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JOHANNES PAUL I
Aus Nr. 05 - 2003

„So hat meine Liebe zur Jungfrau Maria begonnen...


...noch bevor ich sie kannte..., an jenen Abenden am Herdfeuer bei uns zuhause, auf dem Schoß meiner Mutter, ihrer Stimme lauschend, die den Rosenkranz betete...“. So Albino Luciani, der Papst für 33 Tage, vom 26. August bis zum 28. September 1978, über seine Marienverehrung. Die Erinnerungen seiner Schwester Antonia.


von Stefania Falasca


Papst Luciani

Papst Luciani

Sie hat auch jetzt die Absicht, sich einzufinden. Pünktlich wie immer. An diesem römischen Maiabend in der Basilika der Heiligen Cosmas und Damian. Geht in die Kirche hinein, genau wie damals, als sie noch Kinder waren, und es ist fast wie eine Rückkehr. Nach Canale. Ganz genau wie an jenen Abenden vor langer Zeit. Als sich auf dem Pfarrplatz in der Abenddämmerung das Pfeifen der Spatzen mit dem Lärm der Kinder vermischte, die Fußball spielten, bevor sie das Läuten der Kirchturmglocke nach Hause rief. Und da wird alles wieder lebendig: auch Albino ist dabei, dort hinten läuft er dem Ball hinterher. Eine alte Frau schimpft über den einen oder anderen daneben gegangenen Schuß. Die kleine Glocke beginnt zu läuten, und da kommen sie auch schon alle. Auch die von der Arbeit heimkehrenden Männer und die Mütter mit ihren Kindern im Arm beeilen sich, dem Ruf zu folgen. Die kleine Nina kommt schnell angelaufen, will neben den anderen Kindern auf den Stufen vor dem Altar der Unbefleckten Jungfrau Maria niederknien. Ganz nach dem Wunsch von Don Filippo: die Kinder vorn, alle anderen dahinter, zuerst die Männer, dann die Frauen. „So begann die Rosenkranzstunde,“ erinnert sie sich, und vor ihrem geistigen Auge wird alles wieder lebendig. „Mir scheint fast, wieder dort zu sein... in der vollen Kirche, mit diesen so voller Frömmigkeit gesprochenen Gebeten, den Gesängen... zu Anfang wurden immer die Marienlieder gesungen. Wieviele schöne Lieder! Nome dolcissimo, O bella mia speranza, Mira il tuo popolo... ich kann mich noch an alle erinnern, habe sie nie vergessen. Und sie jetzt zu hören, ist ein großer Trost für mich. Damals wurde der Rosenkranz auf Lateinisch gebetet – fährt sie fort –, und nach den Litaneien schloß Don Filippo mit der Erzählung von kurzen Episoden aus dem Leben Mariens oder der Verehrung, die die Heiligen der Muttergottes entgegenbrachten. In einem Jahr erzählte er uns die ganze Geschichte von Lourdes. Ich hörte sie so zum ersten Mal...“
Nina hat keinen dieser Maiabende vergessen. Wie sie da saßen, alle in Reih und Glied – ganz genau wie die Perlen des Rosenkranzes, den sie in der Tasche ihres Kleides fest umklammert hielt. Sie weiß noch genau, wo ihre Mutter saß, Berto und Albino; erinnert sich noch an die Blumen, die sie pflückte, um den Altar der Muttergottes zu schmücken, die ersten „Vergißmeinicht“, die nach dem Schnee erblüht waren; mit welcher Begeisterung erfüllte sie doch diese Aufgabe, die Don Filippo den kleinen Mädchen zugedacht hatte! Sie erinnert sich sogar an jenen Mai, als neben der Muttergottes die Statuen der hl. Agnes und der gerade erst heiliggesprochenen Theresia vom Kinde Jesus aufgestellt wurden. Man schrieb das Jahr 1927. Nina war noch klein, aber die Prozession weißgekleideter Mädchen, die von der Ortschaft Celat auf den Schultern die Statuen der beiden Heiligen zur Kirche von Canale trugen, hat sie nicht vergessen. Albino hatte ihr oft aus dem Leben der kleinen Theresia erzählt, und so war sie ihr ganz besonders ans Herz gewachsen. „Bei uns zuhause wurde das ganze Jahr lang der Rosenkranz gebetet. Auch das Bittgebet an Unsere Liebe Frau von Pompej. An den Winterabenden gingen wir mit unserer Mutter zu unseren Großeltern mütterlicherseits, um dort gemeinsam den Rosenkranz zu beten. Wie gern erinnere ich mich an diese Abende... das war unser Leben, die Menschen, die wir lieb hatten. Nur im Mai und im Oktober, den der Muttergottes geweihten Monaten, ging man in die Kirche, um den Rosenkranz zu beten, und wer gerade keine Zeit hatte oder weit weg wohnte, der betete ihn vor den atriòl, den kleinen Marienaltärchen, die man an den Straßen errichtet hatte. In Canale, in unseren Tälern, gibt es viele davon. Die Marienverehrung war bei uns ganz einfach zuhause,“ meint Nina. Einer dieser Altäre steht genau hier, an der Straße vor dem Haus der Lucianis, das atriòl de Rividela, einstmals ein Marienaltar der sogenannten Santa-Cros-Prozession. Am 3. Mai, dem Tag, an dem das Heilige Kreuz verehrt wurde. An diesem Tag fiel das Rosenkranzbeten in der Kirche aus. „Die vom Landpfarrer geleitete Prozession machte sich um halb sechs Uhr morgens auf den Weg durch alle Ortschaften des Tales,“ erzählt Nina. „Vor dem atriòl vor unserem Haus wurde angehalten und eine Passage aus dem Evangelium vorgelesen, dann ging es in die Kirche zur Messe. An diese Prozession mit ihren Litaneien kann ich mich noch erinnern, als wäre es gestern gewesen. Besonders an eine Episode. Es war in einem Jahr, in dem Ostern auf ein spätes Datum gefallen war; die Ferien waren zuende und Albino mußte wieder ins Seminar zurückfahren. Als wir mit der Prozession gerade auf dem Hügel angekommen waren, in der gleich über Canale gelegenen Ortschaft Carfon, drehte ich mich um, um einen Blick auf den Marktplatz zu werfen. Und dort sah ich den Bus, der nach Belluno fuhr und Albino von mir fortbrachte. Ich sehe ihn noch deutlich vor mir... ich konnte die Tränen nicht zurückhalten..., wußte ich doch, daß ich meinen Bruder abends nicht mehr zuhause vorfinden würde... Und so war es auch im Oktober, wenn er gegen Ende des Monats wieder ins Seminar zurückkehrte. An jenen Oktoberabenden gingen wir stets zusammen in die Kirche. Albino nahm mich immer an der Hand. Wenn er wegfuhr, mußte ich immer weinen... es war das erste Mal, daß ich erfuhr, was Schmerz ist...“
„So vergingen die Marienmonate meiner Kindheit,“ erzählt Nina „und wenn es eines gab, was mir Albino stets ans Herz legte, dann, nie auf das Gebet zu vergessen, ganz besonders nicht auf den Rosenkranz. Wenn wir ihn in Venedig besuchten, vergaß er nie, uns das zu sagen, auch meiner Tochter Lina.“

Der Rosenkranz, der uns
wieder Kinder werden läßt
„Ohne den Rosenkranz, die Marienfeste, die Marienheiligtümer und die Madonnenbildnisse kann man unser Leben nicht verstehen, das Leben der Kirche,“ schrieb Albino Luciani, als er Patriarch von Venedig war. Und mit welch zärtlicher Verehrung er sich an die Muttergottes wandte, wie sehr ihm besonders der Rosenkranz am Herzen lag, das sagt nicht nur der ständige Verweis darauf, der sich in vielen seiner Ansprachen und Homilien findet, sondern sein ganzes Leben.
„Ohne den Rosenkranz, die Marienfeste, die Marienheiligtümer und die Madonnenbildnisse kann man unser Leben nicht verstehen, das Leben der Kirche,“ schrieb Albino Luciani, als er Patriarch von Venedig war. Und mit welch zärtlicher Verehrung er sich an die Muttergottes wandte, wie sehr ihm besonders der Rosenkranz am Herzen lag, das sagt nicht nur der ständige Verweis darauf, der sich in vielen seiner Ansprachen und Homilien findet, sondern sein ganzes Leben. In einer Ansprache in Venedig bei einem Marienfest sagte er über den Rosenkranz: „Einige halten diese Form des Gebetes heute für überholt, nicht zeitgemäß, wollen, wie sie sagen, eine Kirche ganz Geist und Charisma. ‚Die Liebe,‘ so sagte De Foucauld, ‚drückt sich mit wenigen Worten aus, immer denselben, die sie stets wiederholt.‘ Wenn wir mit unserer Stimme und mit dem Herzen das Ave Maria wiederholen, sprechen wir wie Kinder zu ihrer Mutter. Der Rosenkranz, dieses demütige, schlichte und einfache Gebet hilft uns, uns ganz Gott auszuliefern, Kind zu sein.“ Im Jahr 1975, als er anläßlich der Marienwallfahrt und dem hundertsten Jahrestag der Einwanderung der Venetianer nach Brasilien von der Diözese Santa Maria im Süden des Landes eingeladen worden war, hatte man ihn gebeten, eine Kopie der in Venedig so sehr verehrten Lieben Frau vom Heil mitzubringen. Luciani, der nicht gerne reiste, konnte dieses Mal nicht nein sagen. Bei seiner Ankunft erwarteten ihn 200.000 Menschen. Auf einem Spruchband stand zu lesen: „Sagen Sie den Venetianern in Italien, daß wir die Marienverehrung hochhalten.“ Daneben war die Abbildung eines Emigranten zu sehen: ein Mann mit dem Rucksack auf den Schultern, rechts von ihm seine Frau, in typisch venetianischer Kleidung, ein Kind auf dem Arm und angetan mit einer Schürze, aus der der Rosenkranz hervorblickt. Luciani erinnerte sich an einen Brief eines italienischen Emigranten in Brasilien, den sein Pfarrer in der Kirche vorgelesen hatte, als er noch ein Kind war. Daran, mit welcher Rührung er damals diesen Worten gelauscht hatte, die berichteten, wie traurig Weihnachten dort war, wo es keine Kirche gab, ja nicht einmal einen Priester für die Messe, nur eine kleine Kapelle, ohne ein einziges Marienbild. Dann begann er seine Homilie mit den Worten: „Wer liebt currit, volat, laetatur. Lieben bedeutet, mit dem Herzen auf das zuzulaufen, was man liebt. Meine Liebe zur Jungfrau Maria hat begonnen, als ich sie noch gar nicht kannte..., an jenen Abenden am Herdfeuer, auf dem Schoß meiner Mutter, ihrer Stimme lauschend, die den Rosenkranz betete...“ Und, das Bild der Emigrantin mit dem Rosenkranz vor Augen, sagte er: „Laßt euch etwas sagen zu Maria, der Mutter und Schwester. Mutter des Herrn. Das war sie auch bei der Hochzeit von Kana: hat ihr mütterliches Herz gezeigt, diesen Brautleuten gegenüber, die Gefahr laufen, sich gehörig zu blamieren. Sie ist es, die das Wunder provoziert! Es hat fast den Anschein, als habe Jesus ein Gesetz für sich selbst gemacht: ‚Ich vollbringe das Wunder, aber sie soll es verlangen!‘. Als Mutter müssen wir sie oft anrufen, großes Vertrauen zu ihr haben, große Verehrung! Franz von Sales nennt sie sogar voller Zärtlichkeit ‚unsere Großmutter‘, um in den Genuß des Trostes kommen zu können, in die Rolle des Enkels zu schlüpfen, der sich ihr in grenzenlosem Vertrauen in die Arme wirft. Aber Paul VI., der Maria zur Mutter der Kirche erklärt hat, nennt sie oft auch Schwester,“ fuhr Luciani fort: „Maria, weil sie, wenngleich mit Vorrechten bedacht, wenngleich Mutter Gottes, auch unsere Schwester ist. Soror enim nostra est sagt Ambrosius. Und das ist sie tatsächlich: unsere Schwester! Sie hat ein ähnliches Leben geführt wie wir. Auch sie mußte nach Ägypten auswandern. Auch sie brauchte Hilfe. Wusch Geschirr ab, wusch Wäsche, bereitete das Essen zu, fegte den Fußboden. Sie hat diese ganz gewöhnlichen Dinge getan, aber auf eine ganz und gar nicht gewöhnliche Weise, denn – so sagt das Konzil – ‚als sie auf Erden ein Leben lebte wie alle anderen auch, voller Sorge um Familie und Arbeit, war sie doch stets aufs Innigste mit ihrem Sohn vereint.‘ Und weil uns die Muttergottes nicht nur Vertrauen einflößt, weil sie barmherzig ist, weil sie dasselbe Leben gelebt hat wie wir, stand sie vor denselben Schwierigkeiten wie wir auch, und so müssen wir ihr folgen, ihr ganz besonders im Glauben nacheifern.“
Nina erinnert sich, daß in den Marienmonaten in Canale auch Wallfahrten unternommen wurden. „Eine davon am 23. anläßlich des diözesanen eucharistischen Kongresses im Sanktuarium Santa Maria delle Grazie im Tal von Cordevole. Das habe ich nicht vergessen, weil die alten Frauen auch noch Jahre später das Abzeichen davon trugen. Aber diese Wallfahrten führten uns nie weit fort, durften nicht zu lange dauern. Als wir noch klein waren, gingen wir oft mit unserer Mutter zu Fuß zu Unserer Lieben Frau vom Heil in Caviola. Der Kirche von Pater Cappellos Kindheit. Die Leute hingen so sehr an ihr, daß sie beim Pfarrer protestierten, als man Ende der Vierzigerjahre beschlossen hatte, die baufällig gewordene Kirche für Restaurierungsarbeiten zu schließen. Albino nahm mich einmal zu Unserer Lieben Frau vom Schnee in Garès mit, um dort eine Kerze anzuzünden, wie er mir sagte. Ich war noch ein kleines Mädchen und ging mit, weil er mir eine Flasche Limonade versprochen hatte; doch der Weg war weit, und so mußte er mich das letzte Stück auf seine Schultern setzen.“ Albino dagegen hat viele andere Wallfahrten unternommen. „Don Filippo hat ihn mitgenommen,“ erzählt sie. „Berto erinnert sich sicher an Albinos Wallfahrt zu Unserer Lieben Frau von Pietralba. Als er nämlich nach drei Tagen zurückkam, weckte er ihn mitten in der Nacht auf, weil er es nicht erwarten konnte zu sehen, was er ihm mitgebracht hatte. Albino war wohl 13, 14 Jahre alt. Er berichtete Berto, einen weiten Weg zurückgelegt zu haben, daß er einmal während einer bei einem Freund von Don Filippo eingelegten Pause, während der Unterhaltung der beiden Priester, auf dem Stuhl eingeschlafen war, und daß sie sich einmal sogar verirrt hätten... Das war das erste Mal, daß mein Bruder nach Pietralba gekommen war.“ Das dort befindliche Marienheiligtum sollte Luciani später besonders ans Herz wachsen. Als er Bischof von Vittorio Veneto war, kam er jeden Sommer hierher, auch, als er schon Patriarch von Venedig war. Einen Großteil der Zeit brachte er dort im Beichtstuhl zu. Wieviele Marienheiligtümer hat Albino Luciani bei seinen Wallfahrten doch gesehen! Er begleitete des öfteren Wallfahrer der Diözese nach Lourdes, Loreto, Fatima. So sagte er in einer Homilie in der Kirche Santa Maria delle Grazie in Venedig: „Als ich mich darauf vorbereitete, in diesem Sanktuarium zu sprechen, blickte ich auf mein Leben als Bischof zurück. Und mußte zu meiner Überraschung feststellen, daß ich meinen pastoralen Dienst in den Sanktuarien geleistet habe.“ Als ihn ein Oberer des Klosters Unserer Lieben Frau der Wunder in Motta di Livenza einlud, gestand er diesem: „Ihre Einladung nehme ich gerne an. Als ich noch klein war, habe ich viel von der Madonna von Motta gehört, aber es war mir nie gelungen, mir diesen Wunsch zu erfüllen.“ Und eben bei diesem Anlaß, in der Homilie, sagte er folgende Worte: „Über die Muttergottes wird viel geredet und geschrieben, doch muß man das unbedingt auf eine Weise tun, die für alle verständlich ist, die Herzen rührt. Was nicht gelingen kann, wenn man nicht selbst ein gerührtes Herz besitzt: der hl. Alfonso, der ein großer Theologe war, ließ sich sogar dazu herab, zu stammeln, damit ihn auch die Einfachsten verstehen konnten, sein Volk, das weder lesen noch schreiben konnte, und für das er in einfachster Sprache Lieder verfasste, die seit mehr als einem Jahrhundert in Italien gesungen werden. Don Bosco ließ sie seine Kinder singen. Eines beginnt so: ‚Meine schöne Hoffnung / Du meine süße Liebe Maria / mein Leben / mein Friede bist Du‘. Wer so schrieb, der muß sich der Muttergottes nah gefühlt haben, der hat ihr voller Vertrauen sein Herz geöffnet. Aber er sprach nicht nur von Maria, sondern auch zu ihr, mit zärtlichen, immer wieder eingeflochtenen Gebeten. Es darf kein steriles, vorübergehendes Gefühl sein, keine Sentimentalität: außer dem Verstand und dem Willen muß auch das Herz beim Marienkult dabei sein. ‚Der schöne Name Mariens sei stets auf unseren Lippen,‘ schrieb der hl. Bernhard, ‚sei stets in unseren Herzen‘.“ Am 29. Juni 1978, genau drei Monate vor seinem Tod, kam Luciani zum letzten Mal nach Canale. Der Pfarrer kann sich noch gut an diese letzte Begegnung erinnern: als er in die Kirche kam, fand er dort im Halbdunkel Luciani vor, der vor dem Altar der Unbefleckten Jungfrau Maria den Rosenkranz betete, dort, wo auch seine Mutter immer niedergekniet war.




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