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EDITORIAL
Aus Nr. 06 - 2011

Zum 150-jährigen Bestehen des Osservatore Romano

Das Wichtigste sind die Nachrichten aus dem Ausland


Das Wichtigste sind die Nachrichten aus dem Ausland, und angesichts des uns umgebenden Konformismus eine Quelle zu haben, die die Dinge mit einer gewissen Objektivität darstellt, ist ein Privileg, das wir uns nicht entgehen lassen zu dürfen. Interessant ist auch die Auswahl, die Anordnung und die Art und Weise, in der die Nachrichten aus dem Ausland vorgelegt werden.


von Giulio Andreotti


Die Verteiler des <I>Osservatore Romano</I> vor der Druckerei (Foto aus dem Jahr 1936). [© Osservatore Romano]

Die Verteiler des Osservatore Romano vor der Druckerei (Foto aus dem Jahr 1936). [© Osservatore Romano]

 

Ich möchte mich den Glückwünschen jener anschließen, die dem Osservatore Romano am 1. Juli 2011 zu seinem 150-jährigen Bestehen gratuliert haben. Ich tue dies als Doyen der Leser der Zeitung des Heiligen Stuhls, weil ich sie – wie ich schon des Öfteren erwähnt habe – seit dem Heiligen Jahr 1933 kaufe. Ich war damals 14 Jahre alt und besorgte mir den Osservatore am Zeitungsstand vor unserer Wohnung, in der Via di Campo Marzio. Er kostete damals 20 Cent – und das Geld dafür hatte mir meine Mutter eigentlich für eine Brotzeit gegeben. Den Osservatore zu kaufen, gab einem damals einen gewissen „aristokratischen“, elitären Ton, und das gefiel mir. Am Zeitungsstand in der Via di Campo Marzio sah ich immer einen eleganten Herrn mit Melone den Osservatore kaufen – und so wollte ich es auch. Zu Hause wurden damals keine Zeitungen gelesen, und meine Schulkameraden, die den Corriere dello Sport kauften, zogen mich mit meinem „Lesestoff“ immer auf – aber das machte mir nichts, denn so hatte ich am Ende des Tages aus zwei „Quellen“ geschöpft (meinem Osservatore und ihrem Corriere) – und sie nur aus einer. Ich war damals noch ein Junge, und viele Dinge verstand ich natürlich nicht: z.B. das, was der Pfarrer, der mich den Osservatore lesen sah, zu mir sagte: „Sehr gut, jetzt weißt Du jeden Tag, wer vom Heiligen Vater empfangen worden ist.“ Mir war das damals ehrlich gesagt ziemlich egal, da er ja nicht mich empfing – später aber habe ich verstanden, wie man aus den Listen dieser Audienzen tatsächlich die Nachrichten herauslesen konnte. Beispielsweise im September 1948, als man den Botschafter in Washington, Alberto Tarchiani, einen eingefleischten Laizisten, zu Pius XII. schickte, damit er dem Papst erklärte, wie wichtig der Beitritt Italiens zum Nordatlantikpakt sei – etwas, dem der Vatikan recht zögernd gegenüberstand. Von der Audienz fand sich tags darauf in der üblichen Liste des Osservatore kein Wort; stattdessen wurde der Leser in einer kurzen Note lediglich darüber informiert, dass sich Botschafter Tarchiani in Rom aufhielt. Das, und der ausführliche Bericht am nächsten Tag im Innenteil der Zeitung über die Unruhen in der Roten Zone Berlins, vermittelten mir und De Gasperi den Eindruck, dass die Audienz nicht nur stattgefunden hatte, sondern sogar gut verlaufen war.

Im Zusammenhang mit den zwei Jahrzehnten des Faschisten-Regimes muss erwähnt werden, dass der Osservatore die einzige Informationsquelle war, die uns über das auf dem Laufenden hielt, was in Italien und auf der Welt geschah. Damals durften nämlich nur die Komuniquees des Ministeriums für Volkskultur über italienische Belange berichten. Den Osservatore zu kaufen, war also zwar in einem gewissen Sinne riskant, verlieh aber auch ein gewisses Prestige – was heute, wo wir in unserem Konformismus alle so gleich und gleichzeitig in unserem Individualismus doch auch wieder so verschieden sind, fast unverständlich ist.

Die Zeitung wurde damals boykottiert, an den Zeitungsständen hatten die Faschisten ihre „Schläger“ positioniert, so dass manch einer sogar Prügel dafür bezogen hat, den Osservatore lesen zu wollen – beispielsweise der HistorikerClaudio Pavone. Dennoch war der Osservatore so gefragt, dass die Tagesauflage schon bald die 200.000-Grenze überstieg. Vor allem die Acta diurna von Guido Gonella, damals Redakteur für Äußeres des Osservatore, erfreuten sich großer Beliebtheit. Sie stellten sozusagen ein „offenes Fenster“ auf die Welt dar und wurden mit großem Interesse gelesen. Gonella ließ in seine Rubrik Nachrichten aus dem Ausland einfließen, die die zensierte italienische Presse entweder gar nicht brachte oder auf wenig objektive Weise darstellte. Die Acta diurna waren aber nicht nur eine wertvolle Quelle internationaler Informationen, sondern brachten auch viele Fernstehende der Kirche wieder näher. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Osservatore durch seine große Bandbreite an Information eine überaus wichtige Rolle spielte: immerhin konnten wir dort auch die Solidaritätsbotschaften lesen, die Papst Pius XII. an die Staatschefs Belgiens, Hollands und Luxemburgs geschickt hatte, nachdem die Hitler’schen Truppen dort einmarschiert waren.

Schon die „Heiligen Hallen“ des Osservatore betreten zu dürfen, war für uns Jungen damals ein große Ehre. Graf Giuseppe Dalla Torre hatte zwar strikte Order gegeben, dass Besuche beim Osservatore Romano unerwünscht wären, Gonella ließ mich aber trotzdem ab und zu in die Redaktion kommen. Ich hatte eigentlich geglaubt, dass man keine Notiz von mir genommen hätte – viele Jahre später aber konnte ich ein Interview lesen, in dem der ehemalige Chefredakteur des Osservatore amüsiert erzählte, dass er jedes Mal, wenn er in Gonellas Büro kam und ich mich hinter der Tür unsichtbar zu machen suchte, danachseinen Redakteur fragte: „Wer ist denn der junge Kerl?“

Noch eine kuriose Randbemerkung zu Graf Giuseppe Dalla Torre: ich habe ihm einmal geschrieben, dass es bizarr sei, jede Ansprache des Papstes mit folgenden Worten einzuleiten: „Wie wir von seinen erhabenen Lippen vernommen haben“ – mit Quellenangaben in Klammern, einschließlich der Zitatangaben für den Migne. „Warum sagen Sie das dem Heiligen Vater nicht selber?“ lautete seine lapidare Antwort. Und damit war das Thema erledigt.

Guido Gonella in der Redaktion des <I>Osservatore Romano</I>. [© Osservatore Romano]

Guido Gonella in der Redaktion des Osservatore Romano. [© Osservatore Romano]

In regelmäßigen Abständen wird über den offiziellen oder inoffiziellen Status des Osservatore diskutiert. Früher war es keine Frage, dass dieser Status ein offizieller war. Dem ist heute vielleicht nicht mehr so, was aber noch lange nicht heißt, dass sich die Zeitung verändert hätte. Eine Zeitung ist nämlich stets der Spiegel einer Situation: die Zeiten haben sich geändert, und das, was früher auf die Titelseite kam, endet heute auf der letzten Seite, und umgekehrt. Ich glaube, dass der goldene Mittelweg immer der beste ist: vorsichtig sein, nicht immer das letzte Wort haben wollen, sondern lieber beim vorletzten stillschweigen. Die Tradition hat jedenfalls immer noch ihren unbestrittenen Wert, und eine These oder ein Zitat des Osservatore verleiht noch heute eine gewisse Autorität. Damals wie heute: Palmiro Togliatti rechtfertigte seine Abstimmung zugunsten der Lateranverträge in der Verfassungsgebenden Versammlung mit den „Zeichen“ im Osservatore und drängte Pietro Nenni, diese nicht unterzubewerten.

Wenn Sie mich aber nach dem kuriosesten „Rüffel“ fragen, den der Osservatore erteilt hat, dann fällt mir der ein, den Kardinal Ottaviani einstecken musste, als sich auf institutioneller und Regierungs-Ebene intensive Beziehungen zwischen Italien und Russland anbahnten. Kardinal Ottaviani (sonst ein vorbildlicher römischer Priester) machte sich zum Sprachrohr der Unzufriedenheit, die in Kirchenkreisen deswegen herrschte. Der Osservatore beschrieb die Situation danach mitden knappen, lapidaren Worten, dass Kardinal Ottaviani einfach nur „seine persönlichen Gedanken ausgedrückt“ habe. Heute würden wir so etwas als „Routine“ bezeichnen, damals aber war das anders: es war eine Zeit der großen Wenden. Auch nur geringfügig anderer Meinung zu sein, bedeutete, einen Alleingang zu machen.

Doch welche Rolle könnte der Osservatore Romano heute inmitten so vieler Medien spielen?

Das Wichtigste sind die Nachrichten aus dem Ausland, und angesichts des uns umgebenden Konformismus eine Quelle zu haben, die die Dinge mit einer gewissen Objektivität darstellt, ist ein Privileg, das wir uns nicht entgehen lassen zu dürfen. Interessant ist auch die Auswahl, die Anordnung und die Art und Weise, in der die Nachrichten aus dem Ausland vorgelegt werden. Schließlich ist auch das schon ein schon Urteil – eine Beurteilung –, aus dem – wenn auch nur implizit – hervorgeht, was man darüber denkt. Da ich nicht „aus der Branche“ bin, möchte ich das Urteil über die vatikanische Chronik und die theologischen Artikel jedoch lieber den Kirchenmännern überlassen.

Lassen Sie mich meine Glückwünsche an den Osservatore mit einem Satz von Vittorio Bachelet beenden, den er vor ein paar Jahren im Osservatore in der Rubrik „Geistliches Wort“ geschrieben hat und den ich mir wegen seiner anhaltenden Aktualität aufgehoben habe: „Unsere Zeiten sind keine einfachen: die politischen Schwierigkeiten, die Ungewissheit, die Widersprüche warnen uns, dass unser Weg nicht ohne Risiken sein wird, dass er unsere ganze Verantwortung erfordert, vor allem unseren ganzen einfachen Glauben, unsere ganze lebendige Hoffnung, unsere ganze wahrhaftige Liebe.“



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