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INTERPARLAMENATRISCHE UNION
Aus Nr. 11 - 2003

Die Rolle der Interparlamentarischen Union im derzeitigen geopolitischen Szenarium.

Für eine multilaterale Welt


Der aus Chile stammende Sergio Páez Verdugo, seit 2002 Präsident der Interparlamentarischen Union, erläutert die Besonderheiten dieser Versammlung, die für Politiker verschiedener Nationen einen Ort der Begegnung darstellt. Und zwar abseits von historischen Kontingenzen, wie beispielsweise einem Konflikt zwischen zwei Mitgliedstaaten: einer der wenigen Orte, wo Palästinenser und Israelis nie aufgehört haben, miteinander zu sprechen. Interview.


von Davide Malacaria


Sergio Páez Verdugo, Präsident der Interparlamentarischen Union (IU), mit dem Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Renzo Imbeni, bei der Versammlung vom 20. Februar 2003, bei 
der die IU das irakische Parlament und die irakische Regierung aufforderte, mit dem UNO-Sicherheitsrat zusammenzuarbeiten und sich den Richtlinien von Resolution 1441 anzupassen.

Sergio Páez Verdugo, Präsident der Interparlamentarischen Union (IU), mit dem Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Renzo Imbeni, bei der Versammlung vom 20. Februar 2003, bei der die IU das irakische Parlament und die irakische Regierung aufforderte, mit dem UNO-Sicherheitsrat zusammenzuarbeiten und sich den Richtlinien von Resolution 1441 anzupassen.

Die Interparlamentarische Union (IU) wurde 1889 aus einer Intuition von Frédéric Passy und Randal Cremer geboren. Der französische und der englische Parlamentarier wollten einen gemeinsamen Ort der Begegnung und Arbeit für die Mitglieder der Parlamente verschiedener Nationen schaffen. Welchen Zweck die IU verfolgt, ist schon im ersten Artikel des Statuts definiert: Wege des Friedens und der Kooperation zwischen den Völkern zu erschließen und die Bekräftigung der repräsentativen Institutionen in den verschiedenen Ländern der Welt zu erleichtern. Ein hochtrabender Zweck, den man durch den ständigen Dialog zwischen den Parlamentsgruppen der verschiedenen Mitgliedsstaaten und die Plenarversammlungen der Institution zu erreichen versucht. Eine Aktivität, für die zwar nicht groß die Werbetrommel gerührt wird, die aber dennoch überaus wertvoll ist, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie beispielsweise für Politiker verschiedener Nationen einen Ort der Begegnung darstellt. Abseits von historischen Kontingenzen, wie beispielsweise einem Konflikt zwischen zwei Mitgliedstaaten. Welchen Zweck die Organisation letztendlich verfolgt und in welchen Bereichen sie derzeit zum Tragen kommt, erklärt uns in dem folgenden Interview kein Geringerer als der Präsident derselben, Sergio Páez Verdugo. Der 72Jährige, aus den Reihen der chilenischen Christdemokraten zum Senator gewählt, hat die Ausschaltung des Parlaments aus nächster Nähe miterlebt. Unter der Diktatur Augusto Pinochets war er Koordinator der internationalen Versammlung für Demokratie in Chile, der sich Parlamentarier verschiedener Länder der Welt angeschlossen hatten, die mit dem chilenischen Volk solidarisch waren. Im Jahr 1988, im Lauf eines Referendums, das Pinochet gewollt hatte, um die Verlängerung seines Mandats bis zum Jahr 1997 zu erwirken, leitete er im Süden des Landes die Gegen-Kampagne. Ein Referendum, das nach dem Sieg der Regime-Opposition die Wahlniederlage Pinochets und den Übergang zur Demokratie einleitete. Sergio Páez, Senator des chilenischen Parlaments, wurde im September 2002 zum Präsidenten der Interparlamentarischen Union gewählt. Wir fragten ihn nach der Rolle, die die IU in den verwickelten internationalen Geschicken spielt.
Welchen Zweck verfolgt die Interparlamentarische Union?
SERGIO PÁEZ VERDUGO: Die Interparlamentarische Union wurde 1889 ins Leben gerufen, vor mehr als 100 Jahren, mit dem Zweck, den Frieden zwischen den Völkern zu fördern und die demokratischen Einrichtungen in der Welt zu festigen und zu verbreiten, besonders die parlamentarische Vertretung. Derzeit sind 138 Landesparlamente Mitglieder der Union. Diese Parlamente sind wiederum durch Gruppen ständig repräsentiert, die sich aus Parlamentariern zusammensetzen, die teils aus den Regierungsparteien, teils aus den Reihen der Opposition kommen. Darüber hinaus verfügt die IU auch über assoziierte Mitglieder: das Europäische Parlament, die parlamentarische Versammlung des Europarats, das Anden-Parlament, das mittelamerikanische Parlament und das lateinamerikanische Parlament. Die IU ist ein Ort des Dialogs und der Begegnung von Politikern aus verschiedenen Ländern, ein Ort, wo man nach Wegen des Friedens und der Entwicklung der demokratischen Einrichtungen sucht. Die Arbeiten der IU bestehen konkret in Empfehlungen, die den verschiedenen Landesparlamenten vorgelegt werden, mit dem Zweck, bei deren legislativer Aktivität berücksichtigt zu werden. Aber das ist nur ein Teil der Arbeit der IU.
Die Begegnung zwischen den israelischen und palästinensischen Parlamentariern im „Haus der Parlamente“, Sitz der IU (Genf am 17. Juli 2003).

Die Begegnung zwischen den israelischen und palästinensischen Parlamentariern im „Haus der Parlamente“, Sitz der IU (Genf am 17. Juli 2003).

Welche anderen Ziele verfolgt die IU?
PÁEZ VERDUGO: Die IU ist in verschiedenen Bereichen aktiv, leistet beispielsweise „jungen“ Parlamenten, also Parlamenten, die es noch nicht lange gibt – Ost-Timor z.B., oder Ländern, die die Schrecken des Krieges erlebt haben –, technische Hilfestellung dabei, demokratische Einrichtungen zu stärken. Diese Hilfestellung findet vor allem den sogenannten Entwicklungsländern gegenüber Anwendung, wo man darum bemüht ist, deren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt anzukurbeln. Darüber hinaus ist, seit nunmehr 25 Jahren, im Bereich der IU ein Menschenrechts-Komitee tätig, das darüber wacht, daß die Rechte der Parlamentarier nicht verletzt werden, Verletzungen, die von illegalen Aufhebungen des Mandats bis zur physischen Beseitigung gehen können. Die IU setzt sich aber auch sehr für das Mitwirken der Frauen im politischen Leben ein. Ich kann Ihnen auch sagen, daß die IU über ein Komitee für Nahost-Fragen verfügt, das regelmäßige Zusammenkünfte zwischen Parlamentariern der israelischen Knesset und des palästinensischen Legislativrats ermöglicht. Und schließlich möchte ich, als eine der vielen, in der letzten Zeit ergriffenen Initiativen, auf unser Eintreten gegen die Steinigung hinweisen, wie beispielsweise im Fall von Aminia Lawal in Nigeria. Doch abgesehen von solchen Aktivitäten, die von jeweils aktuellen Erfordernissen ausgelöst werden, ist die IU auch mit langfristigen Problemen befaßt. Um hier nur ein Beispiel anzuführen: die nächste, in Genf stattfindende IU-Sitzung wird sich mit dem Thema „Welthandelsorganisation“ befassen, darum bemüht sein, diese in der Ära der sogenannten Wirtschaftsglobalisierung so wichtige Organisation dazu zu bringen, bei ihren Entscheidungen den Sorgen und realen Bedürfnissen der Völker auch wirklich Rechnung zu tragen.
Und doch hält der ein oder andere die IU für veraltet, gesteht ihr auf unserem Erdball keine „tragende“ Rolle zu.
PÁEZ VERDUGO: Was ich vorhin ausgeführt habe, zeigt, daß solche Vorwürfe jeder Grundlage entbehren. Aber natürlich stimmt es auch, daß unsere Institution 100 Jahre alt ist, und sich so, wie alle Institutionen, reformieren, an die veränderte Weltlage anpassen muß. Und das umso mehr, wenn diese Veränderungen so rasend schnell vor sich gehen, wie das derzeit der Fall ist. Das war mir von Anfang an klar, und das ist auch der Grund dafür, warum ich, schon als ich um das Präsidentenamt der IU kandidierte, in mein Programm die Reform der IU aufnehmen wollte. Kurzum: ich bin also der Meinung, daß die IU, wenn sie auf der Weltbühne eine „tragende“ Rolle spielen will, eine politischere Dimension annehmen muß. Eine solche Perspektive ist keineswegs eine „Entartung“ der IU, sondern zielt vielmehr darauf ab, diese Institution besser an ihre eigentliche Natur anzupassen: die IU setzt sich aus Politikern aus aller Welt zusammen, ist also ein politischer Organismus, ja, ist die älteste internationale Organisation auf politischer Ebene... Und als solche muß sie sich in der internationalen Szene bewegen. Seit Beginn meines Mandats habe ich mich mit verschiedenen institutionellen Repräsentanten der Parlamente der Staaten getroffen, die unserer Organisation angehören, um ihnen dieses Projekt, diese Reform, nahezubringen.
Hat sich, seitdem Sie Präsident sind, dahingehend etwas getan?
PÁEZ VERDUGO: Ja. Um nur ein Beispiel zu nennen: vor und während des Irak-Krieges hat sich unsere Organisation entschieden gegen eine bewaffnete Lösung gestellt. Die IU machte keinen Hehl daraus, absolut gegen eine ohne den Konsens der UNO ergriffene Initiative zu sein. Und zwar aus dem Grund, weil die IU im internationalen Bereich nicht den Unilateralismus, sondern den Multilateralismus befürwortet, nicht akzeptieren kann, daß die UNO bei internationalen Streitfragen ausgeschlossen wird.
In den vergangenen Jahren scheint sich die Rolle der UNO redimensioniert zu haben. Wie steht die IU zur UNO?
PÁEZ VERDUGO: Wir sind der Meinung, daß die UNO auch weiterhin das zentrale Organ bei die Lösung internationaler Streitfragen sein muß. Die IU setzt sich diesbezüglich dafür ein, daß diese Organisation ihre Zentralität wiederfinden und neue Kraft schöpfen kann. Die Beziehungen zwischen IU und UNO sind sehr eng und fruchtbar. Ich halte es für einen großen Erfolg, daß die UNO die Interparlamentarische Union in die Reihen ihrer Beobachter aufgenommen hat und ihr das Privileg zukommen ließ, ihre Dokumente in der Generalversammlung verbreiten zu können.
Eine Demonstration gegen den Zaun, der zwischen Israel und den palästinensischen Territorien errichtet werden soll.

Eine Demonstration gegen den Zaun, der zwischen Israel und den palästinensischen Territorien errichtet werden soll.

Beteiligen sich die Repräsentanten der USA an den Arbeiten der IU?
PÁEZ VERDUGO: Nein, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, weil eine administrative Suspension diesem Land gegenüber beschlossen wurde, wie das übrigens auch schon bei anderen Ländern der Fall war. Im Falle der USA war es ganz einfach eine Pflicht, da die USA schon seit Jahren nicht mehr den Beitrag gezahlt haben, den jedes Mitgliedsland an die IU zu entrichten hat. Das heißt aber nicht, daß wir die USA um die Möglichkeit bringen wollen, sich an den Arbeiten der Interparlamentarischen Union zu beteiligen, ganz im Gegenteil. Denn natürlich hoffen wir, daß sie schon bald wieder teilnehmen und sich mit den anderen Mitgliedern der IU konfrontieren werden. Das wäre für alle von größter Wichtigkeit.
Sie haben vorhin den im Rahmen der IU stattfindenden Dialog zwischen Palästinensern und Israelis angesprochen...
PÁEZ VERDUGO: Ja, auch wenn die Frage des Nahost-Konflikts derart dramatisch ist, daß wir gewiß nicht den Anspruch stellen, sie allein lösen zu wollen. Die IU will natürlich alles für den Friedensprozess zwischen Arabern und Israelis tun. Wie bereits gesagt, kommen die israelischen und palästinensischen Parlamentarier im Rahmen unseres Komitees oft wegen der Nahost-Fragen zusammen. Am 17. Juli kam es zu einer Begegnung in Genf, in unserem Sitz Haus der Parlamente. Dabei haben sie beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die Parlamentarier der Knesset und des palästinensischen Legislativrats einschließt, die damit betraut sind, die Aussöhnung der beiden Parteien zu fördern.


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