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LEKTÜRE
Aus Nr. 12 - 2004

Mein weihnachten in Betlehem


Der Artikel von Kardinal Carlo Maria Martini, der am 29. Dezember 2004 in der italienischen Tageszeitung La Stampa erschien.


von Kardinal Carlo Maria Martini


Kardinal Carlo Maria Martini

Kardinal Carlo Maria Martini

Obwohl der Weihnachtstag in Jerusalem im zivilen Kalender ein Tag wie jeder andere ist (dieses Jahr fällt er auf einen shabbat, den wöchentlichen Ruhetag der Juden, aber ohne jeglichen Bezug auf unser Fest), sind sich viele dessen bewußt, daß dieser Tag für die Christen einen wichtigen Festtag darstellt, und beeilen sich, jedem, der ihnen begegnet, „Hag sameah“ zu wünschen. Was man zu jüdischen Festtagen wünscht, und wie folgt übersetzen könnte: Ein frohes Fest! Es bringe Dir Freude! Auch die ein oder andere Festbeleuchtung auf den Straßen, eigens für die Touristen (das Konsumdenken ist manchmal doch ganz hilfreich!), erinnert daran, daß diese Tage für die Christen ganz besondere Tage sind. Die Pilger werden zahlreicher (wenn auch nicht so zahlreich, wie man es sich erwarten sollte), und zum Heiligen Abend strömen die Katholiken (die Orthodoxen feiern Weihnachten an unserem Dreikönigsfest) nach Betlehem. All das läßt unschwer erkennen, daß Weihnachten ein Tag ist, an dem man sich auch hier etwas Großes und Schönes erwartet: ein Geschenk von oben, eine unerwartete Freude, einen Hauch von Frieden nach soviel Leid. Auf diese Weise nehmen auch viele Nicht-Christen etwas vom Sinn dieses Festes wahr, das weniger ein Jahrestag ist (ca. 2004 Jahre nach der Geburt Jesu), sondern das Fest der Hoffnung, dessen, was man ersehnt und erwartet, die letzte und definitive Kundgebung des Reiches Gottes also. Viele Katholiken nehmen am Heiligen Abend an der Messe des lateinischen Patriarchen von Betlehem teil. Der kommt um Mitternacht aus der Sakristei der neben der Geburtsbasilika befindlichen Kirche (wo die Griechisch-Orthodoxen die Messe feiern), mit der Statue des Jesuskindes im Arm, die er in die Mitte des Altars legt. Eine Zeremonie, die wir auch in Mailand eingeführt haben, um daran zu erinnern, was genau sich in der Heiligen Nacht in Jerusalem ereignet. Ich selbst nehme allerdings schon seit Jahren nicht mehr an dieser Messe teil, bei der die Kirche immer bis zum Bersten mit Menschen gefüllt ist und man kaum einen Moment oder Ort für die Besinnung finden kann. Ich ziehe es vor, am Weihnachtsmorgen mit einigen Studenten des Päpstlichen Bibelinstituts Rom zu feiern, die die jüdische Universität Jerusalem besuchen. Wir feiern die Messe in der sogenannten Hieronymus-Grotte. Dieser unterirdische Raum liegt neben der Geburtsgrotte, die ebenfalls gut besucht ist; die Treppe, die dort hinunterführt, ist immer voll mit Menschen, die dann an dem Stern vorbeigehen, der die Stelle der Geburt Jesu anzeigt. Die Grotte erinnert an den 30 Jahre dauernden Aufenthalt des hl. Hieronymus hier in Betlehem, neben dem Ort der Geburt Jesu. Die Gestalt des Hieronymus hat schon immer eine große Faszination auf mich ausgeübt. Dieser intelligente und wissensdurstige Gelehrte hatte sich – der Intrigen und Nachreden der Römer müde – nach Betlehem zurückziehen wollen, um zu beten und die hebräischen und christlichen Schriften zu studieren. Er fertigte vor allem Übersetzungen aus den Originalsprachen ins Lateinische an. Eine mühsame Arbeit in einer Zeit, in der nur wenige des Hebräischen mächtig waren, und es auch an dem nötigen Arbeitswerkzeug fehlte, beispielsweise an Vokabularien oder Grammatikbüchern. Ihm haben wir die lateinische, „Vulgata“ genannte Übersetzung der Bibel zu verdanken, die ihre Aktualtiät bis heute erhalten hat, und die vom Konzil von Trient, im 16. Jahrhundert, zum authentischen Text der lateinischen Kirche erklärt worden war. Hier, im Schatten der Grotte von Betlehem, brütete Hieronymus nächtelang über den Heiligen Schriften, bis ihn – wie er selbst berichtet – der Schlaf übermannte, ihm der Kopf herabsackte, und er auf dem vor ihm liegenden Text einschlief. Dieses Beispiel der Treue zu Jesus in der Schlichtheit Betlehems und diese Treue zu den Heiligen Schriften des ersten und zweiten Testaments inspiriert mich zutiefst. Auch ich fühle mich hier in Jerusalem wie der hl. Hieronymus – wenn auch weit entfernt von seiner Heiligkeit und von seinem asketischen und wissenschaftlichen Eifer –; auch ich will hier den für uns geborenen Herrn anbeten und die Schriften des jüdischen Volkes und die der christlichen Urgemeinden studieren. Auf diese Weise möchte ich etwas mehr über das Geheimnis Gottes und des Menschen in Erfahrung bringen, dem ich so oft in meinem Bischofsamt begegnet bin. Die Weihnachtstage halten also nicht einmal hier besondere „mystische“ Erfahrungen bereit. Es handelt sich in gewisser Weise um ein Fest wie alle anderen; wenn auch um eines, das uns an das kleine Ereignis erinnert, das sich vor 2000 Jahren in Betlehem ereignet und die Weltgeschichte verändert hat. Diese Geschichte folgt noch den alten Wegen; aber wir, die wir mit der Gnade der Taufe die Augen geöffnet haben, erkennen, daß darin, im Geflecht der Alltagsgeschichte, auch in diesem Land, bereits jener Glaube, jene Freude, jene Fähigkeit der Aufnahme und der Aussöhnung wirkt, und jener Friede, den die Engel über der Grotte von Betlehem verkündeten. Von diesem Ort aus möchte ich gern die gesamte Menschheit erreichen, vor allem jene, die ich 23 Jahre lang im Mailänder Dom im Gebet geleitet habe. Ich wünschte, daß ihnen allen die Botschaft zuteil werde, die in dieser kargen Grotte ihren Ausgang nahm: selbst in den einfachsten Dingen unseres Alltags, selbst in den verborgensten und augenscheinlich unbedeutenden, auch in denen, die uns Leid bescheren, ist das Geheimnis Gottes präsent, der sich uns voller Liebe zuwendet. Wie jedes Jahr sehe ich nach dieser Messe bei der Grotte alles mit ein wenig anderen Augen. Auch die Stadt Betlehem, mit all ihrer Trostlosigkeit, den wegen der ausgebliebenen Pilgerscharen fast leeren Straßen, gibt uns Anlaß zu der Hoffnung, daß all das eines Tages der Freude, dem Wohlergehen und dem Frieden weichen wird.


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