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REPORTAGE AUS DEM LIBANON
Aus Nr. 06/07 - 2010

Zwischen den Ängsten der Vergangenheit und der Suche nach neuen Wegen des Zusammenlebens


Die Kriege sind eine Vergangenheit, die einfach nicht verschwinden will, der Frieden ist noch immer prekär. Christen und Muslime müssen neue Gleichgewichte finden, um einen multikonfessionellen Staat zu stabilisieren, der großes Gewicht in Nahost hat.


von Davide Malacaria und Lorenzo Biondi


Beirut. [© Getty Images]

Beirut. [© Getty Images]

Beirut zeigt sich von seiner imposantesten Seite: hohe Wolkenkratzer, ein ohrenbetäubendes Verkehrschaos in einem Meer von Leuchtreklamen – nicht anders also als jede beliebige Metropole in der westlichen Welt. Der Krieg ist nur noch eine ferne Erinnerung. Wenn manchmal auch noch das ein oder andere Mahnmal an die Vergangenheit auftaucht: Häuserruinen, an denen noch deutlich die Einschusslöcher der Maschinengewehrsalven zu sehen sind, ganze Stadtviertel, die in Schutt und Asche gelegt wurden und nun vom Unkraut überwuchert sind. Gewiss, die Lage ist immer noch gespannt, und davon zeugen die vielen Militärs und Panzer, die aus dem Stadtbild nicht wegzudenken sind.
Die jüngste Geschichte des Libanon ist mehr als tragisch. 1975 begann der lange, blutige Bürgerkrieg, dem mit dem Abkommen von Taif des Jahres 1989 ein Ende gesetzt wurde. Jahre, in denen sich Israel und die arabischen Staaten, vor allem das nahegelegene Syrien, in diesem Teil der Welt bekämpften. Und Zeiten, in denen die Demarkationslinie, die den Unterschied zwischen Freund und Feind bezeichnete, auch zwischen den Religionen gezogen wurde und einen tiefen Abgrund zwischen den Gemeinschaften schuf. Dann, nachdem endlich Ruhe eingekehrt zu sein schien, stürzte das Land erneut in den Abgrund: im Februar 2005 wurde Ministerpräsident Rafiq Hariri ermordet. Die Menschen strömten in Scharen auf die Beiruter Straßen und forderten den Rückzug der syrischen Truppen – was Hisbollah mit einer Gegendemonstration beantwortete. Die syrischen Militärs mussten letztendlich klein beigeben und es kam zur Schaffung eines Internationalen Gerichtshofs, der sich mit Ermittlungen im Fall Hariri befassen sollte (die Schuldigen sind übrigens immer noch nicht gefasst). Inzwischen geht das Morden weiter. Im Juni 2005 wurde der Journalist und Intellektuelle Samir Kassir ermordet, einer der Gründer der Bewegung der demokratischen Linken; im Dezember desselben Jahres der Journalist und Parlamentarier Gebran Tueni; im November 2006 Industrieminister Pierre Gemayel aus den Reihen der Falange-Partei. Eine Eskalation der Gewalt, deren Urheber nie gefasst wurden. Die Mörder sind bis heute ungestraft davongekommen. Das traumatischste Erlebnis der vergangenen Jahre war aber zweifellos der Krieg gegen Israel im Sommer 2006 als Vergeltungsaktion der Hisbollah gegen die Tsahal-Militärs.
Derzeit bemüht sich das Land der Zedern jedoch verzweifelt darum, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, auf der Suche nach einer Stabilität, die in der Lage ist, die 18 Religionsgemeinschaften zusammenzuhalten, die hier seit Jahrhunderten Seite an Seite leben. In einer Region wie dem Nahen Osten, wo die Stabilität seit Zeiten mehr als provisorisch ist.

Ein Land mit multikonfessioneller Berufung
„Der Krieg ist zu Ende, die Teilungen aber bleiben“, erklärt uns Pater Khalil Alwan, Rektor des Heiligtums Unsere Liebe Frau vom Libanon in Harissa, dem bekanntesten im Land. „Beirut ist noch immer in muslimische und christliche Viertel getrennt. Zwar gibt es keine mit Stacheldraht gezogenen Grenzen mehr, wohl aber solche psychologischer Art. Es ist schwierig, Muslime in christlichen Vierteln zu finden, und umgekehrt, auch wenn sich die Dinge in der letzten Zeit geändert haben… Aber es ist noch früh.“ Und doch ist hier bei diesem auf einem Hügel über der Hauptstadt gelegenen Heiligtum diese unwahrscheinliche Begegnung etwas ganz Alltägliches. In der Pilgergruppe sind Mädchen, die einen Schleier auf dem Kopf tragen und sich der Muttergottesstatue nähern, die Hand auf den Sockel legen und den Kopf neigen. Und ein Gebet sprechen. Zu diesem Heiligtum kommen auch Muslime, selbst aus dem fernen Iran. „Normalerweise kommen die islamischen Frauen hierher, um die Gnade zu erbitten, dass ihnen ein Kind beschert werde, aber natürlich werden von der Muttergottes alle möglichen Dinge erbeten“, erklärt uns der Rektor, der der Kongregation der libanesischen maronitischen Missionaren angehört. „Für die Muslime ist Maria nur die Mutter des Propheten Jesus, den sie nicht als Gott anerkennen, obwohl sie ihn sehr verehren. In den muslimischen Vierteln Beiruts, wo es Kirchen gibt, die der Jungfrau Maria geweiht sind, kann man oft betende Muslime antreffen“. Pater Chamoun Ihab, der derselben Kongregation angehört wie der Rektor, kann das nur bestätigen. Er erinnert an die Zeit des Krieges, als er im Süden als Pfarrer tätig war, wo die Mehrheit schiitische Muslime sind. Damals konnte man Muslime in der Kirche antreffen, auch bei der Messe. Und Frauen mit Schleier, die sich vor der Muttergottesstatue versammelten...
Diese Jahr wurde Mariä Verkündigung von der Regierung zum nationalen Feiertag erklärt, was von Christen und Muslimen gleichermaßen begrüßt wurde. Der Zweck war die Begegnung zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften. „Diese politische Entscheidung wurde sehr begrüßt“, weiß Don Antoine Daou zu berichten, Sekretär der Kommission der libanesischen Bischofskonferenz für den Dialog mit dem Islam, „aber natürlich wird der Dialog zwischen den Religionen auf solideren Grundlagen aufgebaut, im Respekt vor den verschiedenen Identitäten: den Muslimen die Gestalt der Maria aus dem Evangelium nahezubringen, die ganz anders ist als die des Koran“. Don Antoine berichtet von seinen fruchtbaren Beziehungen zu den Muslimen und dass er in der Vergangenheit als Delegierter des maronitischen Patriarchen von Antiochia bei den Gedenkfeierlichkeiten des Ayatollah Khomeini anwesend war. „Im Bereich der interreligiösen Beziehungen werden oft Schlagwörter benutzt wie „Achtung vor den anderen“, „Toleranz“... Das Evangelium will etwas ganz anderes von uns, nämlich dass wir unseren Nächsten lieben, ganz gleich, ob er Christ oder Muslim ist. Der Libanon kann auf eine Jahrhundertealte Geschichte des Zusammenlebens zwischen Christen und Muslimen zurückblicken. Für den Bau einer ausgewogenen Gesellschaft muss man eigentlich nur zu eben dieser Vergangenheit friedlichen Gemeinschaftslebens zurückkehren“. In diesen Jahrhunderten des Zusammenlebens konnte ein Staat geschaffen werden, der weder theokratisch noch laizistisch ist. „Die libanesische „Formel“ ist die Beteiligung von Christen und Muslimen im Parlament, der Regierung und anderen Institutionen“, erklärt Béchara Raï, Erzbischof von Jbeil, dem antiken Byblos. „Die Probleme des Zusammenlebens rühren von weit verbreiteten, widersprüchlichen Tendenzen her: die Muslime tendieren zur islamischen Theokratie, die Christen zur westlichen Laizität. Die Eingriffe von außen machen sich gerade das zunutze“. Monsignor Raï ist der Vatikan gut vertraut, schließlich ist er Mitglied des Päpstlichen Rats der Sozialwissenschaften und der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs. Wir treffen ihn in Beirut, wo er sich mit seinen Gläubigen trifft, um mit ihnen ihre Probleme zu besprechen. Einer von ihnen hat einen muslimischen Rosenkranz in der Hand, den er während der Wartezeit durch die Finger gleiten lässt. „Die orientalischen Kirchen fungieren als Brücke zwischen Christentum und Islam“, meint er. „Ein Dialog des Westens mit dem Islam kann nicht von den Christen des Ostens absehen. Diese werden den Menschen des Westens sagen, dass der Islam als solcher keine Quelle der Gewalt ist; den Muslimen dagegen werden sie sagen, dass die Christen des Westens keine Kriegshetzer sind und keinen Hass schüren wollen. Die Christen des Orients würden den Menschen im Westen gern zu verstehen geben, dass der Islam nicht nur eine Religion ist, sondern ein politisches theokratisches Regime, das Religion und Staat vereint. Man kann auf der Grundlage der westlichen laizistischen Mentalität nicht mit den Muslimen sprechen“. Der Erzbischof erklärt auch, dass die Instabilität in Nahost, die damit einhergehende Wirtschaftskrise und der islamische Fundamentalismus der Grund für die konstante Abwanderung der Christen aus dem Libanon sind. Ein weit verbreitetes Phänomen, das eine Sorge zum Ausdruck bringt: die Furcht vor einer nicht wieder gut zu machenden Abwanderungswelle, die die Christen zu einer unbedeutenden Minderheit zusammenschmelzen lässt. Und da ist auch die Angst, früher oder später die Verwandlung des Libanon in einen islamischen Staat miterleben zu müssen. Diese Befürchtungen haben ihre Ursache, ebenso wie das, was mit den Palästinensern passiert, auch in dem unerbittlichen Gesetz der Demographie, laut dem die Muslime viel „vermehrungsfreudiger“ sind als die Christen.
Das Heiligtum Unserer Lieben Frau des Libanon in Harissa. [© Lorenzo Biondi]

Das Heiligtum Unserer Lieben Frau des Libanon in Harissa. [© Lorenzo Biondi]

Im Süden, wo die Christen eindeutig in der Minderheit sind, macht sich dieses Problem am meisten bemerkbar. Hier, wo die Schiiten die Mehrheit sind, sind die Straßen mit Plakaten tapeziert, die Hisbollah als Helden feiern. Vor allem Hisbollah-Führer Nasrallah. Eine bunte Festdekoration in gelb und grün, die alle daran erinnern soll, dass hier, vor den ungläubigen Augen der internationalen Gemeinschaft, ein Heer von Milizen dem Vorstoß einer der mächtigsten Armeen der Welt – der israelischen – Einhalt geboten hat. Ein Teil der Welt betrachtet sie als Terroristen, andere als Widerstandskämpfer. Hier, im Libanon, ist Hisbollah lediglich eine Partei wie alle anderen, auch wenn manche ihre Entwaffnung verlangen.
Elias Nassar, maronitischer Erzbischof von Sidon, empfängt uns an einem besonders heißen Morgen. Er erklärt uns, dass die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen heute entspannt sind und dass er selbst Tags zuvor zu einem Treffen mit einigen hiesigen Muftis eingeladen worden war. Trotzdem stimmt ihn der Exodus der Christen traurig. „Die Wahrheit ist, dass es mehr Solidarität unter Muslimen gibt als unter Christen“, erklärt er, während man aus der nahegelegenen Moschee die Stimme des Muezzin vernehmen kann. „Die arabischen Länder schicken Tausende von Dollars, die dann Werken zufließen, die den Muslimen Arbeit geben. Für die Christen kommt leider sehr wenig, und zwar weder von den anderen Regionen des Libanon, noch von den Regierungen und von den Kirchen des Westens. Die Christen hier finden keine Arbeit, und die Ortskirche hat nicht die Fonds, um ihnen zu helfen. So sind sie gezwungen, die Region zu verlassen. 1985 lebten in Sidon 200 katholische Familien, heute sind es 120. Die Wirtschaftshilfen sollen dabei helfen, die Gemeinschaften untereinander zu verbinden“.
In Tiro, der anderen Diözese des Südens, ist die Situation ähnlich. „Seit 400 Jahren leben Christen und Muslime hier Seite an Seite. Man feiert zusammen Hochzeiten, geht gemeinsam auf Beerdigungen: ganz normaler Alltag eben“, erklärt Monsignor Chucrallah-Nabil Hage, der maronitische Erzbischof von Tiro, einer Region, in der sich lange Zeiten des Friedens mit blutigen Auseinandersetzungen abwechselten, die religiöse Ursachen hatten. „Leider hat es seit 1948 im Süden des Landes ständig Kriege gegeben. Und damals haben die Leute die Region sowohl aus wirtschaftlichen Gründen als auch denen der Sicherheit verlassen. Aber während die Muslime am Ende der Konflikte in ihre Dörfer zurückgekehrt sind, zogen es die Christen vor, wegzugehen und ihren Kindern anderswo eine Zukunft zu bieten“. So kommt es also, dass die Ortskirche auf einem Gebiet arbeitet, in dem die überwältigende Mehrheit Muslime sind. Eine Tragödie? Vielleicht. Vielleicht aber auch eine Gelegenheit für eine Annäherung... Der Monsignor listet Zahlen auf, wie die der Cadmus-Schule, die mit ihren 800 Studenten – fast alle Muslime – der Stolz der Erzdiözese ist. Auch andere Schulen dieser Art ziehen die Muslime an, weil sie ein hohes Maß an Professionalität zu bieten haben. „Aber jetzt öffnen auch die Muslime gute Schulen“, meint er abschließend. Auch in anderen Diözesen des Landes, besonders in jenen, die sich in Zonen mit muslimischer Mehrheit befinden, ist die Anwesenheit muslimischer Studenten in den christlichen Schulen etwas ganz Gewöhnliches, fügt der Monsignor an. Wir fragen ihn nach dem letzten Krieg – dem gegen Israel –, der verheerende Folgen für das Land der Zedern hatte. Der Erzbischof berichtet, dass damals, unter diesen dramatischen Umständen, etwas Unerwartetes passiert ist: es kam zum Erblühen einer unerwarteten Welle der Nächstenliebe. Auf der Flucht vor den Bomben fanden die Muslime bei den christlichen Gemeinden Unterschlupf. Die Häuser der Gläubigen und die christlichen Institutionen wie Schulen, Klöster – ja sogar das katholische und griechisch-katholische Erzbischofssitz von Tiro, nahmen bereitwillig die Flüchtlingsströme auf. „Nichts Außergewöhnliches“, beeilt sich der Erzbischof zu sagen: „Unsere Nachbarn befanden sich in Schwierigkeiten, es war nur normal, ihnen zu helfen. Das ist kein besonderes Verdienst“.
Das, was in Tiro passiert ist, ist auch in Sidon geschehen. Und in Beirut. Und in Tripolis. In jedem Dorf des Libanon. Wie auch Pater Marcel Abi Khalil erzählt, der in der Vergangenheit Generaloberer des Ordens der Mariamitischen Maroniten war. Er lebt in Deir el Qamar. Das Dorf ist ein christliches Enklave der von den Drusen bewohnten Region Chouf, einer Sekte mit esoterischen Zügen. Pater Marcel zeigt uns den großen Palazzo gleich neben seinem Wohnhaus, bei dem die Muslime 1860 Hunderte von Christen umbrachten. Geschichten, die längst der Vergangenheit angehören, wie er uns erklärt. Er zeigt uns ein großes Kruzifix, das der sel. Pater Yacoub auf dem Berg über dem Dorf errichtet hat. Die das Kreuz umgebenden Kreuzwegstationen hat ein übereifriger Soldat (hier sind sowohl Syrer als auch Israelis vorbeigekommen) umgestoßen. Sie haben sogar auf die Jesusfigur geschossen (die ja ohnehin schon am Kreuz hing...), so dass man dann die Einschusslöcher der Kugeln zustopfen musste. Aber das gehört der Vergangenheit an, wie Pater Marcel meint: „Inzwischen hat sich die Lage beruhigt.“

Die maronitische Kathedrale Sankt Georg und die Moschee Jami al-Amin, Beirut. [© Lorenzo Biondi]

Die maronitische Kathedrale Sankt Georg und die Moschee Jami al-Amin, Beirut. [© Lorenzo Biondi]

Caritas unter dem Bombenhagel
Während des letzten Krieges war die libanesische Caritas die erste NGO, die der islamischen Bevölkerung zu Hilfe kam. Don Simon Faddoul, ihr Präsident, erzählt uns, dass die Caritas in jenen schwierigen Tagen aus arabischen Ländern Finanzhilfen erhielt. „So etwas war zum ersten Mal passiert...“. Er erklärt uns, dass die Caritas für die gesamte Bevölkerung tätig ist, unabhängig von der jeweiligen Religionszugehörigkeit der Menschen, und dass sie mit einem NGO-Verein zusammenarbeitet, in dem muslimische und christliche Hilfsorganisationen vertreten sind. Er berichtet auch von Aufnahmeprogrammen, die für die irakischen und palästinensischen Flüchtlinge tätig sind, die seit Jahrzehnten in den Flüchtlingslagern an den Grenzen zum Libanon leben, und denen immer noch das Recht verwehrt ist, Häuser und Grundstücke zu kaufen oder verkaufen. „Durch die sozialen Aktivitäten werden Barrieren abgebaut und Brücken geschlagen“, meint Don Simon. „Im Alltag sind wir alle Libanesen. Die Politik ist es, die Teilung schafft“. sam haben: alle wollen zum Wohlergehen der Nation beitragen. Die Unterschiede dürfen kein Grund für Feindseligkeit sein: sie betreffen den Glauben, nicht die menschlichen Beziehungen. Seit ich zum Mufti gewählt wurde, arbeite ich daran, das zu fördern. Wir sind nicht die Kopie des anderen, wir sind komplementär: Christen, Muslime und Juden“. Während der Mufti spricht, sucht er den Blick des Erzbischofs (der so freundlich ist, uns das Arabische zu übersetzen), der ihm zustimmt. In dieser Stadt leben – wie uns der Erzbischof anvertraut – nur noch 15.000 Christen. „Aber die Situation wird wieder besser“, meint er: „Die Muslime wollen, dass die Christen wieder in die Stadt zurückkommen, auch schon wegen der Ankurbelung der Wirtschaft und des Handels. Ohne die Christen kann die Stadt nicht leben. Noch bis vor Kurzem waren auch im Stadtrat Christen vertreten. Auf unseren Wunsch sind nun drei der 24 Räte Christen. Das Zusammenleben hat hier Tradition. Die Extremisten kommen meist aus den ärmeren Bevölkerungsschichten und werden von außen aufgehetzt“. An dieser Stelle zitiert der Mufti den ehemaligen Ministerpräsidenten Elias Hrawi, der die Schuld der Konflikte unter den Libanesen damals dem Krieg zuschob, den andere auf libanesischem Boden führten. „Auch in unserem Land gibt es – wie überall auf der Welt – den ein oder anderen Fanatiker“, meint der Mufti, „aber die Kur muss der Krankheit angemessen sein. Der Extremismus ist die Reaktion auf ein Übel, das manchmal Frucht einer falschen Auffassung von Religion ist. Armut, Ungerechtigkeit und Instabilität sind ein fruchtbarer Boden für den Extremismus. Jedes Mal, wenn sich die politische oder soziale Situation stabilisiert, wird der Fundamentalismus geschwächt. Ich möchte daher auch folgenden Appell an die Welt richten: helft uns, eine Kur gegen Armut und Instabilität zu finden, damit wir den Fundamentalismus besiegen können“.
„Es gibt nicht nur den muslimischen Extremismus“, gibt Monsignor Georges Bou-Jaoudé zu bedenken: „Dieser ist sicher auffälliger, weil die muslimischen Extremisten zahlreicher sind. In Wahrheit gibt es auf der Welt viele Fundamentalisten: man denke nur an die amerikanische Politik zur Zeit der Regierung Bush... Ein Extremismus löst den nächsten aus...“. Aus Gründen der Diplomatie treten er und der Mufti bei öffentlichen Anlässen gern gemeinsam auf. Und das hat auch tatsächlich bewirkt, dass manche Gefahr vermieden werden konnte. Wie damals, als in einer christlichen Buchhandlung in Tripolis einige Koranexemplare entdeckt wurden. Die sakrilegische Handlung eine Christen? Wenn es so gewesen wäre, hätte das leicht in einer Bücherverbrennung enden können... „In Wahrheit steckte ein Muslim dahinter, der gerade das bezwecken wollte...“, berichten unsere Gesprächspartner.
„Die Situation hier ist nicht unproblematisch, aber Probleme gibt es schließlich überall auf der Welt“, gibt der griechisch-orthodoxe Erzbischof von Tripolis, Ephraim Kyriakos, zu bedenken. „Trotz allem sind wir immer noch hier... mit Gottes Hilfe“. Und wichtig ist hier dieser am Schluss ausgesprochene Dank. Die Fanatiker im Libanon sind tatsächlich in der Minderheit, hier herrscht Freiheit: das Problem sind die Einflüsse von außen... „Sie lassen uns nicht in Frieden“, seufzt er hinter seinem dichten Bart, „aber wir sind immer noch hier“; und dann, nach einer Pause, fährt er fort: „Wir beten darum, dass das auch weiter so sein wird“. Das Problem ist, dass der libanesische Staat kein weltlicher Staat ist... Die Beziehungen zu den Muslimen seiner Diözese sind gut, es gibt viele gemeinsame soziale Initiativen, beispielsweise die Hilfsaktion für Behinderte. Wir fragen ihn, ob er sich an irgendeine besondere Episode erinnert. „ Eine?“, ruft er aus und lacht… „Ja, gewiss... als ich zum Bischof dieser Stadt ernannt worden bin, wurde ich von den Muslimen herzlicher empfangen als von den Christen...“.

Kana. Die Gedenkstätte, die an den wohl tragischsten Moment des Krieges von 2006 erinnert, als ein Dorf im Süden des Libanon bombardiert wurde, was 29 Menschen das Leben kostete, fast alle Kinder. <BR>[© Lorenzo Biondi]

Kana. Die Gedenkstätte, die an den wohl tragischsten Moment des Krieges von 2006 erinnert, als ein Dorf im Süden des Libanon bombardiert wurde, was 29 Menschen das Leben kostete, fast alle Kinder.
[© Lorenzo Biondi]

Der „umgelenkte“ Islam des 11. September
In Beirut begegnen wir Professor Mohammed Sammak, Generalsekretär des Nationalkomitees für den islamisch-christlichen Dialog: „Die Regierung Bush und der islamische Fundamentalismus haben sich gegenseitig gestützt – dank einer Kultur, die den anderen ablehnt. Das Ergebnis ist, dass der gemäßigte Islam von diesen beiden Polen erdrückt wurde. Auch die Medien haben diesen Extremismus gefördert: Die Attentate machten immer Schlagzeilen, der großen gemäßigten Mehrheit dagegen wurde nicht einmal eine Zeile gewidmet. Der Islam wurde von den Massenmedien und einigen westlichen Politikern „umgelenkt“; unsere Religion ist das Opfer, nicht die Quelle des Terrorismus, auch wenn die Terroristen sagen, dass sie für den Islam kämpfen. Nach dem 11. September hat der Westen eine Strafaktion gegen die Muslime eingeleitet, und das ist eine gefährliche Neuheit für unsere Kultur, die auf die individuelle Verantwortung des Verbrechers gegründet ist“. Die Analysen des Professors sind klar und präzise – besonders dann, als er erklärt, dass schon das Wort „Fundamentalismus“ im Grunde nichts mit der islamischen Tradition gemeinsam hat, sondern aus Amerika kommt, genau genommen von den evangelischen Sekten in Amerika herrührt. „Im Islam gibt es den Jihad“, erklärt er, „und das ist in Wahrheit ein Verteidigungskrieg, der leider von einigen Muslimen fehlinterpretiert und falsch verstanden wurde. Und das war absichtlich geschehen, einer bestimmten politischen Linie in den USA entsprechend...“.
Sammak hat 1995 an der Bischofssynode für den Libanon teilgenommen. Er wurde damals darum gebeten, den Entwurf für das Schlussdokument über die Beziehung zwischen Muslimen und Christen fertigzustellen. „Zum ersten Mal hat damit ein Muslim ein Dokument verfasst, das als offizielles Dokument der Kirche vorgeschlagen wurde...“, erinnert er sich. Seither wendet sich die christliche Gemeinde des Libanon oft an ihn. Er erklärt uns, dass die Muslime, seit der Vorfall von Regensburg ausgeräumt wurde, ein sehr positives Bild von Benedikt XVI. haben. Und das nicht zuletzt wegen der vielen wohlwollenden Gesten seinerseits. Aber auch wegen des denkwürdigen Besuches des saudischen Königs im Vatikan im Jahr 2007. „Wir Muslime müssen uns der Christen des Orients annehmen, sind für sie verantwortlich“, meint er, und vertraut somit praktisch den Muslimen den Weiterbestand der christlichen Präsenz auf arabischem Boden an. Ein wahrlich überraschender Satz, der zeigt, dass die Wege des Herrn wirklich unergründlich sind. Aber sind solche Worte wie die Sammaks wirklich ausreichend, um die Furcht vor einer allmählichen Islamisierung des Landes, die sich in der libanesischen Kirche breitgemacht hat, zu beseitigen? Dieses Thema ist für die Christenheit auf islamischem Boden (und nicht nur die) entscheidend. Ob es nämlich in erster Linie ein Problem der Zahlen ist, und damit eine Art Kräftemessen, oder ob es dagegen möglich ist, einfach nur die Tatsache zu akzeptieren, eine schwindend kleine Herde zu sein, die sich – wie der maronitische Erzbischof von Beirut, Monsignor Paul Youssef Matar meint, „Sauerteig“ in einer islamischen Gesellschaft sein will. Dieses Problem wird die libanesische Kirche mit der Zeit lösen müssen. Im Moment sind die vom Krieg geschlagenen Wunden noch zu frisch.
In der Zwischenzeit scheint die Politik allerdings einen Weg des Kompromisses gefunden zu haben; immerhin stehen in der Koalition, die bei den jüngsten Wahlen gewonnen hat, Muslime, Sunniten und Christen Seite an Seite. Noch bedeutungsvoller ist allerdings die Koalition zwischen der größten christlichen Partei im Land, die von General Michel Aoun geleitet wird, und Hisbollah. Ein wirklich überraschendes Bündnis, das gerade in jenen Jahren entstanden ist, als vom Zusammenprall der Kulturen die Rede war. Aber vielleicht spiegeln diese merkwürdigen Zusammenschlüsse, die andernorts so unwahrscheinlich wären, auch nur die Normalität eines Landes wieder, das in der Multikonfessionalität lebt und gedeiht. Vielleicht – wie uns von vielen gesagt wurde, erleichtern sie eine Annäherung der verschiedenen Gemeinschaften. Oder vielleicht war es – wie viele meinen – auch die den Muslimen von den Christen im Krieg des Jahres 2006 geleistete Hilfe, die die verschiedenen Gemeinschaften einander angenähert hat.
Wir haben keine Antwort darauf. Nur eine Erinnerung, die mit Kana zu tun hat, einem Dorf im Süden der Diözese Tiro. Hier befindet sich eine Gedenkstätte mit 29 Gräbern. Auf den im Halbkreis angeordneten Bildern sehen wir die Gesichter der Verstorbenen: fast alle Kinder – die Erinnerung an das Massaker, das sich im Jahr 2006, auf dem Höhepunkt des Krieges, hier ereignet hat. Der ein oder andere bezeichnet dieses Dorf als das des ersten Wunders Jesu. Was wahrscheinlich nicht richtig ist. Sicher ist jedenfalls, dass es unweit der Gedenkstätte einen Ort gibt, der durch eine Steinfigur an dieses erste Wunder gemahnt: ein Zeugnis dafür, dass das Christentum hier eine lange Tradition hat. Es stimmt ein wenig traurig zu sehen, dass dieses Zeichen der Frömmigkeit heute nur noch eine x-beliebige Touristenattraktion ist. Kana ist zwar ein muslimisches Dorf, aber wie in vielen anderen Ländern mit islamischer Mehrheit gibt es hier eine christliche Kirche – die allerdings gerade geschlossen ist, als wir sie besichtigen wollen. Zu Hilfe kommt uns ein alter Mann mit einem gütigen Lächeln, der glücklicherweise die Schlüssel hat. Und als er das schwere Tor aufschließt, können wir zu unserem großen Staunen sehen, wie er einen abgenutzten muslimischen Rosenkranz durch seine schwarzen Finger gleiten lässt. Und auf einmal wird alles so viel einfacher.


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