DOKUMENTE
Aus Nr. 05 - 2005

Macht und Gnade


Giulio Andreotti eröffnet die Vorstellung des Buchs Il potere e la grazia. L‘attualità di sant‘Agostino (Macht und Gnade. Die Aktualität des heiligen Augustinus) durch Kardinal Joseph Ratzinger am 21.09.1998.


Die Vorstellung des Buches von 30Tage über die Aktualität des heiligen Augustinus mit J. Ratzinger


Giulio Andreotti eröffnet die Vorstellung des Buchs Il potere e la grazia. L‘attualità di sant‘Agostino (Macht und Gnade. Die Aktualität des heiligen Augustinus) durch Kardinal Joseph Ratzinger am 21.09.1998.

Giulio Andreotti eröffnet die Vorstellung des Buchs Il potere e la grazia. L‘attualità di sant‘Agostino (Macht und Gnade. Die Aktualität des heiligen Augustinus) durch Kardinal Joseph Ratzinger am 21.09.1998.

GIULIO ANDREOTTI:
Eminenz, obwohl ich seit über sieben Jahren zur anderen Kammer des Parlaments gehöre, steht es mir dennoch zu – ich war immerhin fünfundvierzig Jahre lang als Abgeordneter hier tätig –, Sie hier zu begrüßen und Ihnen und allen Gästen zu danken, daß Sie dieser besonderen Einladung gefolgt sind. Meine Aufgabe ist es aber nur, in das Gespräch einzuführen.
Hier an diesem Ort, der zur Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments gehört, befinden wir uns mitten in der Ewigen Stadt. Denn die Räumlichkeiten sind einzigartig, so einzigartig, daß – wenn wir ausländische Delegationen empfangen und insbesondere, wenn sie aus nicht als christlich zu bezeichnenden Staaten kommen –, die Gäste ganz offensichtlich die Schönheit der Gemälde bewundern. Dann müssen wir ihnen die Geschichte erklären. Da heute der 21. September ist, möchte ich vielleicht daran erinnern, daß sich vor vielen Jahren am Tag nach dem 20. September und dem Ereignis an der Porta Pia, zwar nicht an diesem Ort (der Sala del Cenacolo, wo die Buchvorstellung stattfand), sondern im Palazzo Montecitorio, dem damaligen Sitz des Gerichtshofs, ein einzigartiges Geschehen abspielte. Wenn uns die Geschichte nichts Falsches überliefert hat, war der Palazzo Montecitorio das einzige Gebäude, das bei der Eroberung Roms eingenommen wurde. Wie gesagt, befand sich dort der Gerichtshof, und so wollte man – sicherlich nicht wegen der Auseinandersetzung zwischen Klerikalismus und Antiklerikalismus – die Archive verschwinden lassen. Warum erinnere ich daran? Weil im letzten Kapitel des vorzustellenden Buchs – in gewisser Hinsicht als Horizonterweiterung im Vergleich zum augustinischen Schema in den übrigen Kapiteln – das Grußwort zu lesen ist, das der römische Bürgermeister an den Heiligen Vater gerichtet hat, als dieser zu Besuch auf dem Kapitol war. Wir, die wir hier im Parlament Politik machen, stoßen sicherlich öfters auf Schwierigkeiten. Wir danken Gott, daß wir in einer Zeit geboren wurden, in der die Beziehung zwischen Politik und Religion ohne Schwierigkeiten und Gegensätze möglich war. Einige hohe Vertreter betrachteten die Römische Frage bereits vor ihrem tatsächlichen Abschluß als überwunden. Danach kam die berühmte Ansprache Pauls VI. (der sich bereits als Kardinal mit diesem Thema auseinandergesetzt hat). Der Papst führte darin aus, es habe der Kirche zum Segen gereicht, daß sie von der weltlichen Macht befreit wurde. Zwischen all dem besteht ein gewisser Zusammenhang. Ich möchte nur sagen, daß diese Räumlichkeiten der Abgeordnetenkammer von religiösem Leben besonders geprägt sind: Im Kreuzgang befindet sich nämlich die Kirche San Gregorio Nazianzeno, wo Msgr. Fisichella (und wir freuen uns alle, daß er nach seiner Ernennung zum Weihbischof noch bleibt) viermal pro Woche die heilige Messe feiert. Auch dies hat eine Bedeutung.
Ich möchte noch auf ein Letztes aufmerksam machen: Im Vergleich zu fast allen anderen Kirchenvätern sind nicht nur die Schriften des heiligen Augustinus, sondern vor allem auch seine Persönlichkeit besonders faszinierend. Wenn ich etwas weiter zurückdenke und mich an meine Schulzeit erinnere, dann weiß ich noch genau, mit welchem Erfolg unser Lehrer die Bekenntnisse als Lehrbuch für den Religionsunterricht wählte. Ich begann damals, ein wenig zu verstehen. Ich will nicht behaupten, daß ich dann die Gestalt des Heiligen ganz verstanden hätte, die allein schon wegen ihrer persönlichen Geschichte Interesse weckte (man denke nur an die verschiedenen Stationen seines Lebens: Die Abreise aus Afrika, die Ankunft in Rom, die angesichts seiner Empfindlichkeit vergebliche Suche nach einem passenden Umfeld, die von der Vorsehung gewollte Reise nach Mailand, seine Beziehung zum heiligen Ambrosius, seine Rückkehr in die Heimat...). Als ich die Enciclopedia cattolica las, hat mich ein Satz verwundert: Es heißt dort, wo vom heiligen Augustinus die Rede ist (ihm wurden sehr viele Seiten gewidmet und wie mir scheint auch mit großer Wissenschaftlichkeit), wörtlich (und deshalb wäre das Heilige Offizium sicherlich eingeschritten, wenn es dieses heute noch gäbe), der siebzehnjährige Jüngling habe „sich einer gewissen Regel gebeugt und sich zwar ohne Ehe, aber in großer Treue mit der Frau und Mutter seines Kindes vereinigt“, als er nach Karthago reiste. Dies ist sicherlich nicht das Wichtigste. Meiner Ansicht nach ist aber die Tatsache bedeutend, daß der Weg der Gnade beim heiligen Augustinus an einem ganz fernen Punkt, wenn auch nicht ganz unten – es gibt gewiß Schlimmeres –, ­beginnt und zu dem geführt hat, was man als kulturelle und religiöse Apotheose betrachten kann. Und sein Weg führt nicht zufällig zuerst nach Rom und dann nach Mailand, bevor er wieder nach Afrika zurückkehrt, wo wir heute mit einer gewissen Wehmut in Karthago archäologische Raritäten bewundern können, aber leider nicht Spuren von dem, was in der Geschichte sicherlich eine viel größere Bedeutung hatte. Andererseits meine ich, daß gerade diese Menschlichkeit des heiligen Augustinus uns daran gewöhnen muß, nicht pessimistisch zu sein. Die Zeiten der Geschichte dauern manchmal länger, als wir es uns vorstellen. Auch die Zeiten der Kultur sind nicht mit für andere Wirklichkeiten gültigen Kriterien zu bemessen. Ich glaube jedenfalls, daß es uns allen gut tut, wenn wir uns eine Weile mit Augustinus befassen.
Eminenz, ich spreche Ihnen noch einmal aus ganzem Herzen meinen Dank aus, daß Sie sich bereit erklärt haben, diese unsere Veröffentlichung vorzustellen.

Senator Andreotti und Kardinal Ratzinger unterhalten sich im Kreuzgang.

Senator Andreotti und Kardinal Ratzinger unterhalten sich im Kreuzgang.

JOSEPH RATZINGER:
Herr Senator, verehrte Bischöfe, sehr geehrte Damen und Herren. Zunächst muß ich den Text der Einladung ein wenig präzisieren oder sogar verbessern. Denn aufgrund der zahlreichen Verpflichtungen in den letzten Monaten, habe ich nicht die Zeit gefunden, das Buch gründlich und ernsthaft zu lesen. Ich bin für eine wirkliche Buchvorstellung nicht genügend vorbereitet. Trotzdem wollte ich die Einladung annehmen, weil ich den heiligen Augustinus sehr verehre und bewundere. Zudem freue ich mich sehr, daß ein Nachrichtenmagazin wie 30Tage einem großen Publikum diese Gestalt in einem Dialog mit unserer Zeit monatelang vorgestellt hat. Dieser Dialog macht die Tiefe und Aktualität seines Denkens deutlich, und die Tatsache, daß der heilige Augustinus in der heutigen Zeit unseren Fragen unterzogen wird, ist für mich ein Grund zur Freude. Deshalb habe ich vielleicht zu Unrecht und paradoxerweise in einer Situation zugesagt, in der ich besser abgesagt hätte.
Ich muß mich daher dafür entschuldigen, daß ich mich hier recht unvorbereitet eingefunden habe und nicht in der Lage bin, dieses Buch so vorzustellen, daß sein wahrer Wert und sein tiefer Inhalt zu Tage treten.
Ich fühle mich allerdings in der Lage, auf zwei Elemente hinzuweisen, die mir nach einer flüchtigen Lektüre als die wichtigsten erscheinen und die bereits im Titel enthalten sind: Die Macht und die Gnade. Als ich vor fünfzig Jahren begann, mich mit Augustinus zu befassen, erkannte ich ihn praktisch sofort als meinen Zeitgenossen, als eine Persönlichkeit, die nicht aus der Ferne und nicht von einem Kontext sprach, der sich von dem unseren völlig unterscheidet, sondern, da sie in einem recht ähnlichen Kontext lebte, auf die Probleme, die auch unsere Probleme sind, wenn auch auf ihre Weise, eine Antwort gab.
Die erste Schwierigkeit, die in dem Wort Macht geborgen ist, besteht in der sogenannten politischen Theologie, in der Beziehung zwischen Politik und Religion. Senator Andreotti hat bereits angedeutet, daß dieser Ort uns sehr an die Beziehung zwischen diesen beiden Welten denken läßt. Augustinus hat in einem dem Recht nach christlichen Reich gelebt, mit dem Christentum als Staatsreligion, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung noch nicht christlich war. Der Kaiser war Christ und betrachtete sich als Beschützer der Kirche, ja als Personifizierung der Kirche, die für ihn praktisch mit dem Reich identisch war. In einem Staat, in dem das Christentum die offizielle Religion und auf höchster Ebene mit dem Staat verflochten ist, besteht aber die Gefahr, daß auch der Bischof und Theologe den Unterschied zwischen beiden Bereichen aus den Augen verliert. Man gelangt dann zu einer Politisierung des Glaubens, die sowohl mit seiner Freiheit als auch mit seiner Universalität unvereinbar ist. In der Zeit und der Generation vor Augustinus hatte Eusebius von Cäsarea eine politische Theologie entwickelt, in der Kirche und Staat fast identisch waren. Das Reich wird dann aber zum Mittel, mit dem Gott seinen Plan in der Geschichte verwirklicht. Die Problematik dieser Identifikation wurde in der arianischen Krise deutlich, die nicht nur eine christologische Krise, eine Krise des Glaubens an Christus war, sondern vor allem eine Krise des rechten Verhältnisses von Kirche und Staat, von Glauben und Politik. Denken wir nur daran, daß sich Eusebius von Vercelli, eine der großen Gestalten, die sich gegen diese Identifikation wehrten, im Jahr 355 auf der Synode von Mailand dem Willen des Kaisers widersetzte und den ihm vorgelegten arianischen Glaubenstext nicht unterschrieb, weil dieses Dokument seiner Auffassung nach mit den Gesetzen der Kirche unvereinbar war. Der Kaiser erwiderte Eusebius daraufhin: „Das Gesetz der Kirche bin ich.“ Der Glaube war damit zu einem Reichsdienst geworden. Eusebius gehörte mit einigen anderen zu jenen großen Gestalten, die sich, wie bereits gesagt, diesen Unterstellungen widersetzten und die Freiheit und Universalität der Kirche und des Glaubens verteidigten. Dies erwies sich in der folgenden Generation, im Leben des heiligen Augustinus, schon als schwieriger, weil in der Zwischenzeit auch die Kaiser den nizänischen Glauben angenommen hatten. Es kam daher nicht mehr zu solchen Konflikten, und man war nur allzu leicht versucht, diese Identifikation vorzunehmen. Man gelangt so aber zu einer Inkulturation des Glaubens, bei der Glaube und Kultur identisch und nicht mehr zu unterscheiden sind. Der Glaube verliert damit seine diachronische und synchronische Universalität. Er ist dann nicht mehr in der Lage, sich anderen Kulturkreisen und anderen Zeiten mit anderen Kulturen mitzuteilen. Augustinus war dieser großen Versuchung ausgesetzt, er, der diesen wesentlichen Unterschied verteidigte, der auch dann nicht aufgehoben wird, wenn nahezu die gesamte Bevölkerung christlich ist. Sicherlich half ihm dabei die Tatsache, daß die Goten 410 Rom eroberten und plünderten, und die Heiden daraufhin sagten: „Seht, wozu das Christentum nun geführt hat. Als es noch die Götter der Heimat gab, war Rom beschützt und die Hauptstadt der Welt. Nun habt ihr die Götter vertrieben, und die Heiligen Petrus und Paulus, Eure Patrone, sind nicht in der Lage, die Stadt zu beschützen. Wir sehen also, daß wir zu den Göttern zurückkehren müssen.“ Und so machen sich die Heiden (von ihrem Standpunkt aus zu Recht) zu Verfechtern einer politischen Theologie, in der die Götter im Dienst des Staates und der Staat im Dienst der Gottheit steht. Mitten in dieser geistigen Krise erkennt und begreift der heilige Augustinus, daß die Identifikation ein Merkmal der heidnischen Religion ist, in der die Gottheiten autochthon, Teilgottheiten dieser Wirklichkeit sind. Während der Glaube an den einen Gott, an den Gott aller Völker und Kulturen, dieser Identifikation nicht zustimmen kann. Deshalb beharrt er auf der Trennung von Kirche und Staat. Die Kirche ist in ihrer Gebrechlichkeit, in ihrer Eingebundenheit in die menschlichen Angelegenheiten einer bestimmten Zeit, auch in die Sünden einer bestimmten Zeit, dennoch eine andere Wirklichkeit, ein Zeichen einer neuen, zukünftigen Gesellschaft, die jetzt nicht im Staat verwirklicht ist, sondern sich durch die Kirche ankündigt und in der Geschichte auf die Zukunft ausgerichtet ist. Der Staat ist eine Wirklichkeit der Gegenwart, und seine Funktion unterscheidet sich insofern von der der Kirche.
Ich möchte diesen Gedanken hier nicht vertiefen. Doch es ist meines Erachtens der große Verdienst des heiligen Augustinus, diese Philosophie und Theologie der Unterscheidung der Aufgaben geschaffen zu haben, auch wenn eine gemeinsame Verantwortung auf der Grundlage der Werte besteht, die dem Aufbau einer gerechten Gesellschaft dienen. Wir wissen nur zu gut, wie schwer es den Zeitgenossen des heiligen Augustinus fiel, diese Unterscheidung zu verstehen. Im augustinischen Geschichtswerk über den Gottesstaat verfällt auch sein Freund Orosius mehr oder weniger dieser Identifikation. Das Mittelalter hat dann einen politischen Augustinismus entwickelt, der eine Fehlinterpretation des wahren Augustinismus darstellt. Liest man aber gründlich die Werke des Heiligen, dann leuchtet die Größe seiner Gestalt wieder neu auf. Und ich denke, daß eine politische Philosophie und eine wahre Ekklesiologie, ein Glaube an den einen Gott, der der Gott aller ist, die Suche nach einer wahren Universalität des Glaubens, der sich in allen Kulturen ausdrückt und sich nie mit einer einzigen von ihnen identifizieren darf, auch heute noch viel aus dem Dialog mit dem heiligen Augustinus lernen können.
Ich komme damit zum zweiten Element: Der Titel des Buchs spricht von der Macht und von der Gnade. Bekanntlich war dies in der zweiten und in der letzten Phase seines Lebens das große Thema, während Augustinus in der Auseinandersetzung mit der heidnischen Reaktion und dem Donatismus die Notwendigkeit erkannt hat, über das Thema der Macht und der unterschiedlichen Bereiche nachzudenken. Die Situation zwang ihn dann zur Auseinandersetzung mit gewissen Tendenzen des Mönchtums seiner Zeit, mit einem Moralismus, dessen herausragender Vertreter Pelagius war. In ihm wird das Mönchtum, das ursprünglich Leben der Anbetung und fuga saeculi war, wie es hieß, zu einem Moralismus, in dem man mit den Kräften der menschlichen Sittlichkeit die neue Gesellschaft errichtet. Und die Versuchung, das Christentum in einen Moralismus zu verwandeln und alles auf das sittliche Handeln des Menschen zu konzentrieren, ist zu allen Zeiten groß. Denn der Mensch sieht vor allem sich selbst. Gott bleibt unsichtbar, unberührbar, weshalb der Mensch sich auf sein eigenes Handeln verläßt. Wenn Gott aber nicht handelt, wenn Gott nicht wirklich ein handelndes Subjekt in der Geschichte ist, das auch in mein persönliches Leben eintritt, was bedeutet dann Erlösung? Welchen Wert hat dann unsere Beziehung zu Christus und zum dreifaltigen Gott? Die Versuchung, das Christentum auf einen Moralismus zu verkürzen, ist meines Erachtens auch heute noch sehr groß, und ich bin der Zeitschrift 30Tage sehr dankbar, daß sie diese Problematik oft betont. Denn wir leben alle ein wenig in einer deistischen Atmosphäre. Unsere Vorstellungen von den Naturgesetzen erlauben es uns nicht mehr so einfach, an Gottes Eingreifen zu denken. Es ist offenbar kein Raum mehr für Gottes Handeln in der menschlichen Geschichte und in meinem Leben vorhanden. Wir haben so das Bild von einem Gott, der nicht in diesen Kosmos eintreten kann, weil er in sich besteht und Gott gegenüber verschlossen ist. Was bleibt dann? Unser Tun. Wir müssen dann die Welt verwandeln, wir müssen die Erlösung schaffen, wir müssen die bessere Welt, die neue Welt errichten. Wenn man so denkt, dann ist das Christentum tot, die religiöse Sprache rein symbolisch und leer. 30Tage kommt der große Verdienst zu, gezeigt zu haben, wie in modernen Gebeten, auch in den Übersetzungen der liturgischen Gebete, die Versuchung besteht, die Hoffnung auf ein Eingreifen Gottes aufzugeben. Eine solche Hoffnung erscheint offenbar naiv, so daß sich die Gebete in Appelle an unser Handeln verwandelt haben. Dies ist zwar verständlich, aber es fehlt uns dann der wahre Dialog, es fehlt uns die Kraft der ewigen Liebe. Sie ist die wahre Kraft, die den Herausforderungen unseres Lebens und der Politik begegnen kann. Augustinus hat diese Tendenz erkannt. Er hat sich energisch dagegen verwahrt, und als Lehrer der Gnade fordert er uns auf, ihm zu folgen und uns und unser Tun der Gemeinschaft mit Gott und seinem Wirken anzuvertrauen, zu glauben, daß die Liebe eine Macht ist – auch in der heutigen Welt –, daß die Liebe die Welt zu verwandeln vermag und unsere Liebe herausfordert. In dieser Gemeinschaft der zwei Willen kann man vorankommen. Mit anderen Worten: Augustinus lehrt uns, daß die christliche Heiligkeit und Rechtschaffenheit nicht in irgendeiner übermenschlichen Größe oder einer höheren Veranlagung bestehen. Wenn es so wäre, wäre das Christentum eine Religion für Helden oder für eine Gruppe von Auserwählten, für Mönche, die die Zeit und Kraft haben, so zu leben. Dies war die Auffassung der Philosophie der Spätantike. Danach besitzen allein die Philosophen die Fähigkeit, sich bis zur Gottheit emporzu­schwingen, während sich das einfache Volk mit einer niedrigeren Stufe begnügen muß. Augustinus lehnt diese Vorstellung ab. Er sagt, daß der christliche Glaube die Religion der Einfachen ist, daß sich der Herr den Einfachen mitteilt. Er ist damit keine übermenschliche Angelegenheit, sondern verwirklicht sich im Gehorsam und in der Bereitschaft, Gottes Ruf nicht ohne Antwort zu lassen, in jenem Gehorsam, der nicht auf seine eigene Macht und Größe vertraut, sondern auf die Größe des Gottes Jesu Christi, und sich bewußt ist, daß sich diese göttliche Größe im Dienen, in der Selbstverleugnung, in der Führung durch die Wahrheit und in der Antriebskraft der Liebe finden läßt.
Joseph Ratzinger

Joseph Ratzinger

Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung. Der Titel weckt in mir noch einen weiteren Gedanken: Il potere e la grazia könnte übersetzt oder zumindest mit einem anderen Begriff verbunden werden: Das Sichtbare und das Unsichtbare. In unserer Zeit hat die Betonung des Sichtbaren, des Kontrollierbaren, ein solches Ausmaß angenommen, daß man sich heute emanzipierter und vernünftiger vorkommt, weil wir nur das ernst nehmen, was wir sehen und beherrschen können. In Wirklichkeit engen wir damit aber den Horizont unseres Geistes und unseres Herzens ein. Wir sind nicht mehr in der Lage, das Unsichtbare und das Ewige zu betrachten, ohne das das Sichtbare nicht subsistieren und existieren kann.
Augustinus ist auch deshalb aktuell. Seine Gestalt ist eine lebendige Ermahnung, dem Unsichtbaren zu vertrauen, das zu erkennen, was für unser Leben wirklich wichtig und entscheidend ist. Danke.

GIULIO ANDREOTTI:
Wir wollen nun die kurzen Beiträge der drei Autoren hören.

MASSIMO BORGHESI:
Ich möchte den Inhalt des Buches und den Sinn dieser Veröffentlichung kurz erklären. Ich beginne mit dem Titel, auf den auch seine Eminenz ausführlich eingegangen ist. Er erinnert an Die Kraft und die ­Herr­­lichkeit von Graham Greene. Einen ähnlichen Titel trägt auch das Werk von Reinhold Schneider Macht und Gnade. Das Buch, das wir vorstellen, ist das Ergebnis eines gedanklichen Wegs. Es ist insofern bedeutend, als es eine Reflexion zusammenfaßt, die nicht von heute stammt, sondern aus vergangener Zeit. In diesem Zusammenhang wäre es interessant, die letzten Ausgaben der Wochenzeitschrift Il Sabato zu verfolgen, um dann die gedankliche Kontinuität von 30Tage dazu festzustellen. Nicht umsonst stammen einige Artikel des Buches aus der genannten Wochenzeitschrift. Il Sabato hatte Ende der achtziger Jahre scharfe Kritik an dem Vorrang geübt, den weite Kreise der Kirche der „ethischen Frage“ einräumten, die sich ganz auf die „Krise“ und „Restauration“ der Werte konzentrierte. Damals wurde der Begriff „Pelagianismus“ gebraucht, um die moralische Ideologie aufzuzeigen, die der kirchlichen Praxis zugrunde lag. Letztlich hat die Zeitschrift Il Sabato den Namen Pelagius, der bis dahin nur unter Theologen und Philosophen bekannt war, an die kirchliche Öffentlichkeit getragen. Man wollte damit eindringlich in Erinnerung rufen, daß die Kirche sich nicht dafür hergibt, bloß eine Art ethische Agentur der Weltkrise zu sein, sondern zutiefst wieder ihre eigene Sendung und Bedeutung in der Welt von heute erkennen muß. Als ethische Agentur neigte die Kirche letztlich dazu, die Vorstellung einer „intellektuellen und sittlichen Reform“, von der Antonio Gramsci sprach, zu übernehmen. Dahinter verbarg sich die Grundabsicht, im Bereich der Sitten und Gebräuche die Vorherrschaft zurückzuerobern. Die Reform war also von dem Ziel der katholischen Hegemonie bestimmt. Ich erinnere mich noch, daß man in jenen Jahren meinte, in den späten Schriften Claudio Napoleonis Cercate ancora. Lettere sulla laicità sei eine linksgerichtete Kritik des Pelagianismus enthalten. Nun gut, von Pelagius wurde man unweigerlich und notwendigerweise auf seinen Ausleger und Kritiker par excellence, auf Augustinus, verwiesen, und ich irre mich meines Erachtens nicht, wenn ich sage, daß Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre Augustinus im katholischen Kulturkreis fast unbekannt war. Man kannte ihn sicherlich als Autor der Bekenntnisse, doch als Gnadentheologe war er in Vergessenheit geraten – und dies sogar in der theologischen Ausbildung. Das gleiche gilt auch für seine Theologie des Gottesstaates, das heißt für seine christlichen Überlegungen zur Politik und Geschichte.
Welche Bedeutung hat Augustinus in den gesammelten Aufsätzen dieses Buches? Die Aufsätze wollen vor allem einer vormittelalterlichen, einer christlichen Sicht, wieder beipflichten, die über die Welt vor dem Mittelalter nachdenkt, das heißt vor der „Errichtung des Staatschristentums“. Sie haben also ein Christentum zum Gegenstand, das sich noch mit dem Heidentum auseinandersetzen mußte. All dies erinnert uns, und die Erwähnung ist eigentlich überflüssig, an die heutige Situation. Auch wir leben heute in einer in verschiedener Hinsicht ähnlichen und analogen Situation wie das Christentum der ersten Jahrhunderte.
Die Fassade von San Gregorio Nazianzeno mit dem Kirchturm.

Die Fassade von San Gregorio Nazianzeno mit dem Kirchturm.

Zweitens ruft uns Augustinus zu einer realistischen Sicht auf, die zu einer nüchternen und genauen Analyse der Macht, der Hebel und Mechanismen der Macht in der Lage ist und deutlich machen kann, wie sich der Christ ihr gegenüber verhalten soll. Der Band enthält einige interessante Aufsätze von Roberto Esposito und Giacomo B. Contri zu diesem Thema. Sie vertreten eine realistische, aber zugleich nicht absolutistische, sondern tolerante Auffassung. Weder darf der Staat seinen Pflichten gegenüber der Kirche zuwiderhandeln, noch darf die Kirche sich mit dem Staat identifizieren. Viele Interviews mit Nello Cipriani kreisen um das Thema der „unvollkommenen Gesetze“, das heißt der Gesetze, die nicht völlig mit dem Naturgesetz übereinstimmen. Nach dem augustinischen Kirchenverständnis muß die Kirche die unvollkommenen Gesetze in dem Maß dulden, wie sie zur Gewähr des sozialen Friedens beitragen, von dem sie selbst profitiert. In diesem Sinn ist die historische Überlegung des heiligen Augustinus zwischen der Position des Origenes und dem Standpunkt des Eusebius von Cäsarea einzuordnen. In diesem Zusammenhang ist das Buch Die Einheit der Nationen von Kardinal Ratzinger, eine Vergleichsstudie aus dem Jahr 1971 über das Denken des Origines und des heiligen Augustinus, der am meisten zitierte Text. Origines geht von einem gnostisch-revolutionären Verständnis des Christentums aus und neigt daher dazu, die Verordnungen des Staates in dem Maße zu delegitimieren, wie sie nicht mit der christlichen Moral übereinstimmen. Genau die gegenteilige Auffassung vertritt Eusebius von Cäsarea, wogegen sich die scharfe Kritik von Pater Raffaele Farina richtet. Nach Farina besteht nach Konstantin bereits eine vollkommene Identität von Christentum und Römischem Reich. Zwischen diesen beiden Positionen ragt die Position des heiligen Augustinus heraus, dem es nicht um die Christianisierung des Staates geht. Denn auch wenn an der Spitze des Staates ein christlicher Kaiser steht, ist und bleibt der Staat „irdisch“ und kann auch nichts anderes werden.
Drittens stellt sich die Frage: Wie konnte Augustinus zu einem solchen Realismus gelangen? Was hat ihn dazu bewegt, die Macht so nüchtern und objektiv zu betrachten? Er besaß diesen Realismus, weil er die Macht als Außenstehender betrachtete. Für ihn gibt es in der Tat zwei „Staaten“. Darin besteht die große augustinische Eingebung, die im politischen Denken des Mittelalters verlorengegangen ist, worauf sich die scharfen Bemerkungen von Elvio Ancona beziehen. Sie widersetzt sich der modernen Utopie – ob sie nun weltlich oder christlich ist – wonach der Staat nur einer ist, für den man seine gesamte Energie aufwenden muß, um ihn zu vervollkommnen. Für Augustinus hingegen gibt es zwei Staaten, die nicht miteinander identifiziert werden dürfen. Allerdings sind sie bis zum Ende der Zeit perplexae, das heißt, sie sind ineinander verwoben. So sind einige Weltbürger einmal im Himmel, während einige Bürger des Gottesstaates verlorengehen.
Der vierte Punkt von Interesse ist das Verhältnis von Gnade und Freiheit. Wenn die beiden Staaten perplexae sind, kann sich das Christentum nur in bedeutungsvollen menschlichen Begegnungen ereignen, das heißt, es kann sich nur im Rahmen von Gnade und Freiheit abspielen. Es geht über den irdischen Staat hinaus und wälzt die ideologischen, politischen und räum­lichen Zugehörigkeiten um. In einem Kontext wie dem heutigen ist es wichtig, Menschen und Persönlichkeiten zu begegnen, die in ihrem Herzen frei von vorgefertigten Schemen sind.
Die Gnade ist überzeugend. Lorenzo Cappelletti hat einige sehr schöne Stellen aus De gratia Christi et de peccato originali zusammengetragen. Augustinus kritisiert und verurteilt Pelagius, weil er die Gnade nur als Erleuchtung des Verstandes betrachtet, das heißt, er beharrt darauf, daß die Gnade durch die Unterweisung in der Lehre vermittelt wird, nahezu als ob sich das Christentum in der Darlegung einer Lehre – ganz gleich ob moralisch oder unmoralisch – erschöpfte, als ob man schon durch das Erlernen der Lehre Christ würde. Augustinus hingegen beharrt auf einer Gnade, die nicht nur die Lehre, sondern auch die Herzen erfaßt: Eine überzeugende Gnade also, die ein wirkliches Zeugnis voraussetzt.
Zuletzt – und damit schließe ich – kommt das Buch noch auf den Ökumenismus zu sprechen, auf einen Begriff, der das Interesse an Augustinus sowie seine Aktualität begründet. Am Ende der Veröffentlichung sind einige sehr schöne Stellen aus mehreren Werken von Augustinus zusammengetragen, in denen er darauf besteht, daß man die Intuition der Wahrheit, die der andere hat, nie zerstören darf, nur um seinen Irrtum zu kritisieren. Die Kritik darf nicht den Blick für Wahrheit, die im Irrtum enthalten ist, versperren. Man muß daher Wahrheit und Irrtum so scheiden, daß der andere zur vollen Erkenntnis der Wahrheit geführt wird. Dieser ökumenische und universale Sinn ist auch im zeitgenössischen Kontext ein Thema von großem Interesse und von großer Aktualität. Danke.

NELLO CIPRIANI:
Ich möchte zunächst der Redaktion von 30Tage meine Begeisterung und Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, daß sie diese Interviews und Aufsätze über das Denken des heiligen Augustinus zusammengetragen und seine Aktualität in Punkten aufgezeigt hat, die auch heute noch für die Christen, für die Gläubigen, von großem Interesse sind. Ich erörtere darin das Verhältnis von Staat und Kirche und die Haltung des Christen gegenüber den staatlichen Gesetzen; ich behandle die Frage der Gnade und des Ökumenismus. In diesem kurzen Beitrag aber möchte ich die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema lenken, das bisher noch nicht erwähnt wurde: Die noch heute herrschende Rekonstruktion des augustinischen Denkens, bei der man von einer Entwicklung vom ursprünglich stark platonisch geprägten Denken zur Reife des christlichen Denkens spricht. Massimo Borghesi spricht deshalb in seinem Aufsatz Una via adeguata ai sensi von einem anfänglich christlichen Idealismus, der dann zum christlichen Realismus wird. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint das augustinische Christus-, Menschen- und Kirchenverständnis in einem ganz anderen Licht. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß meine jüngsten Forschungen mich immer stärker davon überzeugen, daß die beschriebene Entwicklung dem Denken des heiligen Augustinus nicht völlig gerecht wird. Ich will damit sagen, daß es schon in den Dialogen seiner ersten Werke – auch wenn der Platonismus in allen offensichtlich ist, weil Augustinus die ausdrückliche Absicht hat, zu philosophieren, und sich dabei an die großen Themen des Neuplatonismus hält (Gott und die Seele) – Stellen gibt, wo der christliche Glaube sehr viel realistischer erscheint, was die Person Christi, des Gottmenschen, und den christlichen Glauben anbelangt. Der Glaube ist hier nicht nur eine propädeutische Haltung für die spätere Kontemplation, sondern eine Dimension des neuen Lebens in Christus. Das Christusverständnis, das auf diesen Seiten durchscheint – dessen vollen Wert die Gelehrten leider noch nicht erkannt haben – ergibt sich aus meinen Untersuchungen ganz klar. Und zu diesem Ergebnis bin ich gekommen, weil sich unter Anwendung von ganz wissenschaftlichen philologischen Methoden die christlichen Quellen ausmachen lassen, die vielen Fachleuten der ersten Werke des heiligen Augustinus unbekannt sind. Ich verweise insbesondere auf den Einfluß von Marius Victorinus – allerdings nicht nur auf den Marius Victorinus der antiarianischen Traktate, sondern auch auf den Exegeten der Paulusbriefe. Und gerade die Auslegung der Paulusbriefe erlaubt es dem noch ungetauften Augustinus, einen viel reiferen Christusglauben zum Ausdruck zu bringen, als man ihn ihm gewöhnlich zuschreibt. Danke.

Das Fresko im ersten Bogen rechts von der Kirche San Gregorio Nazianzeno, in dem nach einer Interpretation von Montenovesi die Taufe des Hauptmanns Kornelius (vgl. Apg 10) dargestellt ist.

Das Fresko im ersten Bogen rechts von der Kirche San Gregorio Nazianzeno, in dem nach einer Interpretation von Montenovesi die Taufe des Hauptmanns Kornelius (vgl. Apg 10) dargestellt ist.

CLAUDIO PETRUCCIOLI:
Zunächst möchte ich mich bei meinem Freund und Chefredakteur der Zeitschrift für die Einladung ganz herzlich bedanken. Auch wenn Sie mich damit in eine gewisse Verlegenheit bringen, weil Sie auf diesem kleinen Beitrag an diesem Abend beharrt haben, bin ich Ihnen doch zu Dank verpflichtet. Ich denke, daß Ihr Beharren mit der Meinung zusammenhängt, ich könnte ein aufrichtiges Wort – und ich kann hier keinen anderen Ausdruck gebrauchen – zum Kern der Fragen sagen, die Sie bereits angesprochen haben und von denen das Buch handelt, das seinerseits auf Augustinus verweist und daraus seine Gültigkeit schöpft. Ich gebe gern dieses Zeugnis, weil, wer sich mit den augustinischen Schriften oder den Schriften über Augustinus befaßt, in die Lage versetzt und nicht gezwungen wird, was sehr selten ist, über die Grundlagen nachzudenken. Dies gilt meines Erachtens für alle. Die Absicht der Herausgeber ist meiner Ansicht nach sehr klar, und ich finde sie überzeugend. Ich glaube, daß sie auch philologisch begründet ist, doch ich will mir in dieser Hinsicht kein Urteil erlauben. Sie machen deutlich, daß die beiden augustinischen Staaten, der Gottesstaat und der irdische Staat, die sich gegenseitig tragen und rechtfertigen, untrennbar sind, wie Prof. Borghesi es ausgeführt hat. Mir ist völlig klar, daß man behauptet, der Gottesstaat [in diesem Augenblick klingelt das Handy von Petruccioli] (Entschuldigung, das ist sicherlich ein teuflischer Eingriff), daß man behauptet, der Gottesstaat, die Gnade, jene Dimension sei notwendig, um im irdischen Staat leben – in Freiheit leben – und sich mit dem teuflischen Charakter der Macht und ihrem unauslöschlichen Widerspruch auseinandersetzen zu können. Dies ist meines Erachtens ein gewichtiges Argument, das auch ein gewisses Maß an Polemik enthält. Im Gegensatz dazu steht die Auffassung – die es ebenfalls im christlichen Denken gibt –, die Macht könne durch die Gnade gut gemacht werden. Ein Zitat von Maritain und von von Balthasar, Verfechter und Befürworter dieser Position, beinhaltet eine besonders große Verpflichtung, die nicht nur an den Gläubigen und Christen geht: Über seine politische Meinung nachzudenken. Doch ich möchte mich nicht darüber auslassen. Ich möchte vielmehr folgende Überlegung in den Raum stellen: Wenn die Gnade unbedingt notwendig ist, – entschuldigen Sie, wenn ich es etwas vereinfacht darstelle – um Macht auszuüben, ohne gleichzeitig ihr Sklave zu werden, was macht dann der, der nicht im Besitz der Gnade ist? Die genannte und sehr prägnante Auffassung stützt sich meines Erachtens auf eine negative Anthropologie. Die Möglichkeit des Ungläubigen, Macht auszuüben, ohne sich ihr zu ergeben, ohne sich ihr zu unterwerfen, läßt sich meines Erachtens nur mit einer positiven Anthropologie begründen. Diese Möglichkeit, im irdischen Staat so zu leben und Macht auszuüben, ist vielleicht nur gering, aber nicht ausgeschlossen, weil man auch abgesehen von der Gnade ein gewisses Maß an Vertrauen haben darf. Wenn man der Gnade begegnet, wenn man sie verdient, dann ist sie natürlich willkommen. Es gibt aber auch solche, die wie ich, der ich zu Ihnen spreche, die Gnade bisher noch nicht gehabt, noch nicht verdient haben, nicht in der Lage waren, sie zu erkennen oder wie Sie es auch nennen möchten. Doch ich bin nun einmal hier, wir sind hier, und diese Frage ist mir in den Sinn gekommen. Andererseits kann eine negative Anthropologie den, dem das Geschenk der Gnade nicht zuteil wurde, zu einem demiurgischen Machtverständnis führen, zu einer Erhebung der Macht an Gottes Stelle. Prof. Esposito hat völlig Recht, wenn er sagt: „Das eigentlich Böse, das radikal Böse, das Frucht der freien Entscheidung ist (das wahre Böse entsteht aus der Freiheit der Entscheidung für das Böse, und da die Freiheit eine politische Kategorie ist, ist auch das radikal Böse ein Problem der Politik) oder zumindest dasjenige, das sich in der Geschichte als solches erwiesen hat, ist nicht das Gegenteil des Guten, sondern Selbstdefinition des absolut Guten, das das Gesetz verinnerlicht. Das eigentlich Böse ist also [...] Nachahmung des Guten. Das eigentlich Böse, das radikal Böse, sagt nie, es wolle das Gute zerstören, sondern es sagt, es wolle es verkörpern“ und vollkommen verwirklichen. Mir sind dazu folgende Gedanken gekommen, die ich Ihnen unterbreiten möchte: Um im Hinblick auf Augustinus den hier zitierten Ausdruck zu gebrauchen, der noch von Niebuhr stammt, „weder trügerisch noch zynisch“ (denn das Programm „weder trügerisch noch zynisch“ kommt meiner Meinung nach dem sehr nahe, was ich mir wünschen kann und was sehr menschlich ist), stelle ich mir folgende Frage: Kann man es ohne die Gnade sein? Kann man es wenigstens bis zu einem gewissen Grad? Wenn ich mir diese Fragen stelle, dann muß natürlich auch ich eine Antwort geben. Kann man auch ohne die Gnade versuchen, ein möglichst gutes Leben zu führen? Und an dieser Stelle ist die Frage dem Fragesteller anheim gestellt, denn die Antwort dessen, der glücklicherweise die Gnade besitzt, ist stimmig und gewichtig. Und dies veranlaßt mich sicherlich zu der Aussage, daß es hier eine Regel gibt: „Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg‘ auch keinem andren zu“, „tu anderen das, was Du an ihrer Stelle von anderen erwarten würdest“. Ich bin mir bewußt, daß diese Regel eine Mischung aus Selbstlosigkeit und Egoismus beinhaltet. Ganz neutral würde ich sagen, sie ist eine wechselseitige Lebenseinstellung (Dilthey, um es letztlich ganz knapp zu formulieren): Das ist die beste Antwort, die ich mir in aller Bescheidenheit auf die mir selbst gestellte Frage geben kann. Sie geht aber dennoch von der Grundfrage aus, die Augustinus stellt und die sich nicht vermeiden läßt.
GIULIO ANDREOTTI:
Ich bedanke mich noch einmal bei Kardinal Ratzinger, den Herren Botschaftern und Professoren und Ihnen allen. In unserer Monatszeitschrift nehmen wir uns vor – ob es uns immer gelingt, ist eine andere Frage – über einige Dinge, die vorübergehen, und über Dinge, die da sind und erhellen, nachzudenken und andere zum Nachdenken anzuregen. Ich bin auch dem Kollegen Petruccioli dafür dankbar, daß er, wie Sie es am Ende seines Inter­views in dem vorgestellten Buch sehen werden, einen eindringlichen Aufruf an uns richtet: Wer das Geschenk der Gnade, und wir können auch sagen das Geschenk des Glaubens, empfangen hat, muß sich bemühen – ohne sich selbst jedoch einen Zwang aufzuerlegen, und darin sind wir uns wohl alle einig –, anderen die Chance zu geben, dieses Geschenk zu empfangen und zu vertiefen. Da die Gnade aber ein Geschenk ist, kann sich niemand ihrer rühmen. Wir können Gott nur dafür danken.


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