Startseite > Archiv > 11 - 2011 > Die Gefahr der messianischen Bewegungen
TRADITION UND BEWEGUNGEN
Aus Nr. 11 - 2011

Die Gefahr der messianischen Bewegungen


Begegnung mit Rav Riccardo Di Segni, Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde von Rom.


Interview mit Riccardo Di Segni von Giovanni Cubeddu


Ein charakteristisches Merkmal der kleinen, aber nicht unbedeutenden jüdischen Gemeinde Italiens ist ihre Gastfreundschaft. Sie kam im Lauf der Jahrhunderte zuweilen periodisch den deutschen, spanischen und portugiesischen Juden zugute, und in jüngerer Vergangenheit den jüdischen Emigranten aus arabischen und islamischen Ländern. Die italienischen Juden sind normalerweise orthodox und nehmen an der Liturgie in hebräischer Sprache teil, und diese kollektive Identität wurde an sich nie erschüttert durch die Tatsache, dass die Gemeinde ein Anlaufhafen war. Die heute aktuellen Fragen hängen eher mit der Assimilierung zusammen und betreffen seit kurzer Zeit auch die Entscheidung einiger Neuankömmlinge, mit einer militanten ultraorthodoxen Haltung auf die Säkularisierung zu reagieren. An der Spitze der ältesten jüdischen Diasporagemeinde, nämlich der Roms, steht heute der Rabbiner Riccardo Di Segni. Wir haben mit ihm über die aktuellen Ereignisse gesprochen.

 

Der Rabbiner Riccardo Di Segni. [© Agenzia Contrasto]

Der Rabbiner Riccardo Di Segni. [© Agenzia Contrasto]

Herr OberrabbinerDi Segni, mittlerweile macht sich auch in Rom die Präsenz neuer Identitäten des Judentums spürbar.

RICCARDO DI SEGNI: Mir ist zu Ohren gekommen, dass Johannes Paul II. einmal gefragt hat, warum sich die römischen Juden nicht durch ihre Kleidung unterscheiden, wie es dagegen die polnischen Juden tun. Der Papst, der in seiner Jugend ein Judentum erlebt hatte, das vollkommen anders war als das italienische – das polnische Judentum, das sich vor allem durch seine hohe Zahl auszeichnete –, war den Anblick von Juden gewohnt, „die sich als Juden kleideten“. Es gibt viele Arten, sich jüdisch zu kleiden, und der Jude unterschied sich letztendlich stark von der Bevölkerung, in der er lebte. In Italien gibt es diese äußerliche Unterscheidung nicht, und es hat sie vielleicht niemals gegeben – außer bei den durch die antijüdischen Vorschriften auferlegten äußeren Zeichen. Die italienischen Juden haben sich immer gekleidet wie alle anderen, das ist ein nicht unbedeutendes kulturelles Merkmal von uns. In den westlichen Ländern ziehen sich die Juden an wie alle anderen, mit Ausnahme einiger orthodoxerer Gruppen, die eine Art Uniform tragen.

Allerdings sind dazu einige kurze Vorbemerkungen notwendig.

In der Tat. Die jüdische orthodoxe Welt kennt viele Varianten. Es gibt das „modern orthodox“ genannte Modell, das für Personen mit orthodoxer Auffassung und Gläubigkeit charakteristisch ist: in ihrer Kleidung gibt es keine besonderen Kennzeichen, außer dass der Mann eine Kopfbedeckung trägt und die Frau sich „sittsam“ kleidet, das heißt ohne ihren Körper zur Schau zu stellen. Dann gibt es Modelle, die zu Unrecht als ultraorthodox bezeichnet werden: Juden, die sich schwarz kleiden (einige tragen zum Schwarz einfach ein weißes Hemd und einen „Borsalino“-Hut, andere fügen noch andere Variationen hinzu). Ein derartiger Kleiderkodex ist der italienischen Tradition fremd. Er wurde erst kürzlich importiert, denn es gibt eine Bewegung, deren Mitglieder sich durch ihre Kleidung auszeichnen. Sie kommen vor allem aus den orthodoxen Kerngruppen der Vereinigten Staaten, Israels oder Frankreichs, und häufig handelt es sich nicht um einfache Juden, sondern um Rabbiner. Und das führt uns zur Diskussion darüber, wie die Rabbiner sich kleiden sollten, was nach Zeit und Ort unterschiedlich gehandhabt wird: einmal werden besondere Feierlichkeit, Strenge und spezielle Kopfbedeckungen gefordert, ein andermal ist Einfachheit ausreichend. Es gibt alle Varianten…

Wenn wir nun auch in Italien und Rom eine Vielfalt an Kleidung sehen, dann liegt das nicht an einer Veränderung des autochthonen Judentums, sondern an den neu hinzugekommenen Juden.

Könnte diese Veränderung weitreichende Folgen haben?

Hier kommt vor allem das Element der Mobilität zum Tragen. Das heutige italienische Judentum unterscheidet sich in seiner Zusammensetzung sehr von dem vor dem Zweiten Weltkrieg, als die hier ansässigen Juden größtenteils Alteingesessene waren. Aus dem Krieg ging das italienische Judentum stark reduziert hervor, in seiner lokalen Komponente verkleinert. Danach wurde es dann wieder verstärkt durch den Zustrom von Juden aus Nordafrika, vor allem libyschen Juden – aber auch Ägyptern, Tunesiern und Marokkanern, syrischen und libanesischen Juden, die sich in Norditalien niedergelassen hatten, und von aschkenasischen Juden aus Mitteleuropa. So wurde das italienische Judentum einerseits gestärkt, andererseits aber auch zersplittert. Was die Kleidung angeht, ist ein starker kultureller Einfluss der aschkenasischen Welt festzustellen, die eine kulturelle Führungsrolle in der religiösen Welt übernommen hat oder übernehmen will.

Ein Phänomen, das besonders in Israel stark zu spüren war…

… Das ging solange, bis sich die Sepharden dieser Hegemonie widersetzt haben – also der Besetzung von Führungsrollen, z.B in den Schulen, durch eine bestimmte Gruppe – und es sogar zur Gründung einer politischen Partei (der SCHAS) kam. Teil dieses Versuchs, die Macht zurückzugewinnen, ist die Nachahmung äußerer Merkmale, weshalb sich ein sephardischer Jude wie ein Aschkenasi aus Mitteleuropa kleidet. Und das ist sehr seltsam, denn warum hätten sich die sephardischen Rabbiner in Afrika oder im Irak schwarz kleiden sollen, mit warmen Gewändern auch im Sommer…? Heute scheint es so, dass der Look des Rabbiners überall gleich sein sollte.

Diese neuen Bewegungen gibt es auch in Italien.

Für die jüdische Welt stellen sie eine Neuheit dar, sie haben eine Mission, die auf das Innere der Gemeinschaft abzielt. Das Judentum kennt keine Missionierung nach außen, die Bewahrung unserer Traditionen geschieht durch altbewährte Mechanismen: Schule, Synagoge, Familie. Eine Neuheit der letzten 50 Jahre sind die Outreach-Bewegungen, wie man sie in Amerika nennt. Sie setzen sich dafür ein, die religiöse Botschaft in weitere Teile der jüdischen Welt zu tragen, um so die weitverbreitete Tendenz zu bekämpfen, sich in die eigene kleine strenggläubige Gruppe zurückzuziehen und sich zu isolieren. Die Bewegungen dagegen versuchen, die Botschaft möglichst weit nach außen zu tragen. Das ist neu.

Junge römische Juden in der Synagoge. [© Agenzia Contrasto]

Junge römische Juden in der Synagoge. [© Agenzia Contrasto]

Neue Bewegungen, die aber zum Teil in Ausdrucksformen des Judentums der vergangenen Jahrhunderte verankert sind.

Eine sehr starke Antriebsfeder dieser Bewegungen ist die chassidische Tradition. Der Chassidismus entstand Mitte des 18. Jahrhunderts als Strömung, in der es eine charismatische Führungspersönlichkeit gab, die im Judentum die emotionale und spirituelle Dimension wiederentdeckte – im Gegensatz oder zumindest als Ergänzung zur intellektuellen Komponente, die im Lauf der Jahrhunderte vorherrschend geworden war. Diese Bewegung hat einen starken Einfluss auf das Volk und wird von Führungspersönlichkeiten organisiert, die Führer einer Dynastie werden, Gruppen mit einem eigenen Lehrer, dem „Rebbe“. Im Lauf der Zeit blieben diese einflussreichen Gruppen aber in sich selbst verschlossen und förderten die Spiritualität in ihrem Inneren. Inzwischen tendiert man auch mehr dazu, die starke Ausstrahlung, die von der charismatischen Autorität ausgeht, zu nutzen und durch die ganze Welt zu schicken, um das Judentum zu verbreiten. Es ist eine Art Mission, die im Judentum der letzten Jahrhunderte selten ist: vielleicht war es nicht nötig, weil die Juden andere Organisationsformen hatten, während sie sich heute organisieren wollen, um der Zersplitterung des jüdischen Glaubens entgegenzuwirken…

Ist diese Mission wirklich nur intern?

Ich glaube ja, diese Initiativen sind institutionell nicht nach außen offen. Die Mission geschieht innerhalb des jüdischen Volkes. Auch die Bewegungen respektieren tendenziell sehr stark die alte jüdische Haltung der Ablehnung des Proselytismus. Wenn jemand von außen Interesse zeigt, kann er auf verschiedeneWeiseteilnehmen. Es gibt wohl auch den ein oder anderen, der vollständig verlorenwar und nicht einmal wusste, dass er jüdischen Ursprungs ist und so die eigenen Wurzeln wiederentdeckt… In diesem Sinne wendet man sich an ein breiteres Publikum.

Die Chabad-Bewegung [besser bekannt unter dem Namen Chabad-Lubawitsch, gegründet im 18. Jahrhundert von dem polnisch-litauischen Rabbiner Schneur Salman aus Liadi, einer Stadt des russischen Zarenreiches, Anm. d. Red.] ist gerade dabei, zu diesem Thema des „Nicht-Juden“ einen Diskurs zu entwickeln, der im übrigen Judentum nicht so recht vorankommt. Der religiösen Tradition des Judentums entsprechend haben die Juden eine besondere priesterliche Ordnung zu befolgen, die eine große Zahl von Regeln umfasst. In der jüdischen Tradition gibt es aber auch grundlegende Normen, die die gesamte Menschheit betreffen, die Noachiden, das heißt die Nachkommen Noachs, wie wir sie nennen. Kein Jude missioniert die Noachiden, indem er sie daran erinnert, dass diese zu beachtenden Normen existieren: die chassidischen Gruppen dagegen tun etwas in dieser Richtung.

Das kann dem Dialog dienlich sein. Andererseits werden diese Bewegungen von einem charismatischen Führer geleitet – mit besonderen Kenntnissen und einer besonderen Ausübung des Charismas.

Sie haben eine sehr strenge Haltung gegenüber der Tradition, was bedeutet, dass das, was der Lehrer sagt, nicht zur Diskussion steht. Dagegen gibt es in anderen Strömungen desselben strenggläubigen Judentums immer eine Pluralität, eine Dynamik, einen Vergleich der möglichen Antworten und Lösungen. Hier dagegen herrscht eine gewisse doktrinelle Härte. Und dann ist das Charisma an die Person gebunden, das heißt es gehört dem Leiter.

Es handelt sich dabei auch um messianische Bewegungen. Auffallend aber ist, dass bei einigen von ihnen die Erwartung des Messias nicht die Erwartung einer Person ist, sondern die eines Prinzips.

Es gibt da eine große Diskussion. Im orthodoxen Judentum neigt man dazu, die Erwartung des Prinzips etwas zurückzustellen zugunsten der Erwartung der Person. Die Debatte ist nicht entschieden. Aber zu sagen, dass der Messianismus eine „Epoche“ sei und nicht eine Person, das ist etwas, das schon am Rand der Rechtgläubigkeit einzuordnen ist. Es handelte sich um eine Form der Rationalisierung – der Messianismus als Epoche und nicht als Person –, die auch das italienische Judentum ein wenig mitgezogen hat.

Wie ist der Messianismus dieser neuen jüdischen Bewegungen einzuordnen?

Der bedeutendste Messianismus ist Teil des Christentums. Der Christ sagt, dass Christus der Messias ist, Christentum ist wesentlich Messianismus. Für das Judentum ist die messianische Idee eine von vielen. Es ist eine Spannung, eine Erwartung, und das Judentum könnte theoretisch ohne den verwirklichten Messianismus existieren – wie es de facto existiert. Aber unter den verschiedenen Arten, das Judentum zu sehen und zu leben, gibt es Gruppen, in denen die messianische Erwartung sehr stark wird. Und das kann umgesetzt werden sowohl in eine intensive Religiosität als auch in intensive Politik. Welche Gefahr besteht dabei? Der Messianismus ist eine Idee, die eine starke Antriebskraft für die Menschheit auf ihrem Weg ist, aber wohin treibt er sie? Auch der Marxismus und die aus ihm entstandenen Bewegungen stellen politische Erfahrungen dar, mit dem religiösen Elan des Messianismus. Wenn der Messianismus der Religion Schwung verleiht, hat er einen positiven Einfluss, aber wenn er zu einem Deutungsschlüssel wird und bei einigen sogar das Bewusstsein eines realisierten Messianismus besteht, dann befinden wir uns in einer gefährlichen Situation.

Die Große Synagoge von Rom. [© Romano Siciliani]

Die Große Synagoge von Rom. [© Romano Siciliani]

Einige Episoden um das aschkenasische Judentum sind emblematisch, 30Tage hat bereits über Sabbatai Zevi und Jacob Frank berichtet.

Im Judentum gibt es sehr viele Pseudomessiasse, die die Geschichte als Betrüger entlarvt hat, die aber sogar heute noch heimliche Anhänger haben.

Ein zwar unausgesprochenes, aber reales Thema im Leben des heutigen Judentums also?

Die Geschichte stellt das jüdische Volk beständig vor dramatische Herausforderungen, über die man nachdenkt, um ihren Sinn zu verstehen. Das geschah mehrmals, und auf die großen Fragen gab es große Antworten, oder im Gegenteil einegroße Flucht aus der Realität, Illusionen, Neuinterpretationen oder … Bewegungen. Was mit dem jüdischen Volk im vergangenen Jahrhundert passiert ist, gehört vielleicht zum Größten seiner Geschichte und hat uns vor Fragen gestellt, die schwer zu beantworten sind. Hier bringt sicherlich die messianische Deutung ihre Kraft ins Spiel. Aber die messianische Frage stellt sich als Interpretation der Geschichte nicht nur im Augenblick des Unglücks, sondern auch wenn die Weltordnung sich ändert. Und ein Augenblick, in dem sich die Weltordnung geändert hat, war das Jahr 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer. Er war so epochemachend, dass er den Lauf der Geschichte umgelenkt und Fragen aufgeworfen hat, die vorschnelle Schlüsse und Nachdenklichkeit ausgelöst haben.

Auch jetzt befinden wir uns in einer Zeit des Wandels.

Aber der geschieht hoffentlichohne Millionen von Toten… Heute gibt es eine große Unsicherheit: Waffen, die immer einsatzbereit sind, große Massen von Armen, wirtschaftliches Ungleichgewicht, die westlichen Gesellschaften, die vor Probleme gestellt werden, die ihre Identität in Frage stellen. Unter bestimmten Gesichtspunkten erwartet man, dass alles möglich ist. Und dann kommt wieder die Idee auf, dass die Geschichte ihrer Erfüllung entgegengeht.

Was wird im Alltag aus dem traditionellen Judentum Italiens, wenn es mit diesen neuen/ alten Strömungen konfrontiert wird?

Es gibt einen ständigen Austausch, nicht unter den großen messianischen Ideen – das ganz und gar nicht –, aber unter den Modellen des Judentums, die im eigenen Leben intensiv oder marginär gelebt werden. Es gibt eine Diskussion: einer erkennt das Gute darin, das heißt die Wichtigkeit einer Wiederannäherung an die Traditionen, andere erleben das problematischer. Und dann gibt es da auch ein wenig einen Zusammenstoß der Traditionen, denn diejenigen Traditionen, die von außen dazukommen, ähneln nicht notwendigerweise den örtlichen strenggläubigen Traditionen…



Italiano Español English Français Português