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DIE ORTHODOXEN
Aus Nr. 01 - 2004

Primat oder Hegemonie? Die Geschichte einer Trennung


950 Jahre nach dem Schisma zwischen den Christen von Ost und West (1054) und 800 Jahre nach dem vierten Kreuzzug (1204): zwei schicksalsträchtige Daten, die nicht nur durch ihre Jahrestage eng miteinander verbunden sind.


von Lorenzo Cappelletti


Als am 7. Dezember 1965, bei Abschluß des II. Vatikanischen Konzils, die gegenseitige Exkommunikation des entfernten 1054 von Lateinern und Griechen „aus dem Gedächtnis“ gestrichen wurde, erlangte dieses fast 900 Jahre zurückliegende Datum sicher einen größeren Bekanntheitsgrad als zu seiner Zeit.
Der heilige Papst Leo IX. (1049-1054) und Michael Kerularios, Patriarch von Konstantinopel, Miniatur aus einer griechischen Handschrift des 15. Jhs., Nationalbibliothek Palermo

Der heilige Papst Leo IX. (1049-1054) und Michael Kerularios, Patriarch von Konstantinopel, Miniatur aus einer griechischen Handschrift des 15. Jhs., Nationalbibliothek Palermo

Wenn man sich – was jede gewissenhafte historische Methode gebietet – an die Quellen hält, wird man zuerst einmal überrascht sein, feststellen zu können, daß das Schisma von 1054 in der damaligen byzantinischen Geschichtsschreibung voll und ganz ignoriert wird, wie Georg Ostrogorsky in seiner Geschichte des byzantinischen Staates feststellte – und nach ihm alle Historiker, die dieses bis dato auch im Westen maßgebliche Werk zitieren. Jenes Datum wird nach wie vor nur von der Geschichtsschreibung eines bestimmten Teils des Christentums als Zäsur gesehen. Es ist kein Zufall, daß man es an den Anfang des fünften Bandes eines der anspruchvollsten Werke „fränkischer“ Geschichtsschreibung der letzten Jahre gestellt hat, die Histoire du christianisme, erschienen bei Desclée (und bereits in die wichtigsten Sprachen übersetzt). Dort nämlich, wo es um die Blütezeit des Papsttums und die Ausbreitung der Christenheit (1054-1274) geht und wo dieses Datum dagegen „keinen Bruch in der allgemeinen Geschichte der byzantinischen Kirche“ darstellt (ebd. S. 16).
Es erscheint also keinesfalls unangebracht, die Aufmerksamkeit auch auf die Interpretationen zu richten, und nicht nur auf die Quellen. Gerade hier ist es ganz einfach unerläßlich, sich nicht nur auf die Fakten dieser Geschichte zu konzentrieren, sondern auch auf deren Interpreten. In dieser Geschichte der Trennungen „können die Fakten nämlich in dem einen oder anderen Sinn betont werden“, wie Giorgio Fedalto warnt, einer der namhaftesten Geschichtsexperten auf diesem Gebiet (Le Chiese d’Oriente, Bd. I, S. 112).

Die Fakten
Beginnen wir also bei den Fakten. Ohne jedes Pathos. 1054 war das letzte Jahr der schwachen Regierung Konstantins IX., Gatte von Zoe, die, gemeinsam mit ihrer Schwester Theodora, letzte Repräsentantin der makedonischen Dynastie war. Mit dieser Dynastie (deren Geschichte im Jahr 1917, am Vorabend des Endes aller Imperien, von Léon Bloy in seinem Costantinople et Byzance so leidenschaftlich erzählt wurde) hatte das byzantinische Reich seinen Höhepunkt erreicht, befand sich aber nun, nach dem Tode des großen Basileios II. (1025) endgültig auf dem absteigenden Ast. Ein Umstand, der durchaus seine Bedeutung hat. So wie auch der Umstand seine Bedeutung hat, daß diese mächtige Dynastie mehr als anderthalb Jahrhunderte lang durchaus freundschaftliche Beziehungen zu Rom unterhalten hatte. Im Gegensatz zu dem, was man oft meinte, war nicht der byzantinische „Cäsaropapismus“ für den Bruch verantwortlich – so Ostrogorsky –, sondern eine merkwürdige Kombination von Fakten, wo einem starken und zu keinem Kompromiß bereiten Papsttum ein nicht weniger starkes Patriarchat gegenüberstand, das von dem Bewußtsein um seine eigene Würde eingenommen war und ein schwaches Imperium an seiner Seite hatte (vgl. G. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates).
Die Abrechnung fand in der Peripherie des Imperiums statt, in Unteritalien, wo sich die Patriarchate von Rom und Konstantinopel seit Jahrhunderten wegen ihrer Jurisdiktions-Ansprüche in den Haaren lagen. Hier weiter auszuholen, würde zu weit führen. Es genügt zu sagen, daß mit dem beginnenden 11. Jahrhundert – wie Byzanz-Experte Hans-Georg Beck in dem von Hubert Jedin herausgegebenen Handbuch der Kirchengeschichte (Bd. IV) schreibt – die Verflechtung der päpstlichen Politik mit den Interessen der Normannen und des deutschen Kaisers in dieser Region eine neue Situation schuf. In der Tat erregte die Unterstützung, die Rom nicht nur den Normannen, die sich auf Kosten der Byzantiner zwischen Apulien und Kampanien angesiedelt hatten, sondern auch der Revolte des latinisierten Griechen Meles in Bari zukommen ließ, in Byzanz einiges Aufsehen. So ist es wohl auch kein Zufall, daß man gerade in jenen Jahren in Konstantinopel den regierenden Papst in der Liturgie nicht mehr erwähnte, und das Filioque wiederum erst in diesem Moment (1014) in die Römische Liturgie eingeführt wurde. Und nicht früher, wie der Philologe Vittorio Peri in verschiedenen Essays, die jetzt im zweiten der namhaften Bände Da Oriente e da Occidente. Le Chiese cristiane dall’Impero romano all’Europa moderna (Verlag Editrice Antenore, Rom-Padua 2002) gesammelt sind, gezeigt hat.
Die Basilika Hagia Sophia, die unter Kaiser Justinian (527-565) erbaut, 537 geweiht, unter türkischer Besatzung 1453 zur Moschee umfunktioniert wurde und heute ein Museum ist (Istanbul, Türkei). Am 16. Juli 1054 legte der päpstliche Legat Humbert von Silva Candida die Exkommunikationsbulle gegen den byzantinischen Patriarchen Michael Kerularios auf dem Altar von Hagia Sophia nieder.

Die Basilika Hagia Sophia, die unter Kaiser Justinian (527-565) erbaut, 537 geweiht, unter türkischer Besatzung 1453 zur Moschee umfunktioniert wurde und heute ein Museum ist (Istanbul, Türkei). Am 16. Juli 1054 legte der päpstliche Legat Humbert von Silva Candida die Exkommunikationsbulle gegen den byzantinischen Patriarchen Michael Kerularios auf dem Altar von Hagia Sophia nieder.

Zum Zeitpunkt des Schismas schienen jedoch eher die Bedingungen für ein Zusammentreffen denn einen Zusammenprall gegeben zu sein. Gegen Mitte des 11. Jahrhunderts hatte sich nämlich die Perspektive eines Vorgehens gegen die Normannen ergeben, Frucht eines Militärbündnis zwischen Byzantinern, Deutschen und Lateinern, für das sich Argirus von Bari, Sohn des oben erwähnten Meles, stark gemacht hatte. Das Reform-Papsttum wollte sich auch von der Last der normannischen Protektion befreien. Man hatte die Rechnung jedoch nicht nur ohne sie, sondern auch ohne Michael Kerularios gemacht, den Patriarchen von Konstantinopel, den sein stürmischer, um nicht zu sagen revolutionärer Charakter unter den byzantinischen Patriarchen zu einer Ausnahme machte (vgl. Handbuch der Kirchengeschichte). Um dieses Bündnis zu vereiteln, setzte er alles daran, einen Bruch herbeizuführen, ließ die lateinischen Klöster und Kirchen in Konstantinopel schließen und überließ die antilateinische Propaganda der Feder Leos, ein Beamter im Palast von Konstantinopel, der für den bulgarischen Erzbistumssitz Ochrid ernannt wurde (entgegen ihrer Tradition hatte damals auch die byzantinische Kirche zentralistische Tendenzen).
Humbert von Silva Candida wurde damit betraut, für Rom zu antworten und legte den Griechen prompt mehr als 90 Irrtümer zur Last. Auch er war vom Revolutionsgeist beseelt, in einem palatium lateranense, der daran war, von Leo IX. zur curia (also Hof) umgestaltet zu werden: „Die wahren Macher der Reform“ (S. 12), wie Humbert, gehörten formell nicht zu ihr, schreibt Edith Pásztor, die diese Sache in einigen Artikeln eingehend studiert hat (in: Onus Apostolicae Sedis. Curia romana e cardinalato nei secoli XI-XV). Ihre Mitwirkung „ging längst über die Strukturen des palatium hinaus“ (ebd. SS. 12-13). Die traditionellen Ämter waren ihrer Bedeutung entleert. Humbert, der aus demselben reformorientierten Ambiente kam wie Leo IX. und von diesem für den suburbikarischen Sitz Silva Candida ernannt worden war, war nicht durch die Ernennung zum Bibliothekar (bzw. Staatssekretär) in den Rahmen des palatium eingegliedert worden. „Leo IX. übertrug ihm eine wichtige Rolle in seiner Politik und bei der Abfassung verschiedener Dokumente und offizieller Briefe. Zum ersten Mal war ein suburbikarischer Bischof aktiv mit den Angelegenheiten der Kirche von Rom befaßt, ohne das Amt des Bibliothekars innezuhaben“ (ebd. S. 11). Die Formen haben eben doch so ihre Bedeutung.
So kam es auch, daß Papst Leo IX., in der ihm nicht zustehenden Eigenschaft als General, ein Heer auf die Beine stellte und persönlich den Feldzug gegen die Normannen in Apulien anführte, bei dem er im Juni 1053 geschlagen und gefangengenommen wurde.
Aber gerade diese Schwächung des Papsttums lieferte den Grund für ein besseres Verständnis zwischen Byzantinern und Lateinern. So wurden die von Humbert von Silva Candida angeführten Päpstlichen Legaten, die man im Januar 1054 nach Konstantinopel geschickt hatte, um die Wogen zu glätten, vom Kaiser mit allen Ehren empfangen. Die Delegation ließ jedoch den Umstand außer Acht, daß auch in Byzanz eine Revolution im Gange war und hielt den Kaiser für ihren wichtigsten Ansprechpartner. Weshalb sich der Patriarch natürlich auf den Schlips getreten fühlt. Genau wie Humbert. Und da konnte die dialektische bagarre auch schon beginnen. Humbert ließ seine vorherige polemische Antwort ins Griechische übersetzen und stürzte sich Hals über Kopf in den bedauerlichen Disput, in dem er viele griechische Bräuche, die die lateinische Tradition zwar mißbilligte, die aber dennoch legitim waren, als Häresie brandmarkte – und das auf heimatlichem Boden. Die Auseinandersetzung gipfelte schließlich, am 16. Juli 1054, darin, daß die Legaten des römischen Papstes auf dem Altar der Hagia Sophia die Bannbulle gegen Patriarch Kerularios und seine Jünger niederlegten. Der nicht lange zögerte, und bei der am folgenden Tag einberufenen Synode auch die Lateiner mit dem Kirchenbann belegte. So war also „die Begegnung, die ein Abkommen sanktionieren sollte, Grund für noch größere Verbitterung“ (Fedalto, Le Chiese d’Oriente, Bd. I, S. 113).
Wahrlich nichts Neues: der Disput – verursacht von zwei Männern, die ihrer Tradition noch nicht einmal sehr verbunden waren – war einfach nur erbitterter geworden. Wilhelm de Vries, der 1997 verstorbene Jesuit, der sich sein ganzes Leben lang darum bemühte, den Dialog mit dem Osten lebendig zu halten, hat vor ein paar Jahren etwas gesagt, das – wie wir meinen – leider immer noch Gültigkeit zu haben scheint: daß nämlich „Orthodoxie und Katholizismus heute noch weiter voneinander entfernt sind als damals, gegen Mitte des 11. Jahrhunderts“ (Ortodossia e cattolicesimo, S. 75).
Was hat die Dinge also nun letztendlich so sehr auf die Spitze getrieben?
Das, was danach kam.
Der byzantinische Kaiser Basileios II., dargestellt als Herrscher der besiegten bulgarischen Stämme, Titelseite eines Psalteriums der Bibliothek Marciana,Venedig

Der byzantinische Kaiser Basileios II., dargestellt als Herrscher der besiegten bulgarischen Stämme, Titelseite eines Psalteriums der Bibliothek Marciana,Venedig


Die Kreuzzüge
Die beiden auf das Jahr 1054 folgenden Jahrzehnte waren für das byzantinische Reich eine bittere Zeit. Nicht nur die Histoire bataille sieht in der Niederlage 1071 bei Mantzinkerts gegen die Türken und in dem Verlust Baris, letzte byzantinische Hochburg auf der italienischen Halbinsel, an die Normannen, die beiden emblematischen Episoden, die an den äußersten Grenzen des Reiches für einen allgemeinen Rückschritt sorgten. So hatte das Reich im Osten beispielsweise den Türken den endgültigen Verlust Armeniens, Kappadokiens, Kilykiens und Kleinasiens zu verdanken. Die Rückeroberung Siziliens durch Roger, den Normannen, sowie die Erlangung der Unabhängigkeit Montenegros und Kroatiens beraubten Byzanz dann noch seiner letzten westlichen Stützpunkte.
Obwohl dieses Debakel im Westen unter der Schirmherrschaft erfolgen konnte, die Gregor VII. den – sogenannten – nationalistischen Bewegungen gewährte, war ausgerechnet er derjenige, bei dem der neue byzantinische Kaiser Hilfe suchte. Gregor erwähnte diesen Appell in einem Brief vom Jahr 1074: „Die Christen jenseits des Meeres, unter denen die Heiden ein unfaßbares Blutbad anrichten, sie tagtäglich abschlachten wie Tiere, so daß das Christenvolk bald nicht mehr ist, haben sich in ihrer mißlichen Lage voller Demut an mich gewandt, auf daß ich diesen unseren Brüdern in irgendeiner Weise helfe, und unser christlicher Glaube – Gott bewahre! – in unserer Zeit nicht ausgelöscht werde.“
Die Annahme dieses Appells – zumindest dem Wunsch nach (denn dabei blieb es; Gregor war nie in der Lage, ihn auch in die Tat umzusetzen) – bezeichnete den wahren Beginn der Kreuzzüge, jener bewaffneten Bewegung, hinter der nicht länger der Wunsch des christlichen Kaisers, sondern der des Papstes stand: „ad me“, schrieb der Papst; an mich war die flehentliche Bitte um Beistand für unsere Brüder gerichtet.
In demselben Brief schrieb Gregor auch, daß er schon deshalb bereit wäre, der Bitte nachzukommen, weil die Kirche von Konstantinopel „concordiam apostolicae sedis exspectat.“. Die Erfüllung eines Traumes schien zum Greifen nah: die sich unter einem einzigen Oberhaupt und gleichzeitig auch dem einzigen Hirten vereinende Christenheit. Ein Traum, den man seit der Karolinger-Zeit träumte, als diese einen Abgrund geschaffen und die Lateiner von den Griechen entfernt hatten. Wenn sich nämlich der Westen zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert, nicht nur politisch, vom christlichen Osten weiter entfernt hatte, dann gerade wegen der Karolinger, wegen ihres Beharrens auf einer Bilderlehre, die von der abwich, die das II. Konzil von Nizäa definiert hatte, und ihrer Haltung zum Filioque. „Normalerweise spricht man nicht genug von der Abspaltung der karolingischen Kirche von der Kirche von Rom und von den noch mit ihr in Gemeinschaft stehenden Patriarchaten der byzantinischen Kirche; ein Schisma, das sich zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert ereignet hat,“ lautet der trockene Kommentar von Vittorio Peri (Da Oriente ad Occidente, S. 783). „Der Beginn des Jahrtausend-Schismas zwischen West und Ost hat seine historische Genese in der Abspaltung der Kirche der Karolinger von der griechischen Kirche des Ostens, die damals von der römischen Kirche von Rom nicht mitgetragen wurde“ (ebd., s. 742).
Kehren wir wieder ins Ende des 11. Jahrhunderts zurück, als – von jedem Schisma einmal abgesehen – der Wunsch, den Brüdern des Ostens zu Hilfe zu eilen und das Heilige Grab zu befreien, so übergroß war, daß Jerusalem im Juli 1099 tatsächlich befreit war.
Der byzantinische Kaiser Konstantin IX. 
Monomachos, Mosaik-Detail, Hagia Sophia, Istanbul, Türkei

Der byzantinische Kaiser Konstantin IX. Monomachos, Mosaik-Detail, Hagia Sophia, Istanbul, Türkei

Doch schon die Begeisterung und die Religiosität jener Jahre „kann man nicht nach den historischen Kriterien einer, auch nur wenige Jahrhunderte späteren Epoche beurteilen,“ warnt Fedalto. Auf der einen Seite war die Befreiung des Heiligen Grabes nämlich auch mit der Besetzung von Gebieten und der Bildung von Fürstentümern einhergegangen (vgl. Fedalto, La Chiesa latina in Oriente, Bd. I., S 82), auf der anderen zeigte die Gregorianische Reform nun gerade ihre Auswirkungen. „Man kann zweifelsohne sagen, daß der Kreuzzug ohne diese ganze Vorbereitung, die den Namen Gregorianische Reform trägt und die in Gregor VII. ihren bedeutendsten Verfechter hatte, nicht möglich gewesen wäre. Es stimmt, daß die Reform auf eine geistliche Aufwertung der Kirche abzielte, mit der daraus folgenden Korrektur von Mißbräuchen und der Wiederherstellung der päpstlichen und bischöflichen Autorität. Das mit ihr einhergehende Phänomen der päpstlichen Zentralisierung hatte aber auch zur Folge, daß alle Entscheidungen, auch die, die die bürgerliche Ordnung betrafen, sehr viel stärkere Auswirkungen hatten. Natürlich verstand der Papst die Kirche nicht als von der weltlichen Realität losgelöst; wenn man sich in der Geschichte rettet, dann ist es gerade die Geschichte, die vom Christen gerettet und erlöst werden muß. Ohne ein Eingreifen in die weltlichen Dinge bleibt man dem Feind ausgeliefert“ (ebd., SS. 76-77).
Der unkluge Kurswechsel, der 1204 dazu führte, daß Byzanz von Venetianern und Franken (wie die Byzantiner jeden aus dem Westen nannten) besetzt wurde, und die Rechtfertigung desselben a posteriori mit dem Schisma, lag in der Logik dieser Reformbewegung.
Ersparen wir es uns hier, auf die Brutalität des 4. Kreuzzuges einzugehen: ein Ereignis, das ohnehin auf ewig im Gedächtnis der Griechen bleiben sollte. Es spielt keine Rolle, daß Papst Innozenz III. von den Venetianern getäuscht worden war: durch die Art und Weise des Kreuzzuges trug nun einmal er dafür die Verantwortung. Man sollte hier lieber darauf verweisen, daß der Beweggrund für den Kreuzzug der Gedanke gewesen war, daß es nur eine Christenheit gäbe, nämlich die lateinische. Zu Beginn auch schon wegen der geringen Kenntnis der wirklichen Realität der östlichen Christenheit; dann, mehr als ein Jahrhundert später, wegen einer Eroberungsabsicht. Zu Beginn erlaubte dieser Gedanke, den Brüdern zu Hilfe zu eilen; mehr als ein Jahrhundert später, diese als Schismatiker zu bestrafen. Es hat schon seinen Grund, wenn sich die Literatur über den Kreuzzug, nach der Einnahme von Konstantinopel 1204, nach der sich nicht nur ein lateinisches Ostreich, sondern auch eine lateinische Hierarchie im Osten herausbildete, mehr mit dem Schisma als mit Jerusalem befaßt. Obwohl es diese Stadt erneut zu befreien galt, da sie sich Saladin 1187 wiedergenommen hatte. Aber jetzt „richteten die Autoren ihr ganzes Augenmerk auf das Schisma der griechischen Kirche [...]. Die Zeit der ruhmreichen Appelle für die Befreiung des Heiligen Grabes war vorbei, jetzt war eine andere Zeit gekommen, die der Evangelisierung [...]. Der Kreuzzug, dem immer weniger Bedeutung beigemessen wurde, war zu etwas anderem geworden: zur Gelegenheit, der lateinischen Kirche den Weg nach Osten zu ebnen, oder, wenn man so will, den Islam von Europa fernzuhalten“ (ebd., SS. 82-83). Man könnte gut sagen: der christliche Osten hätte, da er sich auf dem Weg nach Jerusalem befand, leicht ausgelöscht werden können. „Da das römische Papsttum das Zentrum einer jeden möglichen Christenheit war, verloren jene, welche es nicht als einzige kanonische Form im nachgregorianischen christlichen Europa anerkannten, mit Gehorsams- und Treueid, den Rechtstitel auf den Besitz einer Kirche, samt Gütern und Zugehörigem“ (ebd., S. 89).

Reform und Hegemonie
ýehren wir nun, sowohl zeitlich als auch geographisch, in den Westen der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts zurück. Der „Treue- und Gehorsamseid“ führt uns wieder zur Formel des feudalen Ehrerweises, die Giorgio Falco in dem Kapitel über Gregor VII., „Anti-feudale Erhebung der Kirche“, abgeschafft sieht von dem „schrecklichsten Zerstörer des alten Feudalwesens und größtem Schöpfer einer neuen historischen Realität“ (La Santa Romana Repubblica, S. 148). Im Gegensatz zu dem, was dieser historisch-philosophische Idealismus vertritt und vertrat (mit all dem mit ihm einhergehenden Ruin und Klagen), fegte die Gregorianische Reform die feudalen Beziehungen nicht hinweg, sondern machte sie sich zueigen, um die vorherigen politischen Machtverhältnisse hinwegzufegen. Im postgregorianischen christlichen Europa konnte das Vasallentum stärker werden, wenn auch mit umgekehrten Rollen, wie der jüngst verstorbene Cinzio Violante in seinen Werken eingehend erläuterte, zuletzt in Chiesa feudale e riforme in Occidente (sec. X-XII). Introduzione a un tema storiografico, dieser kurzen, aber überaus effizienten Synthese, fast schon ein Testament. „Mit der römischen Kirchenreform wurde der Prozess der Feudalisierung der Kirche nicht verlangsamt, sondern intensiviert. [...] Die ‚christliche Wiedereroberung der Welt‘ zur Wiederherstellung und Ausweitung der Christenheit, und vor allem, um sie vor erneutem Mißbrauch durch die weltlichen Mächte zu schützen, wurde von der Kirche mit feudalen Mitteln bewerkstelligt, wie der Schaffung von Vasallenstaaten“ (ebd. S. 149). Das Papsttum war weniger an Landbesitz interessiert, als daran, Vasallen zu haben, die man bei militärischen Unternehmungen einsetzen konnte (vgl. Handbuch der Kirchengeschichte Bd. IV). Und das ist der springende Punkt: weil, neben anderen Dingen, gerade die „sich aus dem Investiturstreit und der Vorbereitung der Kreuzzüge ergebenden finanziellen Kosten“ (Violante, Chiesa feudale e riforme in Occidente [sec. X-XII], S. 157) das „wachsende Eingreifen der Kirche, aller ihrer Institutionen und – an einem gewissen Punkt – sogar des Apostolischen Stuhls in die Entwicklung der Geldwirtschaft bestimmten [...]. Besonders Gregor VII., Urban II. und Pascalis II., Verfechter der Armut, wurden von den neuen, hohen Kosten, die aus religiösen Motiven entstanden waren, gezwungen, die päpstlichen Finanzen durch neue Einnahmequellen aufzustocken“ (ebd.).
Die Einnahme Konstantinopels durch die Kreuzfahrer (Mai 1204), Jacopo Negretti, genannt Palma der Jüngere, Herzogspalast Venedig

Die Einnahme Konstantinopels durch die Kreuzfahrer (Mai 1204), Jacopo Negretti, genannt Palma der Jüngere, Herzogspalast Venedig

Die Reform rief nicht nur deshalb Unwillen und Widerstand hervor, weil sie darauf abzielte, Mißbräuche zu korrigieren. Auch die damaligen Anti-Päpste (die Päpste, die dem Kaiser treu waren, in diesem Falle, dem des Westens), wie Klemens III. z.B., waren darum bemüht, das Leben des Klerus zu reformieren, kämpften gegen Konkubinat und Simonie. „Selbst die Kirche des Deutschen Reiches, die fast vollkommen der Kontrolle des Kaisers unterlag, erscheint uns jetzt, im allgemeinen, im 11. Jahrhundert gut geordnet und funktionierend [...]. In Wahrheit war das Bild, das die papstfreundlichen Quellen, vor allem die ‚gregorianischen‘, von den Kirchen gaben, die der römischen Reform widerstanden [...] das Ergebnis einer starken ideologischen Opposition“ (ebd., S. 153). Und welche Kirche hätte eher wiederstanden als die griechische? Welche hätte eine „schlechtere Presse“ verdient?
Wenn man das sagt, stellt man weder die Heiligkeit von Leo IX. noch die von Gregor VII. in Frage; stellt man den römischen Primat nicht in Frage. Man fragt sich lediglich, ob diese libertas, von der gerade Leo IX. als erster gesprochen hat, nicht auch und vor allem in einer Hegemonie-Perspektive gefordert wurde. Die Histoire du christianisme gibt offen zu, daß „Rom auf die Einführung der libertas romana abzielte, dergestalt, daß der Papst an die Stelle des Kaisers trat und, indem er den Kirchen auf seine Art Freiheit anbot, ihnen gleichzeitig seinen Schutz und seine Kontrolle garantierte“ (S. 15). Und genau in diesem Punkt distanziert sich Pier Damiani, im Innern der gregorianischen Partei selbst, deutlich von Hildebrand und Humbert von Silva Candida, weil er mit „dem Übergang von einer wesensgemäß unitarischen Ekklesiologie – in der die laikale zeitliche Macht des Kaisers und die geistliche Autorität des Papstes ein untrennbares Ganzes waren, umsetzbar auf verschiedene Weise und durch verschiedene Institutionen – zu einer Ekklesiologie, deren Grundgedanke dagegen die volle libertas Ecclesiae war“, nicht einverstanden ist (Violante, Chiesa feudale e riforme in Occidente [sec. X-XII], S. 132-133).
Im Gegensatz zu dem, was wohl auch viele Kirchenleute gerne glauben, denke ich nicht, daß die Lobeshymne, die Giorgio Falco auf diese libertas singt, der Kirche guttut; sie ist Teil der ideologischen battage, die die Gregorianische Reform dazu benutzt, Wasser, ja, Blut und Tränen, zu solchen Mühlen zu tragen: „Die Kirche war endlich frei, d.h. nach Jahrhunderten verzweifelter Anstrengungen, war es ihr gelungen, den Klerus zu reformieren, ihn aus den Fangarmen von Laizität und Weltlichkeit zu befreien, und wagte nun, mit ihrem hierarchischen, immensen, kompakten Heer, das nur auf einen Befehl hört, den Vorstoß auf die europäische Hegemonie“ (La Santa Romana Repubblica, S. 254). Derartige Mühlen kann es wenig kümmern, wenn all das „einen schrecklicheren und universalen Krieg“ bringt, notwendige Vorbereitung auf die Zukunft: „Die Reform, deren Gipfel mit Gregor VII. erreicht wird, bringt den Menschen keinen Frieden; sondern einen schrecklicheren und universalen Krieg. [...] Unter der eifrigen, kämpferischen Geschäftigkeit des römischen Zentralismus nimmt ein zweites Europa, nach dem Karls des Großen, Gestalt an; ein stabileres, größeres, selbstbewußteres; die Massen, die es drängt, ans Tageslicht zu kommen – die Protagonisten von morgen – sind gerufen, für diesen Kampf Zeugnis abzulegen und daran teilzunehmen“ (ebd.). Derartige Mühlen scheren sich nichts um die Bewahrung des depositum, sondern wollen ein Loblied singen auf „die größte Revolution des Mittelalters, auf den politischen und religiösen Glauben... Gregor VII. ist die Revolution und die Zukunft“ (ebd., S. 255). Reines Pathos.


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