Verfolgt in allerjüngster Zeit
Der Erste Brief des Clemens an die Korinther, in dem von den Verfolgungen die Rede ist, die die Christen „wegen Eifersucht und Neid“ erdulden mussten, wurde kurz nach dem Tode Neros verfasst, also nur wenige Jahre
nach dem Martyrium der Heiligen Petrus und Paulus in Rom.
Ein Artikel des emeritierten Präsidenten des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften.
von Kardinal Walter Brandmüller

Die Heiligen Petrus und Clemens, Detail des Apsismosaiks der römischen Basilika San Clemente (12, Jh).
Im Vergleich zu den bekannten schriftlichen Zeugnissen der frühen Kirche steht der Erste Clemensbrief den neutestamentlichen Schriften zeitlich am nächsten. Dass er deswegen seit langem die besondere Aufmerksamkeit der Forschung gefunden hat, kann nicht verwundern. Vor allem aber wurde und wird dieser Text deswegen so eingehend diskutiert, weil die katholische Tradition in ihm das früheste außerbiblische Zeugnis für den Vorrang der römischen Kirche innerhalb der Christenheit erblickt.
Von besonderem Interesse ist deshalb die Frage der Abfassungszeit. Im allgemeinen wird angenommen, der Erste Clemensbrief sei gegen Ende des 1. christlichen Jahrhunderts geschrieben worden. Dafür beruft man sich auf die Erwähnung von Verfolgungen der Christen und denkt dabei an die Zeit des Kaisers Domitian, der von 81 bis 96 regiert hat.
Nun allerdings werden seit geraumer Zeit Zweifel an dieser Datierung geäußert und genauere Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Christenverfolgung unter Domitian nicht stattgefunden hat.
Im Kapitel 5 des Briefes, der ein Aufruf zu Einigkeit und Liebe innerhalb der Kirche ist, ist von den unheilvollen Folgen von Eifersucht für die christliche Gemeinschaft die Rede. Dafür führt der Verfasser eine Reihe von Beispielen aus dem Alten Testament an und fährt fort: „Doch um mit den alten Beispielen aufzuhören, laßt uns zu den Kämpfen der jüngsten Zeit kommen! Wegen Eifersucht und Neid wurden die größten und gerechtesten Säulen verfolgt und kämpften bis zum Tode. Halten wir uns die tapferen Apostel vor Augen: Petrus, der wegen unberechtigter Eifersucht nicht eine oder zwei, sondern viele Mühsale erduldete … Angesichts von Eifersucht und Streit verwies Paulus auf den Kampfpreis der Geduld … So schied er aus der Welt und gelangte an den heiligen Ort als größtes Beispiel für Geduld.“
Im Anschlußβ daran spricht der Brief gleich von den Märtyrern der Verfolgung durch Nero, wobei er – wie später auch Tacitus (56-117) – deren Todesart erwähnt und dabei ausdrücklich bemerkt, all dies sei „bei uns“ (in Rom) geschehen – •n ämîn – und zwar ≤ggista, d. h. in allerjüngster Zeit.
Das aber bedeutet, dass die Verfolgung des Nero noch zum unmittelbaren Erleben des Verfassers gehört. Der Brief kann also nicht lange nach Neros Tod (68) – das Jahr der Christenmassaker (64/65) steht nicht sicher fest – geschrieben worden sein.
In diesem Zusammenhang wird auch die Frage erörtert, ob mit den von Clemens zitierten Ausbrüchen von Neid und Eifersucht, denen die Apostel Petrus und Paulus zum Opfer gefallen sind, Konflikte innerhalb der christlichen Gemeinde Roms gemeint sein könnten. Die bekannten Auseinandersetzungen um Markion, Valentin, Cerdo gehören einer späteren Generation an.
Weit wahrscheinlicher ist an Spannungen zwischen Christen und Juden zu denken. Vergessen wir nicht, dass in diesen Jahrzehnten die Abgrenzung zwischen Juden und Christen in vollem Gange war – eine für Neid und Eifersucht durchaus förderliche Situation.
Zudem erfahren wir von Flavius Josephus, dass Neros Frau Poppaea Proselytin, d. h. der jüdischen Kirche zugetan gewesen sei, weshalb sie enge Kontakte zu jüdischen Kreisen in Rom gehabt haben mußte. Wäre es daher nicht denkbar, dass sie es war, die bei der Suche nach Sündenböcken für den Brand von Rom Neros Blick auf die von den Juden ungeliebten christlichen Abweichler gelenkt habe?
Bei all diesen Erklärungsversuchen ist indes Vorsicht geboten, da eindeutige Quellenaussagen fehlen.
Nun ist aber auch die Frage nach dem Verfasser zu stellen. Dass es sich bei unserem Text – der eine Abhandlung in Form eines Briefes darstellt – nicht um das Elaborat eines Kollektivs handeln kann, ist offensichtlich. Es kann nur formal die „Kirche Gottes, die in Rom in der Fremde lebt“ sein, die an die Kirche in Korinth schreibt. Als jener, der ihr seine Feder geliehen hat, gilt „Clemens“. Diesen Namen nennt – soweit bekannt ist – zum ersten Mal Bischof Dionysius von Korinth in einem Antwortschreiben an Papst Soter (ca. 166-174). Er schreibt: „Wir feiern heute den heiligen Tag des Herrn und haben an demselben euren Brief verlesen, welchen wir gleich dem früheren durch Clemens uns zugesandten Schreiben stets zur Belehrung verlesen werden.“
Wenn dieser Clemens in gleichem Atemzug mit dem römischen Bischof Soter genannt und sein Brief gleichrangig mit einem Papstschreiben im Gottesdienst verlesen wird, dann dürfte mit diesem Clemens ebenfalls ein Bischof von Rom gemeint sein. In diese Richtung weist wohl auch die Erwähnung eines römischen Clemens in der Schrift „Hirt des Hermas“ aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, da dem Zusammenhang nach dieser Clemens eine Persönlichkeit von hoher Autorität war.
Vergessen wir nicht, dass der Clemensbrief bis in das 4. Jahrhundert in den meisten Kirchen wie früher so auch jetzt noch im öffentlichen Gebrauch war. Besonders in Ägypten und Syrien genoß er beinahe kanonisches Ansehen.
![Die “Graffiti-Wand” mit der Öffnung zu der Nische, in der die Reliquien des Petrus ruhen; Nekropole unter dem Petersdom, Vatikanstadt. [© Veneranda Fabbrica di San Pietro]](http://www.30giorni.it/upload/articoli_immagini_interne/51-11-011.jpg)
Die “Graffiti-Wand” mit der Öffnung zu der Nische, in der die Reliquien des Petrus ruhen; Nekropole unter dem Petersdom, Vatikanstadt. [© Veneranda Fabbrica di San Pietro]
Nun haben, wie erwähnt, alle diese Erörterungen bzw. Kontroversen einen Hintergrund: Kann der Erste Clemensbrief als erstes nachbiblisches Zeugnis für den universalkirchlichen Leitungsvorrang des Bischofs von Rom angesehen werden? Je nach konfessionellem Standpunkt fallen die Antworten darauf unterschiedlich aus.
Dass es ein krasser Anachronismus wäre, zu fragen, ob der römische Primat in der Ausprägung der beiden Vatikanischen Konzilien durch den Ersten Clemensbrief bezeugt sei, dürfte klar sein. Dennoch wird man fragen dürfen, ob nicht bereits hier eine gesamtkirchliche Verantwortung der Ecclesia Romana in Erscheinung tritt.
Dazu ist zunächst ein Blick auf Anlaß und Inhalt des Briefes zu werfen. Wie also kommt es überhaupt zur Abfassung dieses Schreibens?
Aus dem Text ist zu entnehmen, dass es in der korinthischen Gemeinde zu einer Spaltung gekommen war, weil junge Leute sich gegen die Presbyter der Gemeinde aufgelehnt und diese aus dem Amt verdrängt hatten.
Dass in dieser das kirchliche Leben in Korinth bedrohenden Situation Rom eingreift, ist bemerkenswert. Es ist völlig unbekannt, ob dies auf Grund eines Hilfeersuchens der gestürzten Amtsträger geschehen sei, oder ob Rom die Initiative „Motu proprio“ ergriffen habe. Für unsere Frage ist dies unerheblich, denn im einen Fall hätten die beschwerdeführenden Presbyter in Rom die Autorität erkannt, die ihre Rechte wahren konnte, im anderen würde die römische Intervention für die Selbstverständlichkeit zeugen, mit der die Ecclesia Romana gesamtkirchliche Autorität ausübte.
Das ist umso bemerkenswerter, als zu der Zeit, in der der Brief nach Korinth abgesandt wurde – ganz gleich ob man ihn früher oder erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts datiert – in Ephesus noch einer der Zwölf, Johannes, am Leben war. Dazu kommt, dass die Entfernung zwischen Korinth und Ephesus auf dem Landweg ca. 1300 km, auf dem Seeweg weniger als die Hälfte betrug, während Rom auf dem Landwege 2500 km entfernt war.
Es mußβ also einen Grund dafür gegeben haben, dass nicht der letzte der Zwölf, sondern der Bischof von Rom in dieser Situation angegangen wurde, bzw. eingriff.
Die Annahme, dass es eben um den Petrusnachfolger als die entscheidende Instanz ging, dürfte kaum verfehlt sein.