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UMFRAGE
Aus Nr. 05 - 2004

RÖMISCHE ROTA. Analyse der Daten zu den Ehenichtigkeitsverfahren pro Nation.

Bis dass die Rota euch scheidet


Wenn man sich die Daten zu den Gerichten ersten Grades ansieht, wird ersichtlich, daß den Ansuchen um Anerkennung der Ehenichtigkeit in der überwältigenden Mehrheit der Fälle stattgegeben wird. Weltweit. Und fast immer wegen eines Mangels im Ehekonsens.


von Gianni Cardinale


Sitzung der Römischen Rota, Miniatur aus einem Kodex im vatikanischen Geheimarchiv.

Sitzung der Römischen Rota, Miniatur aus einem Kodex im vatikanischen Geheimarchiv.

Jedes Jahr, wenn der Papst die Prälaten der Römischen Rota in Audienz empfängt, macht er sich für die Verteidigung der Institution Ehe stark, scheint den Gerichten der katholischen Kirche wegen einer gewissen Laxheit bei der Anerkennung der Nichtigkeit von Ehen „einen Rüffel zu geben.“ Dieses Jahr beispielsweise, am 29. Januar, bei der Eröffnung des Gerichtsjahres des apostolischen Tribunals, hat Johannes Paul II. darauf hingewiesen, daß „die Tendenz, die Nichtigkeit mißbräuchlich auszuweiten, und dabei den Horizont der objektiven Wahrheit zu vergessen“ zur „strukturellen Verzerrung des gesamten Prozesses“ führt.
Der feierliche Vorwurf gilt nicht den Richtern der Rota, die, wie wir noch sehen werden, recht restrikt­iv bei der Anerkennung der Nichtigkeit der Ehen ist, sondern vielmehr den Diözesan- oder Regionalgerichten erster und zweiter Instanz, wo die meisten dieser Verfahren anhängig sind.
Wenn man die Dimensionen des Phänomens besser verstehen und herausfinden will, in welchen Ländern es besonders verbreitet ist, muß man nur die Daten unter die Lupe nehmen, die im letzten Teil des Annuario statistico della Chiesa cattolica enthalten sind, der jedes Jahr vom Zentralbüro für Statistik des Hl. Stuhls unter Leitung von Msgr. Vittorio Formenti herausgegeben wird. Die letzte, sich auf das Jahr 2002 beziehende Ausgabe wurde vor kurzem von der Vatikanischen Verlagsbuchhandlung veröffentlicht. Und aus dieser Quelle stammen auch die hier aufgelisteten Daten.


Alle 62 Ehen ein henichtigkeitsverfahren
Um sich ein Bild von den weltweiten Ausmaßen des Phänomens machen zu können, muß man vor allem einmal sagen, daß 2002 an den Diözesan- und Regionalgerichten der ganzen Welt 54.247 Ehenichtigkeitsverfahren in erster Instanz eingeleitet wurden (vgl. Tabelle S. 25). Wenn man dann bedenkt, daß in demselben Zeitraum 3.384.730 Ehen kanonisch geschlossen wurden, kann man feststellen, daß vor zwei Jahren insgesamt alle 62 kanonisch geschlossene Ehen ein Nichtigkeitsverfahren eingeleitet wurde. Ein Blick in das Statistische Jahrbuch von 1978 ergibt, daß dieses Verhältnis in jenem Jahr bei einem Prozess alle 73 Ehen lag. Bei einer – einerseits – geringfügigen Abnahme von eingeleiteten Nichtigkeitsverfahren (1978 waren es 56.875) konnte man in 24 Jahren dennoch einen wahren Einbruch bei den kanonischen Eheschließungen beobachten, die in absoluten Zahlen drastisch zurückgegangen sind (1978 waren es 4.125.264), vor allem aber im Verhältnis zur Zahl der Getauften. Wenn nämlich 1978 noch 54 Eheschließungen auf 10.000 Katholiken kamen, so waren es 2002 nur noch 32 (mit noch stärkeren Einbrüchen in Nordamerika und Ozeanien, vgl. Tabelle auf dieser Seite).
2002 wurden auch 0,5 Nichtigkeitsverfahren alle 10.000 Getauften eingeleitet. Soweit die allgemeinen Daten. Wenn man sich diese Daten dann nach einzelnen Ländern ansieht, kann man feststellen, daß es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Ortskirchen gibt.


Vereinigte Staaten: Zahl der Verfahren im Sinken, aber immer noch Rekord
Was sofort ins Auge fällt, sind die Daten, die die Vereinigten Staaten betreffen. Die amerikanische Kirche macht knappe 6% der katholischen Weltbevölkerung aus, aber an den Diözesangerichten dieses Landes waren 2002 mehr als die Hälfte – 57% – der in erster Instanz eingeleiteten Ehenichtigkeitsverfahren anhängig: 30.835 von 54.247 (vgl. Tabelle S. 25). Mit Abstand gefolgt von Italien (2.817), Polen (2.400), Kanada (1.907) und Spanien (1.762). Gewiß, 24 Jahre zuvor, 1978, machten die amerikanischen Verfahren eine noch größere Zahl aus (38.608 von 56.875, was ca. 68% entspricht), aber auch heute ist der von Amerika gehaltene Primat geradezu niederschmetternd. Und das nicht nur, wie wir gesehen haben, in absoluten Zahlen, sondern auch im Verhältnis zur Zahl der Gläubigen (vgl. Tabelle S. 25). In diesem Falle kommen jedoch nach den USA, die mit 4,7 Nichtigkeitsverfahren alle 10.000 Getauften „aufwarten“ können, andere Länder wie Malta (3,7), Japan (2,7) und Neuseeland (2,0). Eine „Sonderklassifizierung“, in der sich auf den oberen Plätzen auch der Libanon (1,5), Syrien (1,3) und Irland (0,9) tummeln.


Lokale Gerichte pro Nichtigkeit 94%, Römische Rota 46%
Ein eklatantes Faktum, das vielleicht in besonderer Weise die päpstliche „Rüge“ vom Januar rechtfertigt, ist das der von den Kirchengerichten gesprochenen Urteile. Wenn man die ersten Grades betrachtet, die 2002 ergangen sind, kann man feststellen, daß das Urteil der Richter in 94% der Fälle pro Nichtigkeit ausgefallen ist. Auf die einzelnen Kontinente bezogen (vgl. Tabelle S. 25) kann man darüber hinaus sehen, daß die relativ gesehen strengsten Gerichte die europäischen sind, die sich in „nur“ 85% der Fälle für die Nichtigkeit ausgesprochen haben –in Nordamerika und Ozeanien dagegen in 97% der Fälle. Und wenn man untersucht, wie sich die Situation in den einzelnen Ländern gestaltet (vgl. Tabelle S. 25), wird man feststellen, wie– stets sehr relativ – „restriktiv“ die Richter in Polen (in 75% der Fälle Urteil für die Nichtigkeit) und in Deutschland (82%) waren, und wie extrem „liberal“ dagegen ihre Kollegen in Mexiko (99%), Kanada (98%), USA und Korea (97%), Ukraine und Australien (96%).

Anzumerken ist, daß diese allzu große Bereitschaft zur Anerkennung der Nichtigkeit von Ehen in Kontrast steht zu den Zahlen, die das Gericht des Papstes betreffen, die Römische Rota. Das wie ein Revisionsgericht funktioniert, an das man sich dann wendet, wenn die ersten beiden Justizgrade im Urteil nicht übereinstimmen, und das man nach dem Urteil ersten Grades kraft des Prinzips einschalten kann, nach dem es jedem Gläubigen freisteht, sich an den Hl. Stuhl zu wenden. 2002 hat die Rota 135 Urteile in Ehenichtigkeitsverfahren gesprochen. Und dieses Gericht, das in Sachen Rechtsprechung ein Vorbild für die gesamte Kirche ist – oder doch zumindest sein sollte – hat sich in den meisten Fällen – 73, was 54% der gesamten Zahl entspricht – pro vinculo, also gegen die Nichtigkeit ausgesprochen. Was in krassem Gegensatz zu den allermeisten Diözesan- oder Regionsgerichten der katholischen Welt steht. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß 2002 in nur vier Ländern die Urteile der Kirchenrichter – wie eben auch bei der Rota – größtenteils gegen die Nichtigkeit ausgefallen sind: Sambia (5 Urteile ersten Grades pro nullitate, 18 pro vinculo), Belize (1 zu 4), Singapur (4 zu 5) und Weißrußland (7 zu 8). Aber es handelt sich – wie aus den Zahlen ersichtlich ist – um Fälle, die statistisch gesehen unwesentlich sind.

Nichtigkeit fast immer wegen „Mangel im Ehekonsens“, bzw. „Unreife“
Was nun die Gründe angeht, aus denen Ehen für nichtig erklärt werden, muß man sagen, daß es dabei in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle (98,7%) um „Mangel im Ehekonsens“ geht (vgl. Tabelle S. 26). Und unter diese Kategorie fällt auch der „schwere Mangel an der Urteilsfähigkeit“: wie der kanonisc­he Begriff für Unreife lautet, die allein – wie Avvenire am 6. Mai bekanntgab – für 83% der Nichtigkeitsurteile italienischer Regionalgerichte verantwortlich ist.
In diesem Fall gibt es keine großen Unterschiede zwischen den verschiedenen geographischen Zonen. Der „Mangel im Ehekonsens“ hat überall die Oberhand. Zahlenmäßig unbedeutend sind die anderen Gründe für die Nichtigkeitserklärung – wie „Magel in der Form“ (0,2%), „andere Hinderungsgründe“ (0,6%) oder „Impotenz“ (0,5%). Apropos „Impotenz“: von den 244 Fällen an den Kirchengerichten der ganzen Welt betreffen 204 Italien.


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