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JAHRESTAGE
Aus Nr. 03/04 - 2012

400 Jahre Vatikanisches Geheimarchiv – Lux in arcana

Die Kirche und ihr Hang zur Bewahrung des Gedächtnisses


Interview mit Kardinal-Bibliothekar Raffaele Farina: Warum die Kirche schon immer das Bedürfnis verspürt hat, die Akten und Dokumente ihres Wirkens systematisch aufzubewahren.


Interview mit Kardinal Raffaele Farina von Roberto Rotondo


Der transitus Domini, der “Durchgang des Herrn durch die Welt”, der die Kirche gemäß diesem von Paul VI. geprägten Begriff mit der Tradition und ihren Ursprüngen verbindet, ist der wichtigste, aber auch am wenigsten betonte Aspekt des Vatikanischen Geheimarchivs. Weitaus berühmter ist das Zentralarchiv des Heiligen Stuhls wegen seiner Dimensionen: geschaffen vor 400 Jahren von Papst Paul V. an dem Sitz, wo es sich noch heute befindet und den man über den Belvedere-Hof erreicht, sind in seinen stolzen 85 Regalkilometern 12 Jahrhunderte Geschichte gesammelt. Es ist eines der wichtigsten und berühmtesten Zentren geschichtlicher Forschung der Welt. Sein Bestand beläuft sich auf Millionen von Dokumenten – viele davon von unschätzbarem historischen Wert –, und ist natürlich in ständigem Wachstum begriffen. Um zu verstehen, wozu das Archiv der Päpste dient und wie es aufgebaut ist, haben wir Kardinal Raffaele Farina, Archivar des Vatikanischen Geheimarchivs und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche, einige Fragen gestellt. Der Kardinal-Bibliothekar ist eine Art Patron der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek und des Geheimarchivs; die Leitung dagegen obliegt zwei Präfekten. Kardinal Farina, Salesianer, Historiker und Exeget, der auch als Präfekt der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek Erfahrungen sammeln konnte, empfängt uns in seinem Arbeitszimmer. Bevor unser eigentliches Interview beginnt, ist es ihm ein Anliegen, die besondere Beziehung herauszustellen, die Papst Benedikt XVI. zur Bibliothek und zum Archiv hat: als er 2007 in die Bibliothek kam, erzählte er, Johannes Paul II. mehrfach um seine Ernennung zum Kardinal-Bibliothekar gebeten zu haben, als er noch Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre war; ja, dass er eine Zeitlang sogar überzeugt davon gewesen sei, dass das seine Zukunft wäre. Doch dann kam bekanntlich alles anders, und in die Bibliothek ist er erst wieder gekommen, als er schon Papst war...

 

 Kardinal  Raffaele Farina. [© Romano Siciliani]

Kardinal Raffaele Farina. [© Romano Siciliani]

Eminenz, das Geheimarchiv ist 400 Jahre alt, die Dokumente in seinem Besitz sind noch viel älter. Woher dieses Bedürfnis der Kirche, Akten und Dokumente über ihre Aktivität systematisch aufzubewahren?

RAFFAELE FARINA: Schon seit den Anfängen der Kirche von Rom pflegten die Päpste – wie uns auch der Liber Pontificalis berichtet – in ihrem jeweiligen “scrinium” (Archiv) die Gesta martyrum [lateinische Sammlung von Erzählungen zu den Taten der Märtyrer, Anm.d.Red.] die liturgischen Kodexe, die Urkunden von Bischofsweihen und Schenkungen für den Bischof von Rom und die Christen der ersten Jahrhunderte aufzubewahren. Der Grund dafür war einmal das Erfordernis, das Gedächtnis der entstehenden Kirche nach den Verfolgungen weiterzugeben. Es hatte aber auch eine „verwaltungstechnische“ Ursache, denn natürlich hatte die Kirche von Rom den Wunsch, die für Christus gestorbenen Glaubenszeugen (ihren wertvollsten Glaubensschatz!), das Wirken der Bischöfe und der Gläubigen in der Ewigen Stadt zu kennen.

Ab dem 4. Jahrhundert konnte das Archiv der Kirche von Rom einen wahren Reichtum anhäufen an Dokumenten, Kodexen, Provinzbüchern, Eidesformeln, Urkunden zu Kirchenweihen oder Abtei-Gründungen, Papyri über den päpstlichen Briefwechsel mit den Kaisern, zuerst des Morgen- und dann des Abendlandes, sowie andere pastorale und administrative Schriften – beispielsweise den Liber diurnus Romanorum Pontificum, eine antike Brief- und Formularsammlung für den kirchlichen Kanzlei- und Verwaltungsgebrauch, die auf Ende 8. /Anfang 9. Jahrhundert zurückgeht.

Der Grund war also nicht allein eine Notwendigkeit, die mit den Funktionen des Papsttums, vor allem mit der Ausübung der zeitlichen Macht zu tun hatte...

Am Anfang stand nicht die zeitliche Macht des Papstes – die begann erst mit Papst Hadrian (772-795) –, sondern die pastorale, administrative Sorge der Bewahrung des Gedächtnisses. Mit der Entstehung des Kirchenstaats kam dann noch die Sorge dazu, das dem Papst unterstellte Patrimonium Petri verwalten zu müssen. Die Hauptsorge der Kirche ist jedoch wie gesagt das fast schon instinktive Bedürfnis, das, was sie mit ihren Ursprüngen verbindet, zu bewahren und zu pflegen. Auch Handschriften wurden in der Antike als eine Art Reliquie betrachtet.

Das Archiv hat eine bewegte Geschichte hinter sich, bevor es an seinen jetzigen Sitz verlegt wurde. War die Einrichtung eines Zentralarchivs im 17. Jahrhundert auch auf die Erfordernisse der neu entstandenen Archivwissenschaft zurückzuführen?

Dabei haben wohl verschiedene Gründe eine Rolle gespielt. Bestehen bleibt jedoch der Umstand, dass die Päpste des 16. und 17. Jahrhunderts mehrfach versucht haben, die Dokumente des Heiligen Stuhls an einem einzigen, gut bewachten Ort unterzubringen: das hat nicht nur Paul IV. (1555-1559) getan, sondern auch der hl. Pius V. (1566-1572), Sixtus V. (1585-1590) und Klemens VIII. (1592-1605). Aus verschiedenen Gründen sind jedoch alle diese Versuche gescheitert. Gelungen ist es erst Paul V. Borghese. Anfang 1612 ließ er mehrere Einzelsammlungen aus dem Apostolischen Palast und dem alten Engelsburgarchiv in den Gemächern zusammenführen, die an den Sixtinischen Saal der Vatikanischen Bibliothek angrenzen und die bis zum damaligen Zeitpunkt vom Kardinalnepoten bewohnt worden waren.

Das Archiv wurde auch als “Ozean” definiert – aber gibt es vielleicht nicht doch einen Sektor, der wichtiger ist als die anderen?

Alle Archivakten sind gleichwertig. Sie gehören alle zu einem unicum, das die Bestände miteinander verbindet, sie zusammenhält. Einem dieser Werke mehr Bedeutung beizumessen und ein anderes abzuwerten würde bedeuten, dass man es entweder behalten oder aussortieren müsste. Und so verfährt man in Archiven nicht. Alle Schriften sind wichtig, alle haben ihren Grund, der sie letztendlich alle miteinander verbindet. Das soll aber nicht heißen, dass manche berühmte geschichtliche Dokumente die Phantasie oder das Interesse der Historiker nicht mehr anregen könnten als andere.

<I>Der Saal der musizierenden Engel</I> im "Piano Nobile" des Vatikanischen Geheimarchivs. [© Palombi Editore]

Der Saal der musizierenden Engel im "Piano Nobile" des Vatikanischen Geheimarchivs. [© Palombi Editore]

Welche Rolle spielt das Vatikanische Geheimarchiv heute für die Kirche und den Papst? Welche Bedeutung hat es?

Im Vatikanischen Geheimarchiv sind die Akten der römischen Päpste und ihrer Kurie nahezu lückenlos aufbewahrt, vom 11. Jahrhundert bis heute. Daher seine unleugbar große Bedeutung. Die Rolle des Archivs ist zunächst einmal “administrativer” Art, dient es dem Papst und den Ämtern der Römischen Kurie doch für das Studium von Präzedenzfällen bei heiklen Fragen und Situationen. In diesem Sinne kommt das Archiv hauptsächlich und vor allem dem Papst und dem Staatssekretariat zugute. Seine Rolle ist aber auch die der Bewahrung des Gedächtnisses des Heiligen Stuhls. Das Archiv erhält in regelmäßigen Abständen „Zuwachs“ aus den Archiven der Ämter der Römischen Kurie (mit einigen Ausnahmen) und aus dem Dokumentationsmaterial der verschiedenen Päpstlichen Vertretungen auf der ganzen Welt.

Glauben Sie nicht, dass das Archiv, unter einem journalistischen Aspekt, gerade wegen seiner Aktualität einen guten Einblick in die Strukturen und die Arbeitsweise der vatikanischen Ämter erlaubt? Schließlich wirft die diplomatische Korrespondenz zwischen dem Staatssekretariat und den Apostolische Nuntien – unabhängig von den behandelten Themen – Licht auf eine Art zu denken und zu handeln, die sich mit den Jahren – und den Pontifikaten – nicht wirklich verändert hat…

Ja, aber es gibt noch einen anderen Aspekt, der sehr genau studiert wurde: die Kirche trägt seit dem Ende der Verfolgungen den Stempel der von Diokletian und Konstantin gewollten Staatsreform, und das gilt sowohl für die geographische Aufteilung in Diözesen, als auch für die “Übernahme” der kaiserlichen Kanzleien. Manchmal übersehen die Historiker, dass die Kanzleien ihre eigene Politik verfolgten und in manchen Bereichen auch ein gewisses Entscheidungsrecht hatten. Um die Verhaltensweisen der Päpste der Vergangenheit zu verstehen, muss man also auch das Staatssekretariat, die Kurie, in Betracht ziehen.

Wie viele Beschäftigte hat das Archiv?

Die ordentliche Leitung des Archivs vertraut der Papst seinem Präfekten an, dem wiederum ein Vizepräfekt zur Seite steht, ein Generalsekretär, Archivare, Skriptoren, Hilfspersonal und Angestellte auf verschiedenen Ebenen: insgesamt 54 Personen. Eine geringe Zahl, verglichen mit dem Personal ähnlicher anderer Staatsarchive. Wir hoffen, dass das Personal, im Rahmen des für die Bilanz des Heiligen Stuhls Möglichen, noch aufgestockt werden kann. Der Heilige Stuhl stellt allerdings für das Vatikanische Geheimarchiv, das Gelehrte aus der ganzen Welt unentgeltlich konsultieren können, ohnehin schon eine große Summe bereit.

Wie wichtig ist das Archiv für die Gelehrten heute? Für welche Geschichtsepochen interessiert man sich am meisten?

Die Bedeutung des Vatikanischen Geheimarchivs für seriöse geschichtliche Studien ist offensichtlich. Kein ernstzunehmender Historiker aus Europa oder anderen Orten der Welt, an denen die katholische Kirche präsent war, kann das Vatikanische Geheimarchiv ignorieren. Jedes Jahr kommen mehr als 2000 Forscher aus der ganzen Welt zu uns. Welche Epochen am meisten studiert werden, hängt von dem historiographischen Interessen der jeweiligen Zeit ab: bis Mitte des 20. Jahrhunderts interessierte man sich zweifelsohne am meisten für das Mittelalter und die Neuzeit; seit Mitte des 20. Jahrhunderts, und mehr noch in den letzten Jahrzehnten, interessiert man sich auch sehr für unsere Epoche, für die Zeit bis zum Tod von ­Pius XI. (Februar 1939).

Welche Päpste der Neuzeit haben sich am meisten für das Geheimarchiv interessiert?

Soviel ich weiß, wurde das Geheimarchiv vor allem vonPius XI., Pius XII., dem seligen Johannes XXIII. (der es mehrfach besucht hat) und Paul VI. als Quelle für ihr Lehramt oder ihre ordentliche Regierung benützt. Und das gilt auch für unseren jetzigen Papst Benedikt XVI.

Die Kanonisierungsbulle Franz Xavers. [© Palombi Editore]

Die Kanonisierungsbulle Franz Xavers. [© Palombi Editore]

Das Vatikanische Geheimarchiv ist eines der am leichtesten zugänglichen Archive der Welt – und doch steht es in dem ungerechtfertigten Ruf, dass es dunkle Geheimnisse birgt, die Kirche hier „unbequeme“ Dokumente versteckt. Woher kommt dieses Vorurteil, das in der Forderung gipfelt, der Öffentlichkeit immer wieder neue Archivbereiche und –bestände zugänglich zu machen?

Diese Frage ist mir schon oft gestellt worden, aber nur von Personen, die sich nicht mit geschichtlicher Forschung befassen oder keine wirkliche Kenntnis des Archivs besitzen. Die Mähr von geheimen dunk­len Machenschaften, die dort ausgeheckt werden, ist auf seinen Namen zurückzuführen: Vatikanisches Geheimarchiv. In Wahrheit bedeutet dieses “Geheim” aber einfach nur “Privat”-Archiv (wie im Falle des “Geheimarchivs” der Familien Este, Gonzaga, Sforza usw.) – in den Köpfen einiger phantasievoller Leute und Romanciers ist daraus dann aber etwas “Mysteriöses”, Geheimnisumwittertes geworden. Dabei ist kein Archiv der Welt “offener” als das Vatikanische Geheimarchiv, das den Forschern seit mehr als einem Jahrhundert seine 630 Bestände zur Verfügung stellt!

Welche Projekte stehen in den nächsten Jahren an – außer dem des Zugänglichmachens der Dokumente zum Pontifikat von Pius XII.?

Projekte gibt es viele, aber die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel für deren Umsetzung sind leider recht bescheiden, zumindest im Moment. In den vergangenen Jahrzehnten konnten unter der Leitung des Präfekten Msgr. Sergio Pagano drei neue Lesesäle und drei neue Labors eingerichtet werden; wir sind zur Digitalfotografie übergangen, zur Computerisierung der Verwaltungsprozeduren, der Bestand der Schriftenreihen und der Bände des Archivs ist stark angewachsen. Abgesehen davon würden wir in Zukunft auch gern zur Computerisierung der Benutzeranfragen schreiten und die mehr als 2000 Archivindexe und -inventare digitalisieren. Und vielleicht noch vieles anderes, so Gott will. Aber um wieder auf Ihre Frage zurückzukommen: die Dokumente zum Pontifikat von Pius XII. werden sehr wahrscheinlich in knapp 2 Jahren einsehbar sein.

Können die Dokumente des Archivs und der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek der Kirche auch bei der Lösung ihrer heutigen Probleme helfen?

Diese Frage betrifft sowohl die Theologie als auch die Geschichte. Zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils z.B. war die Konsultation antiker Texte aus der Bibliothek für die Vertiefung des Themas der Liturgiereform überaus wichtig. Es wird auch mit dem Mythos aufgeräumt, das Mittealter sei ein dunkles Zeitalter gewesen: in Wahrheit war es unter dem Aspekt der Liturgie und der Volksfrömmigkeit eine überaus reiche Epoche! Allgemein gesprochen denke ich, dass das Wiederentdecken der Tradition im Laufe der Jahrhunderte die Kirche wachsen lässt. Das ist in unserem eigenen Leben ja nicht sehr viel anders: was wir Gutes getan haben, wird nicht ausgelöscht. Und das gilt auch für die Kirche. Erneuerung bedeutet auch, dass man zurückblickt und die Kirche vergangener Tage als Reform-Modell betrachtet, die Kirche als Leib Christi ohne Makel und ohne Falten. Bewahrung ist auch Bereicherung.



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