher zitieren wollte, ist eine Art Beschreibung seines eigenen Lebensweges. Die Osterzeit verbringt er in der stillen, arbeitsamen Atmosphäre des Aloisianums, dem geschichtsträchtigen Haus der Jesuiten in Gallarate. Das Echo des Medienrummels, der sich wieder einmal um die Kirche entfacht hat, ist jedoch auch an jenen entlegenen Ort vorgedrungen. Jerusalem fehlt ihm sehr. Auf die Heilige Stadt angesprochen erklärt er, dass sie auf ihn eine fast schon „stärkende“ Wirkung hat, da sie „reich ist an Stätten und Anregungen, die zum Handeln drängen.“ „Gott sei Dank“, fügt er an, „habe ich mir auch hier den Wunsch bewahrt, mich umzusehen nach den Dingen, die mir in Jerusalem vermittelt worden sind.“

Benedikt XVI. mit Carlo Maria Martini. [© Osservatore Romano]

Benedikt XVI. mit Carlo Maria Martini. [© Osservatore Romano]

Was erflehen Sie in Ihren Bittgebeten?
CARLO MARIA MARTINI: Meine Bitten beziehen sich inzwischen auch auf Bedürfnisse physischer Art, es kann nämlich auch passieren, dass ich mich nachts schlecht fühle und Hilfe brauche. Das ist die erste Armut, die mich der Herr erleben lässt – aber so haben andere durch mich wieder die Gelegenheit, Werke der Nächstenliebe zu tun. Mein Gebet gilt der Kirche von Mailand; es ist ein Bittgebet für alle Situationen und Personen der Diözese, die ich der Gnade Gottes empfehle. Für die Kirche der Welt – aber das ist vielleicht zu viel verlangt – bitte ich, dass der Glaube und die Hoffnung wachsen und in der Liebe zum Ausdruck kommen mögen. Das sind die Tugenden, denen auch Benedikt XVI. seine Enzykliken gewidmet hat.
Sie haben von Ihrem Fürbittgebet gesprochen. In Ihrem unlängst erschienenen Buch Qualcosa di così personale [Etwas so Persönliches] haben Sie Meditationen über die verschiedenen Aspekte des Gebets gesammelt.
MARTINI: Es gibt viele Arten, zu beten: das Bittgebet, das um Wunder, Heilungen und Hilfe bittet; darum, dass Menschen, die einander hassten, bereit sind, einander zu vergeben; das Lobgebet, oder das Gebet derer, die sich abmühen, die schwach sind. Dann ist da noch das Gebet dessen, der der Vergebung bedarf, oder des Armen, der um sein täglich Brot bittet. Was aber das christliche Gebet vom – wenn auch noch so erhabenen – Gebet der anderen Religionen unterscheidet, ist der Umstand, dass das christliche Gebet unmittelbares Geschenk Gottes ist, der uns den Geist sendet. Wir können sagen: Herr, ich bin nicht fähig, sprich du in mir dieses Gebet, leg du es in mein Herz. Und der Höhepunkt des Gebetes ist das persönliche Weihegebet, wenn wir unser Leben in seine Hände legen.
In Ihrem Buch sprechen Sie auch über das Gebet des greisen Simeon, über das Bild jenes alten Mannes mit dem Jesuskind im Arm. Sie schreiben: „Simeon repräsentiert uns alle in dem Moment, in dem wir mit der Neuheit Gottes konfrontiert werden, die sich praktisch als Kind zeigt“ (Una parola per te. Pagine bibliche narrate ai più piccoli). Schließlich haben Sie ja auch Ihr letztes Buch für Kinder geschrieben, mit denen Sie über einige Bibelstellen diskutiert haben.
MARTINI: „Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen schaffst du dir Lobgesang“: diesen Psalm zitiert Jesus, als ihn die Hohepriester und die Ältesten kritisieren, die die ihm geltenden „Hosanna-Rufe“ der Kinder für unangemessen halten. Ich habe den Eindruck, dass heute viele Kinder alleingelassen werden. Die schlimmen Nachrichten, die derzeit durch die Presse gehen, zeigen uns, wie wehrlos sie sind, wie leicht man ihnen wehtun kann. Was ich an den Kindern aber so beeindruckend finde, ist gerade dieses grenzenlose Vertrauen zu ihren Eltern und zum Leben – Dinge, die auch für den Glauben wesentlich sind.
Manchmal versucht man, den Jugendlichen den Glauben jedoch nicht dadurch nahezubringen, dass man ihr Vertrauen gewinnt, sondern mittels Techniken und Strategien. Was wünschen Sie den Kindern und Jugendlichen?
MARTINI: Der Glaube wird den Menschen in dem Ambiente vermittelt, in dem sie sich bewegen. Dann aber hält er auf verschiedenen Wegen in ihr Leben Einzug: über den Kopf, das Herz, die Hände und die Füße; durch die Herzensbildung, die intellektuelle Bildung und durch das Gebet – oder aber durch die Arbeit derer, die ihren Nächsten helfen wollen. Das hängt davon ab, welcher Weg für einen jeden von uns der beste ist.
Das mit den Füßen habe ich nicht ganz verstanden…
MARTINI: Damit habe ich die Pfadfinder gemeint, die oft kilometerweite Fußmärsche zurücklegen.
In einem Ihrer Bücher, in dem Sie mit Kindern Bibelstellen diskutieren, schreiben Sie, dass ein Junge gesagt hat: „Ich kann mit dem Glauben nichts anfangen. Ich habe nichts dagegen, aber was kann mir die Kirche schon geben? […] Mir geht es gut, wonach sollte ich also suchen?“
MARTINI: Viele junge Menschen tragen die Hölle im Herzen, das braucht man nicht zu leugnen. Und doch sehe ich, dass es gerade für jene unter ihnen, die nichts von der Kirche wissen, am einfachsten ist, bei der Arbeit der Hände anzufangen: wenn sie sehen, wie die Werke der Nächstenliebe von Menschen getan werden, die ausgeglichen sind und Frieden im Herzen tragen, können sie es ihnen gleichtun.
Detail des Apsismosaiks in der Basilika des Ambrosius, Mailand.

Detail des Apsismosaiks in der Basilika des Ambrosius, Mailand.

Aber kann man diese distanzierte Haltung zum Glauben wirklich überwinden, wenn man den Weg eines schwierigen Lebens vorschlägt, das hohe Anforderungen an uns stellt?
MARTINI: Man darf von niemandem ein Opfer erwarten, wenn man nicht die Gewissheit geben kann, dass dieses Opfer auch wirklich lohnend ist. Womit man die anderen aber sehr wohl beeindrucken kann, ist die tätige Nächstenliebe. Und in ihr ist der Geist die erste Realität. Thomas von Aquin sagt, dass das Gesetz des Neuen Testaments der Heilige Geist ist, die anderen Gesetze sind zweitranging. Paulus betont, dass es für die Befolgung der ethischen Gebote nicht ausreicht, dass sich der Mensch bemüht, dass es nicht allein in seiner Macht liegt. Das vergißt man oft, auch in der Kirche, und dann versuchen wir, unsere Kraft und Stärke unter Beweis zu stellen. Vor allem die Liebe ist nur mit dem Wirken des Heiligen Geistes möglich. Die Gnade des Geistes macht alles leicht, was den Menschen schwierig, erstaunlich zu sein erscheint.
In diesen Tagen ist viel von Angriffen auf die Kirche Ist das Evangelium genug? Gerade Ihnen wirft man immer wieder vor, für eine Kirche einzutreten, die keine Dogmen und Strukturen hat. Eine Kirche der Demut und Barmherzigkeit, ohne Vorschriften.
MARTINI: Das, was uns von den vielen Religionen unterscheidet, die es auf der Welt gibt, sind Jesus und sein Weg, und nicht die Zugehörigkeit zu einer Organisation mit Regeln und Vorschriften. Aber im Glauben an Jesus hat es keinen Sinn, das Evangelium und die Dogmen, die Barmherzigkeit und die Gebote einander gegenüberzustellen: auch hierfür gilt das, was ich bereits über die Priorität des Heiligen Geistes gesagt habe. Alles fügt sich in die Einheit ein, in die Realität der Kirche, die einen inneren und einen äußeren Aspekt hat, und die daher auch Strukturen, Regeln, Organisationsinstrumente umfasst. Wichtig ist, dass auch diese Realitäten – soweit möglich – Ausdruck des inneren Lebens sind. Und dann muss man auch zwischen dem unterscheiden, was wichtig ist, und was nicht. Ich glaube, dass sich die Kirche bereits von vielen äußeren Dingen gereinigt hat, derer sie nicht bedurfte. Und wenn ich in den Zeitungen immer noch als „führender Progressist“ beschrieben werde, kann ich ehrlich gesagt nur darüber lachen.
Manche sind der Meinung, die Kirche sollte dieser Feindseligkeit durch eine stärkere Präsenz im öffentlichen Leben entgegentreten.
MARTINI: Die Kirche darf sich nicht scheuen, in der Öffentlichkeit den anderen gegenüber ein herzliches Gesicht zu zeigen. Ihr wahrer Schatz aber ist das Evangelium, das der Heilige Geist in uns liest. Ein Schatz des Gebets und der Demut. Und wie man auf der Welt Zeugnis ablegt für das Evangelium hat uns Jesus in der Bergpredigt gesagt, die ich bereits angesprochen habe. Was wir brauchen, sind keine „konfessionellen“ Vorschläge. Sie haben auch eine laizistische Konnotation und sprechen alle Menschen an. Sie lassen nämlich eine wünschenswerte Art und Weise erkennen, Mensch zu sein – eine Art Mensch, die jeder um sich haben will.
Die Kirche wird derzeit vom Skandal um pädophile Priester erschüttert. Wie beurteilen Sie diese Situation? Was kann man der Kirche unter diesen Umständen raten?
MARTINI: All das kann uns helfen, wieder demütiger zu werden. Man sollte sich aber auch auf die Worte Jesu besinnen: es hat schlimme Verfehlungen gegeben, und wer für die Kinder ein Ärgernis wird, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde. Das sollte aber nicht von der Tatsache ablenken, dass wir es hier mit einer gewissen Scheinheiligkeit zu tun haben. Wir leben in einer Zeit der absoluten sexuellen Freiheit, in der Werbung werden auch für Kinder sexuelle Motive benutzt.
Man hat sogar versucht, den Papst persönlich anzugreifen. Wie kann man ihn dagegen schützen?
MARTINI: Der Papst muss nicht verteidigt werden, weil seine Untadeligkeit allen klar ist; weil alle wissen, welches Pflichtbewusstsein er hat und wie groß sein Wunsch ist, Gutes zu tun. Die derzeit gegen ihn erhobenen Vorwürfe sind niederträchtig und falsch. Es wäre schön, wenn man sehen könnte, dass sich alle Menschen guten Willens auf seine Seite stellen und ihn bei seiner schwierigen Aufgabe unterstützen.
Kardinal Carlo Maria Martini und Kardinal Dionigi Tettamanzi ziehen in  Prozession in die Katharinenkirche ein (Pilgerfahrt ins Heilige Land, Betlehem, 15. März 2007). [© ITL/Mariga/Diocesi di Milano]

Kardinal Carlo Maria Martini und Kardinal Dionigi Tettamanzi ziehen in Prozession in die Katharinenkirche ein (Pilgerfahrt ins Heilige Land, Betlehem, 15. März 2007). [© ITL/Mariga/Diocesi di Milano]

In seinem Brief an die Katholiken Irlands hat Benedikt XVI. alle zum Fasten gemahnt, zum Gebet, zum Lesen der Heiligen Schrift und zum Sakrament der Beichte, um „einen Weg der Heilung, der Erneuerung und der Wiedergutmachung vorzuschlagen.“
MARTINI: Diese Dinge gelten nicht nur für die betroffenen Gemeinschaften, sondern für die ganze Kirche. Diese Mißbrauchsfälle sind das Ergebnis einer Perversion; die Verantwortlichen handeln auf einen inneren Zwang hin, weshalb hier auch unbedingt ein Psychotherapeut zu Rate gezogen werden muss. Man muss verstehen, woher diese Veranlagung kommt und wie man sie unter Kontrolle halten kann.
Sie werden oft als unerbittlicher Kritiker der Unzulänglichkeiten und Grenzen der Kirche beschrieben. Erkennen Sie sich darin wieder?
MARTINI: Die Kirche ist, in ihrer Globalität betrachtet, voller Heiligkeit und innerer Kraft. Die Presse hat sich hier auf vereinzelte Episoden konzentriert; auf der ganzen Welt aber gibt es viele loyale, gute und fromme Menschen, die in aller Stille wirken. Und ich bin Gott sehr dankbar dafür, dass mir gerade in unserer Zeit zu leben bestimmt war. Ich hätte nie zu Zeiten leben wollen wie denen der Reformation Luthers, des morgendländischen Schismas, oder zur Zeit des abendländischen Schismas, als es zwei Päpste gegeben hat, einen in Rom und einen in Avignon. Die Kirche zeigt heute ein schönes Gesicht. Es gibt zwar Grenzen und unvermeidliche Fehler, aber auch die gehören zum geheimnisvollen Plan des göttlichen Willens.
In Ihnen überwiegt also nicht das Gefühl der Bitterkeit angesichts der Schwächen und des Karrierestrebens vieler?
MARTINI: Ich kann Gott gar nicht genug dafür danken, dass er mich mein Leben lang begleitete, mir so viele Menschen auf diesem Weg zur Seite gestellt hat. Ja, ich würde sogar sagen, dass er mich auch verwöhnt hat. Mein ganzes Leben lang hat er mir gezeigt, dass Gott gut ist und den Weg ebnet für einen jeden von uns. Mir ist viel gegeben worden, aber auch ich habe gegeben, was ich geben konnte. Und ich bin wirklich froh, dereinst als zufriedener Mann vor ihn treten zu können.


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