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DIE GESCHICHTE VON JOSEPH...
Aus Nr. 03 - 2006

Tradition und Freiheit: die Vorlesungen des jungen Joseph Ratzinger


Die ersten Vorlesungen bei Professor Ratzinger in der Erinnerung seiner Studenten. „Der Hörsaal war vollbesetzt. Bei den Studenten war er sehr beliebt. Er hatte eine schöne und einfache Sprache. Die Sprache eines Gläubigen.“


von Gianni Valente


Joseph Ratzinger auf einem Foto des Jahres 1960 beim Vorbereiten einer Vorlesung in der Bibliothek des fundamentaltheologischen Seminars in Bonn.

Joseph Ratzinger auf einem Foto des Jahres 1960 beim Vorbereiten einer Vorlesung in der Bibliothek des fundamentaltheologischen Seminars in Bonn.

Es war zu Beginn des Wintersemesters 1959/60 im vollbesetzten Hörsaal 11 der Universität, als sich die Tür öffnete und ein junger Geistlicher eintrat, den man im ersten Augenblick, aber nur im allerersten, für den zweiten oder dritten Vikar einer Großstadtpfarrei halten konnte. Der Ordinarius für Fundamentaltheologie war damals 32 Jahre alt.“ So beschreibt der vor zwei Jahren verstorbene damalige Student Horst Ferdinand, der später im Bundesrat und im diplomatischen Dienst tätig war, in seinem bisher unveröffentlichten Manuskript mit Erinnerungen den Beginn der Universitätslaufbahn von Joseph Ratzinger. Ein Abenteuer, das der spätere Papst in seiner Autobiographie wie einen vielversprechenden, aufregenden Anfang beschreibt: „Am 15. April 1959 begann ich meine Vorlesungen nunmehr als ordentlicher Professor der Fundamentaltheologie an der Bonner Universität vor einer großen Hörerschar, die mit Begeisterung den neuen Ton aufnahm, den sie bei mir zu vernehmen glaubte“ [Joseph Kardinal Ratzinger: Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977), Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998].
Bonn war damals fast schon zufällig die Hauptstadt im Deutschland Adenauers. Das zweigeteilte Land, das seinen östlichen Teil jenseits der Mauer zurücklassen mußte, erlebte einen unerhörten wirtschaftlichen Aufschwung. Bei den Wahlen von 1957 konnte die CDU die absolute Mehrheit der Wählerstimmen erreichen. Nach dem Alptraum der Nazi-Zeit leistete die deutsche Kirche mit berechtigtem Stolz ihren wertvollen Beitrag zum Neubeginn der Nation. In einem Klima, das leicht zum Triumphalismus verleiten konnte, schrieb der junge Priester und Professor Ratzinger 1958 einen Artikel für die Zeitschrift Hochland; Reflexionen, die der kurzen, aber intensiven pastoralen Erfahrung erwachsen waren, die er ein paar Jahre zuvor als Kaplan in der Pfarrei Heilig Blut in Bogenhausen machen konnte. Darin heißt es: „Nach der Religionsstatistik ist das alte Europa noch immer ein fast vollständig christlicher Erdteil“; eine Statistik, die „täuscht“, wie er meint. Die Kirche der Nachkriegszeit erscheint ihm als Kirche von Heiden. „Nicht mehr wie einst Kirche aus den Heiden, die zu Christen geworden sind, sondern Kirche von Heiden, die sich noch Christen nennen, aber in Wahrheit zu Heiden wurden“ [Joseph Ratzinger, Das neue Volk Gottes, Düsseldorf 1969, Patmos-Verlag, S. 325]. Ein neues Heidentum also, das unaufhaltsam im Herzen der Kirche wächst und droht, sie von innen zu zerstören.
Bonn ist eine überschaubare Stadt; die vom Krieg geschlagenen Wunden sind noch immer nicht verheilt. Der junge, brillante bayerische Professor dagegen kommt aus der geborgenen Welt des Freisinger Dombergs, wo sich die Kathedrale gleich neben dem Seminar mit der Philosophisch-theologischen Hochschule befindet, an der er 1958 als Professor seine ersten Vorlesungen in Dogmatik und Fundamentaltheologie halten konnte. Die Stadt am Rhein, deren Ruf ihn erreicht hatte, erscheint ihm mit ihrem pulsierenden akademischen Leben angenehm stimulierend. In seiner Autobiographie schreibt er: „So kamen Anregungen von überall, zumal ja auch Belgien und die Niederlande nahe waren und traditionell im Rheinland die Türen nach Frankreich hin offen stehen“ (op.cit. S. 93). Für ihn war es „sozusagen das Traumziel, dorthin zu gehen“ (op.cit. S. 89), auf diesen Lehrstuhl, den sich sein Lehrer Gottlieb Söhngen immer gewünscht hatte, der ihm aber versagt geblieben war. Die größte Freude aber ist die begeisterte Aufnahme, die er bei seinen Studenten findet.

Die Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn.

Die Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn.

Ein ganz besonderer Professor
In seiner Autobiographie bezeichnet Ratzinger die ersten Monate in Bonn als „ein Fest der ersten Liebe“ (op.cit. S. 96). Unter den Studenten macht die Kunde von dem theologischen enfant prodige schon bald die Runde. Der Judaist Peter Kuhn, der später in der Tübinger und Regensburger Zeit Assistent von Professor Ratzinger war, erinnert sich: „Ich war damals knapp über zwanzig und gehörte der evangelisch-lutherischen Kirche an. Ich besuchte die Evangelisch-theologische Fakultät; zuvor hatte ich in Basel u. a. die Vorlesungen von Karl Barth und Karl Jaspers gehört. Ich lernte Vinzenz Pfnür kennen, einen Bayern, der Ratzinger aus Freising gefolgt war. Er sagte zu mir: Das ist ein sehr interessanter Professor, den mußt du dir anhören. Schon beim ersten Seminar habe ich gedacht: Dieser Mann ist außergewöhnlich, ganz anders als die übrigen katholischen Professoren, die ich kenne.“ Der Redemptorist Viktor Hahn, der erste Student, der bei Ratzinger promovierte, erinnert sich: „Der Hörsaal war vollbesetzt. Bei den Studenten war er sehr beliebt. Er hatte eine schöne und einfache Sprache. Die Sprache eines Gläubigen.“
Was begeisterte die Studenten so an diesen in leisem Ton, konzentriert, ohne jede Theatralik vorgetragenen Vorlesungen? Es war offensichtlich, daß das, was dieser junge Professor da vortrug, nicht von ihm selbst kam. Nicht er war der Protagonist. „Ich habe nie versucht,“ erklärt Ratzinger in seinem Buch Salz der Erde, „ein eigenes System, eine Sondertheologie zu schaffen. Spezifisch ist, wenn man es so nennen will, daß ich einfach mit dem Glauben der Kirche mitdenken will, und das heißt vor allem mitdenken mit den großen Denkern des Glaubens“ [Joseph Ratzinger, Salz der Erde, Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, München 1996, S. 70].
Die Wege, die Ratzinger seinen Studenten auf der abenteuerlichen Entdeckungsreise der Tradition weist, sind dieselben, die ihn schon zu seiner eigenen Studienzeit begeistert haben: die Historizität der Offenbarung, Augustinus, die sakramentale Natur der Kirche. Man muß sich nur die Themen seiner Vorlesungen und Seminare in den ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit ansehen. Im Wintersemester 1959-60 ging es um „Wesen und Wirklichkeit der göttlichen Offenbarung“. Im nachfolgenden Semester lautete das Thema „Die Lehre der Kirche“. Die Seminare ab dem Sommersemester 1961 befaßten sich mit „Kirche, Sakrament und Glaube nach der Augsburger Konfession“, mit „Problemen des frühchristlichen Kirchenverständnisses“ und mit „Religionsphilosophischen Problemen in den Confessiones des Augustinus“.
Die Vorlesungen Ratzingers hatten nichts mit einem Aushängeschild akademischer Gelehrsamkeit zu tun. Seine Sprache war klar und einfach; eine Sprache, die die Fragen direkt angeht, und mögen sie noch so komplex sein. Roman Angulanza, einer der ersten Studenten der Bonner Jahre, berichtet: „Die Art, Vorlesungen zu halten, hat er fast schon revolutioniert. Er las sie seiner Schwester Maria immer in der Küche vor. Sie war sehr intelligent, hatte aber nicht Theologie studiert. Und wenn die Vorlesung bei seiner Schwester Gefallen fand, war das für ihn das Zeichen, daß sie in Ordnung war.“ Professor Alfred Läpple, Präfekt Ratzingers am Seminar zu Freising, weiß zu berichten: „Joseph sagte immer: wenn du eine Vorlesung hältst, müssen die Studenten den Stift liegen lassen, dir einfach nur zuhören. Solange sie noch mitschreiben, hast du sie nicht wirklich in deinen Bann gezogen. Wenn sie aber den Stift weglegen und dich ansehen, während du sprichst, dann hast du vielleicht ihr Herz berührt. Er wollte zu den Herzen der Studenten sprechen. Es interessierte ihn nicht, einfach nur ihr Wissen zu vergrößern. Er sagte immer, daß man die wichtigen Dinge des Christentums nur lernt, wenn sie einem das Herz erwärmen.“
Gerade dieser Freude daran, die Tradition durch die Lektüre der Väter wiederzuentdecken, entsprang die totale und wagemutige Öffnung des jungen Professors den Fragen und Gärungen gegenüber, die das theologische Denken jener Jahre so pulsierend machten. In Bonn waren noch alte Professoren, die noch eine Ausbildung nach streng antimodernistischen Normen empfangen hatten und sich darauf beschränkten, Schematismen der neoscholastischen Theologie vorzulegen, um in Rom nur ja nicht anzuecken. Er dagegen schien sich von Einschüchterungen und akademischen Konformismen nicht beeinflussen zu lassen. Hahn berichtet: „Ich war beeindruckt, als er einmal in einer Vorlesung einen Text aus dem Alten Testament zum Vorwand nahm, um das in jenen Jahren geläufige Bild der Kirche mit den Reichen der Meder und Perser zu vergleichen, die sich ewig wähnten dank der statischen Unveränderlichkeit ihrer Gesetze. Mit Nachdruck betonte er, daß man sich vor einem solchen Kirchenbild hüten solle.“ Peter Kuhn bestätigt: „Im Vergleich zu ihm waren manche andere Professoren altmodisch und steif, in ihren Schemata eingefahren, vor allem den Protestanten gegenüber. Er dagegen ging die Fragen ohne Furcht an. Er hatte keine Scheu, sich in Neuland vorzuwagen – andere Professoren dagegen blieben in den Bahnen ihrer pedantischen Selbstgenügsamkeit eingefahren.“
Die Westfälische Wilhelms-Universität Münster.

Die Westfälische Wilhelms-Universität Münster.

Freiheit und Offenheit prägten auch seine Beziehung zur protestantischen Welt. Viele Studenten der Evangelisch-theologischen Fakultät – und das war damals ganz und gar unüblich – besuchten die Vorlesungen des jungen katholischen Professors, der sich im Sommersemester 1961 mit dem Thema „Kirche, Sakrament und Glaube in der Confessio Augustana“, im Wintersemester 1962-63 mit dem Tractatus de potestate papae von Philipp Melanchthon beschäftigte. Sein damaliger Student Vinzenz Pfnür, der Ratzinger von Freising nach Bonn gefolgt war, bearbeitete als Dissertationsthema die Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana und ihrer katholischen Gegenschriften. Viele Jahre später – nun selbst Professor für Kirchengeschichte – konnte er dann seinen Beitrag zu der am 31. Oktober 1999 in Augsburg unterzeichneten „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche leisten. Er erzählt 30Tage: „1961 schrieb Ratzinger für das protestantische Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart einen Artikel über den Protestantismus aus katholischer Sicht. Es war damals ungewöhnlich, daß ein Katholik gebeten wurde, für diese Zeitschrift zu schreiben. Ratzinger stellte darin die kontrastierenden Elemente zur damals im protestantischen Bereich vorherrschenden dialektischen und existentiellen Theologie heraus. Aber er betonte auch, daß trotz der Distanz zwischen den beiden ‚Systemen‘ eine Nähe bestand, in dem nämlich, was den Gläubigen als Erbe der Kirche vermittelt wurde – sowohl von katholischer als auch protestantischer Seite, beispielsweise im Gebet.“
Ratzinger und Schlier
werden Freunde
Die jeden Rahmen sprengende Offenheit des jungen bayerischen Professors wird auch aus seiner Wahlverwandtschaft mit Persönlichkeiten ersichtlich, die vom damaligen theologischen establishment als „Grenzfälle“ eingestuft werden. In Bonn begegnet Ratzinger Heinrich Schlier, dem großen lutherischen Exegeten, der 1953 zum Katholizismus konvertierte. „Als Schüler von Rudolf Bultmann war Schlier ein Meister der historisch-philologischen exegetischen Methode,“ weiß Pfnür zu berichten. „Was die Frage zum ‚historischen‘ Jesus betrifft, war es für Schlier ohne weiteres möglich, wichtige Züge des Lebens Jesu zu rekonstruieren, der Jesus des Glaubens aber ist durch die Rekonstruktionen des Historikers nicht zu erfassen, sondern allein mittels der vier Evangelien als einzige legitime Interpretationen. Der theologische Existentialismus Bultmanns lief jedoch Gefahr, die Auferstehung auf ein innerliches, geistiges und psychologisches Phänomen zu reduzieren, das von den Jüngern im Innersten ihrer Glaubenssicht erlebt wurde. Für Schlier dagegen beschreiben die Evangelien, so wie sie von der Kirche interpretiert werden, reale Ereignisse, und nicht innere, von einem religiösen Gefühl der Apostel erzeugte Erlebnisse. Diese Ansicht teilten Ratzinger und Schlier, und auf dieser Grundlage wurden sie Freunde.“ Ein Ansatz, der auch wichtige Züge der Bultmannschen Lehre über die Annäherung an die Heilige Schrift übernimmt und in ihrem Wert erschließt – ohne sich dem a priori zu verschließen. Zwischen Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre konnte den Studienwochen für Jungtheologen in Bierbronnen, im Schwarzwald, durch die beiden Professoren neuer Aufschwung gegeben werden. Schlier nahm einmal auch an den jährlich stattfindenden Tagungen der Doktoranden Ratzingers teil und hielt damals die Vorträge. Diese Treffen waren seit der Lehrtätigkeit in Tübingen zu einer schönen Gewohnheit geworden. In den Bonner Jahren schien die Sympathie Ratzingers für den bedeutenden Exegeten vom Rest des akademischen Lehrkörpers jedoch nicht geteilt zu werden. Nach der Konversion zum Katholizismus, die ihm die Möglichkeit verschloß, an der evangelischen Fakultät zu unterrichten, kam Schlier auch an der katholischen Fakultät nicht unter, wurde an die philosophische Fakultät als Honorarprofessor „abgeschoben“, wo er christliche Literatur des Altertums unterrichtete. Zu seinen Vorlesungen strömten die Studenten aus ganz Deutschland zusammen, aus Holland und Belgien. „Aber einige Professoren waren ihm nicht wohlgesonnnen,“ erinnert sich Peter Kuhn, „standen ihm geradezu feindselig gegenüber. Seine Herkunft vom Luthertum und von Bultmann war ihnen suspekt. Sie neideten ihm sicher auch seinen weiten menschlichen und intellektuellen Horizont – und nicht zuletzt wohl auch seine große Hörerzahl.“
Eine andere Freundschaft „im Grenzbereich“ der Bonner Jahre ist die mit dem Indologen Paul Hacker, dessen Genie auch in der Autobiographie Ratzingers deutlich herausgestellt wird. Auch der vom Luthertum kommende Hacker wird Katholik, nach „nächtelangem Brüten über den Vätern oder Luther, vor so mancher Flasche Rotwein.“ Auf die ungemein große Kenntnis Hackers in Sachen Hinduismus greift Ratzinger für die Vorbereitung seiner Vorlesungen über Geschichte der Religionen zurück, die Teil des fundamentaltheologischen Kurses sind. Ratzingers Interesse an der Welt der Religionen konzentriert sich gerade in jenen Jahren auf den Hinduismus. „Manche Studenten beklagten sich, machten ihre Scherze darüber. Ratzinger ist ganz im Hinduismus versunken, sagten sie, er spricht nur noch von Rama, Khrisna und vor allem Bhakti, wir können schon nicht mehr…“. Aber es waren auch die Jahre der ersten bedeutenden Begegnung Ratzingers mit einer bemerkenswerten Persönlichkeit der jüdischen Welt: dem Gelehrten und Vorbeter in der Bonner Synagoge Charles (Chajjim) Horowitz, der an der Evangelisch-theologischen Fakultät Seminare hielt.

Die Jahre des Konzils
An der Theologischen Fakultät Bonn unterrichteten damals bedeutende Professoren vom Kaliber eines Hubert Jedin. Der große Kirchengeschichtler hatte – wie einige der damaligen Studenten meinen – wohl den Ausschlag zu Ratzingers Ruf nach Bonn gegeben. Oder der Dogmengeschichtler Theodor Klauser, der „Star“ der Fakultät, der einen schnittigen Mercedes fuhr und immer wie aus dem Ei gepellt war (Ratzinger dagegen benützte die öffentlichen Verkehrsmittel oder ging zu Fuß, die obligatorische Baskenmütze auf dem Kopf ); oder aber der bayerische Dogmatiker Johann Auer, dem Ratzinger dann später als Kollegen in Regensburg wieder begegnen sollte. Um den Professor scharte sich schon bald ein kleiner Kreis von Studenten: Pfnür, Angulanza und ein paar andere. Sonntags lud Ratzinger sie manchmal in seine Wohnung in der Bad Godesberger Wurzerstrasse ein, in die er nach der ersten Unterkunft im theologischen Konvikt Albertinum gezogen war. Seine Schwester Maria wohnte bei ihm; sie war eine gute Köchin. Manchmal war auch Auer bei diesen typisch bayerischen „Brotzeiten“ zugegen.
In Bonn hatte Ratzinger auch seinen ersten Assistenten: den vor zwei Jahren verstorbenen Werner Böckenförde. Der aus Münster stammende Böckenförde hatte eine starke Persönlichkeit, so daß manch einer den Eindruck hatte, in Wirklichkeit würde er seinen Professor „dirigieren.“. „Böckenförde schätzte Ratzinger als Theologen,“ erläutert Angulanza „mehr interessiert war er aber an Fakten kirchenpolitischer Art, die er sehr kritisch beurteilte. In der Beziehung der beiden wurde die Form gewahrt; sie war korrekt, aber es gab keine Vertrautheit.“
Joseph Ratzinger, Berater beim II. Vatikanischen Konzil, auf einem Foto vom Herbst 1964.

Joseph Ratzinger, Berater beim II. Vatikanischen Konzil, auf einem Foto vom Herbst 1964.

Die dynamische und ausgeglichene Atmosphäre, in der sich die Bonner Lehrtätigkeit abspielt, ist jedoch nicht von Dauer. Die vielen Studenten, die in die Vorlesungen des knapp über dreißig Jahre alten Professors strömen, wecken den Neid altgedienter Professoren wie Johannes Botterweck (Altes Testament) und Theodor Schäfer (Neues Testament). Angulanza erinnert sich: „Über Schäfer kann ich nicht viel sagen, weil ich seine trockenen Vorlesungen nie besucht habe, in denen er nichts anderes tat, als seine Einleitung des Neuen Testaments wortwörtlich herunterzulesen. Botterweck wirkte auf uns Studenten anmaßend, von sich selbst eingenommen und polemisch.“ Der akademische Neid wird noch größer, als Johannes XXIII. das II. Vatikanische Konzil einberuft und der Kardinal von Köln, Joseph Frings, den jungen bayerischen Dozenten, auf einen Vortrag desselben hin, als theologischen Berater will. Frings und sein Sekretär Hubert Luthe – späterer Bischof von Essen, bereits Studienkollege Ratzingers an der Universität München – schicken ihrem Mitarbeiter die Schemata der Dokumente der Zentralen Vorbereitungskommission, um von ihm Kritik und Verbesserungsvorschläge zu erhalten. Auf Ratzinger wirken sie – wie er in seiner Autobiographie erzählt – „etwas steif und eng, zu sehr an die Theologie der Schule gebunden, zu sehr das Denken von Gelehrten und zu wenig das von Hirten“ [Joseph Kardinal Ratzinger: Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977), S. 101]. Ratzinger schreibt auch einen berühmten Vortrag über „Das Konzil und die moderne Gedankenwelt“, der von Frings in Genua am 19. November 1961 verlesen wird. Darin werden die im Vorfeld des Konzils beim Großteil der europäischen Episkopate entstandenen Reformerwartungen zusammengefasst. Als das Konzil beginnt, bringt Frings seinen Berater mit nach Rom, erwirkt für ihn die Ernennung zum offiziellen Konzilstheologen. Er läßt sich bei der Abfassung der Beiträge helfen, die die Argumente des reformorientierten Flügels der Konzilsversammlung repräsentieren. Und ermöglicht es seinem Mitarbeiter so, einer der Protagonisten „hinter den Kulissen“ des Konzils zu werden. In Bonn aber wird diese offensichtliche Wertschätzung des 35jährigen Theologie-Talents nicht von allen gern gesehen. Die Lage spitzt sich zu.

Invidia clericorum
Zu den Doktoranden Ratzingers gehören auch zwei orthodoxe Studenten, Damaskinos Papandréou und Stylianos Harkianakis, die heute Metropoliten des Ökumenischen Patriarchats Konstantinopel sind. Der Fakultätsrat lehnt das Ansuchen der beiden ab, an der Katholisch-theologischen Fakultät zu promovieren. Als Ratzinger zu den Konzilsversammlungen wieder einmal nach Rom reist, werden die Noten der beiden von seinen Gegnern heruntergedrückt. Auch die Habilitationsschrift des Studenten Johannes Dörmann über die neuen, durch die Studien Johann Jacob Bachofens (dem ersten, der die Theorie der Existenz eines Urmatriarchats aufstellte) erschlossenen Kenntnisse über die Evolutionstheorie wird mit dem Argument blockiert, es handle sich um keine theologische Arbeit. Das erinnert Ratzinger an sein eigenes Drama; damals, als der Dogmatikprofessor Michael Schmaus, sein Hauptgutachter, versucht hatte, seine eigene Habilitationsschrift über Bonaventura nicht durchgehen zu lassen, weil er sich persönlich übergangen fühlte und darin modernistische Gedanken zu finden meinte. Und er erkennt, daß die Zeit für eine Veränderung gekommen war.
1962 wird der Lehrstuhl für Dogmatik an der anerkannten Universität Münster frei: Der große Dogmatiker Hermann Volk, inzwischen zum Bischof von Mainz ernannt, will Joseph Ratzinger als seinen Nachfolger. Viktor Hahn erinnert sich: „Der Professor wollte dem Ruf zunächst nicht nachkommen: er wollte Bonn nicht verlassen, auch, um sich nicht vom nahen Köln zu entfernen, wo die Zusammenarbeit mit Frings begonnen hat. Aber vier Monate später überlegte er es sich anders, und nahm doch an. Die Feindseligkeit ihm gegenüber war nach seiner Ernennung zum Konzilsberater sicher größer geworden. Ich fragte Prof. Jedin, ob ihn die anderen Professoren loswerden wollten. Und er antwortete mir, daß ich damit vielleicht sogar recht haben könnte.“ Botterweck rühmte sich bei seinen Kollegen nämlich damit, ihn aus Bonn „verjagt“ zu haben.
In Münster läßt sich Ratzinger mit seiner Schwester Maria in einem Haus in der Annette-von-Droste-Hülshoff-Straße nieder, in der Nähe des Aasees. Im oberen Stockwerk finden seine treuen „Anhänger“ Pfnür und Angulanza Unterkunft, die ihm an der Universität als wissenschaftliche Mitarbeiter zur Seite stehen. Früh am Morgen zelebriert er die Messe in der Kapelle eines Pflegeheims in der Nähe seiner Wohnung, dann fährt er mit dem Rad in die Fakultät. Peter Kuhn berichtet: „Münster ist eine flach gelegene Stadt, nicht weit von Holland, dort fahren alle mit dem Rad, auch heute noch. Pfnür kaufte für den Professor ein Rad. Da er aber sehr sparsam war (und ist), besorgte er, wie gewöhnlich, nur ein gebrauchtes, das in einem so bescheidenen Zustand war, daß ich ihn noch heute aufziehe und ihm sage, daß dem Papst wegen diesem Fahrrad – was natürlich nicht stimmt – immer noch die Knie weh tun…“. In Münster wollen immer mehr Studenten bei ihm promovieren. Die Tradition der bayerischen „Brotzeiten“ wird im engsten Freundeskreis fortgeführt. Manchmal trifft sich die kleine Gruppe von Theologen mit ihrem Professor in einem Wirtshaus am See, das wie für sie gemacht scheint: es heißt Zum Himmelreich.
An der Fakultät findet Ratzinger ein herzliches und stimulierendes Klima vor. „Die Fakultät von Münster war eine aufstrebende Fakultät,“ erinnert sich Pfnür, „die einen größeren Handlungsspielraum, mehr finanzielle Möglichkeiten bot als Bonn. Und die Dogmatik war das Aktionsfeld, das sich am besten für Professor Ratzinger eignete; hier konnte er seine Erfahrung in Sachen Patristik und Heilige Schrift am besten einbringen.“ Die „klassischen“ Säulen von Ratzingers Unterricht kommen im Licht dessen zum Tragen, was beim römischen Konzil geschieht. 1963 befassen sich seine Kurse mit der Einleitung in die Dogmatik und der Eucharistielehre. Das Seminar rankt sich um das Thema „Schrift und Tradition“. 1964 und 1965 geht es bei den Seminaren um die Konstitution Lumen gentium des II. Vatikanischen Konzils. Im Wintersemester 1965-66 geht es in einem seiner Dogmatik-Kurse um eine Retrospektive des gerade zu Ende gegangenen Konzils, das Seminar dagegen läßt sich von der Konzilskonstitution Dei Verbum über die Offenbarung inspirieren.
Mit den Kollegen gibt es keine Probleme. Philosophie unterrichtet Joseph Pieper. Für Theologie ist der für seine resolute Art bekannte Erwin Iserloh zuständig. In jenen Jahren wird die Dozentengarde noch um andere vielversprechende Jungtheologen wie Walter Kasper und Johannes Baptist Metz, Initiator der politischen Theologie, bereichert, gegen den Ratzinger später noch polemisieren wird. Aber in der Zeit in Münster scheint sich niemand an der großen Beliebtheit zu stoßen, die Ratzinger bei seinen Studenten genießt. Pfnür berichtet: „Eingeschrieben waren ca. 350, an den Vorlesungen nahmen jedoch im Durchschnitt 600 Hörer teil. Auch Studenten von anderen Fakultäten kamen, um Ratzinger zu hören – von der Philosophie, von der Jurisprudenz. Wir haben den Ekklesiologie-Kurs über die Zentralität der Eucharistie vervielfältigt und 850 Kopien davon verkauft.“ „Pfnür hatte in Münster eine Art von kleiner Druckerei eingerichtet,“ berichtete Kuhn schmunzelnd. „Die Vorlesungen wurden vervielfältigt, in Pakete verpackt und in ganz Deutschland und Österreich verschickt, an die auf die verschiedenen Theologie-Fakultäten verteilten ‚Fans‘ Ratzingers.“
Die intensive Beteiligung Professor Ratzingers an den Konzilsarbeiten trägt zur Vermehrung seines Ruhmes bei. Er schreibt Stellungnahmen für seinen Kardinal, wird mit der Erstellung von Dokumentsentwürfen betraut, die alternativ waren zu den von der Römischen Kurie erarbeiteten. Er arbeitet mit allen großen Konzilstheologen zusammen: Yves Congar, Henri de Lubac, Jean Daniélou, Gérard Philips, Karl Rahner. „Uns Studenten erzählte er, daß ihn besonders die lateinamerikanischen Bischöfe und Theologen beeindruckten,“ berichtetet Pfnür. Als er nach Ende der römischen Sitzungen nach Deutschland zurückkam, hielt er vier gut besuchte öffentliche Vorträge über die Konzilsperioden, die auch im Druck erschienen. Möglichkeiten für eine Reflexion, bei der sich das Urteil Ratzingers deutlich absetzte von dem auf progressiver Seite spürbaren Neotriumphalismus und der polemisch angeheizten Stimmung, die bereits auf andere „reformistische“ Theologen des Konzils abgefärbt hatte. Ratzinger selbst schreibt: „Von Mal zu Mal fand ich, aus Rom zurückkehrend, die Stimmung in der Kirche und unter den Theologen aufgewühlter. Immer mehr bildete sich der Eindruck, daß eigentlich nichts fest sei in der Kirche, daß alles zur Revision stehe“ (op.cit.. S. 134). Pfnür erläutert: „Die ersten Anzeichen für die Orientierungslosigkeit konnte man nicht so sehr an der Fakultät wahrnehmen, sondern in den Pfarreien. Die Pfarrer begannen, die Liturgie nach Belieben zu ändern, und das hat er immer scharf kritisiert.“
An der Fakultät liefen die Dinge gut. Ratzinger war bei Kollegen wie auch Studenten überaus geschätzt. Hahn erzählt 30Tage eine bezeichnende Episode aus dieser Zeit: „Einmal war der Hörsaal zum Bersten voll: keiner wollte die öffentliche disputatio zwischen Prof. Metz und dem Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar versäumen, der Metzens politische Theologie kritisierte. Metz bat Ratzinger, bei der Debatte als Koordinator zu fungieren. So faßte unser Professor – zwischen einem Beitrag und dem anderen – die Argumente der beiden Kontrahenten so gekonnt zusammen, daß auch die unklarsten Passagen klar und interessant wurden. Am Ende wurden sowohl Metz als auch von Balthasar mit respektvollem Applaus bedacht. Der längste und begeistertste Applaus aber galt dem Schiedsrichter.“
Die Studenten drängen in seine Vorlesungen, von seinen Kollegen wird er geschätzt, er hat Kontakte zu Bischöfen und Theologen der ganzen Welt… Was bewegt Ratzinger dann doch, Münster zu verlassen?

Ratzinger, Professor der Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising (1959).

Ratzinger, Professor der Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising (1959).

Der „Ruf“ Küngs
Der inzwischen zu Weltruhm gelangte Professor ist jedoch keiner, der seine kirchliche und wissenschaftliche Karriere über alles gestellt hätte. Seine Schwester Maria, die ihm mit hingebungsvoller Fürsorge zur Seite steht, kann sich in der westfälischen Stadt einfach nicht einleben. Der schönste Ort in Münster ist für sie der Bahnhof, von dem die Züge nach Bayern fahren. Hahn berichtet: „Ein paar Jahre später, als ich ihn einmal gefragt habe, warum er aus Münster fortgegangen ist, sagte er mir, daß seine Schwester dort nicht glücklich gewesen wäre. Sie hatte ihm ihr ganzes Leben gewidmet – wie hätte ihm da ihr Heimweh gleichgültig sein können?“. Als ihn dann, 1966, der Ruf auf den zweiten dogmatischen Lehrstuhl an der Katholisch-theologischen Fakultät Tübingen erreicht, muß Ratzinger nicht lange überlegen. Beim Umzug dorthin ist Pfnür an seiner Seite. Empfangen werden sie von einem Theologen, den Ratzinger seit 1957 kennt und dem er auch beim Konzil begegnet ist. Einer, der ihn schätzt und der sich bei seinen Fakultätskollegen dafür eingesetzt hat, daß er nach Tübingen gerufen wurde. Er lädt sie zum Essen ein und behandelt den „Neuzugang“ der Tübinger Fakultät mit großer Herzlichkeit. Sein Name ist Hans Küng.
Fortsetzung folgt…

(unter Mitarbeit von Pierluca Azzaro)


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