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VATIKAN
Aus Nr. 08 - 2006

Ein Salesianer für Papst Benedikt


Interview mit Kardinal Tarcisio Bertone, ab dem 15. September Staatssekretär des Heiligen Vaters.


Interview mit Kardinal Tarcisio Bertone von Gianni Cardinale


Kardinal Tarcisio Bertone

Kardinal Tarcisio Bertone

Ich sehe in dem neuen Staatssekretär drei neue Eigenschaften. Zunächst einmal ist er ein Akademiker. Er versteht es, Entscheidungen zu treffen und hat noch dazu einen gesunden Sinn für Humor. Eigenschaften, die meiner Meinung nach für einen Staatssekretär nicht gerade unwichtig sind.“ So beschrieb Joaquín Navarro-Valls – 22 Jahre lang Leiter des vatikanischen Presseamts – den neuen Staatssekretär von Papst Benedikt XVI., Kardinal Tarcisio Bertone. Mit Amtsantritt am 15. September. Sozusagen als „Ergänzung“ zu dieser von Navarro-Valls in Val d’Aosta (wo er sich auf Einladung des Papstes gerade befand) den Journalisten gegebenen Stellungnahme bat 30Tage nun auch Kardinal Bertone selbst um ein Interview. Das Ergebnis ist eine Biographie voller interessanter Anekdoten, angefangen beim Tag seiner Geburt … „Ich wurde in der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember 1934 als fünftes von acht Kindern einer Kleinbauernfamilie geboren,“ erzählt uns der Kardinal. „Am Gemeindeamt wurde der 1. als Geburtstag eingetragen, bei der Pfarrei der 2. Das ist auch der Grund, warum mein Geburtsdatum beim Staat anders aufscheint als bei der Kirche: in den weltlichen Dokumenten steht der 1,. im Päpstlichen Jahrbuch dagegen der 2. Dezember. Meine Eltern waren gläubige Katholiken, ließen mich auf den Namen Tarcisio Pietro Evasio taufen. Tarzisius, der junge Mann, der im dritten Jahrhundert den Märtyrertod starb, weil er die Eucharistie verteidigte, die er den gefangenen Christen brachte, war der Schutzpatron der Anhänger der Katholischen Aktion. Mein Vater, der dort aktiv war, wollte mir ihm zu Ehren diesen Namen geben. Evasio dagegen, Bischof von Casale, war der Heilige, dessen Festtag wir am 2. Dezember begehen. Am 9. Dezember wurde ich dann in der Pfarrei der Heiligen Petrus und Solutor getauft.“

Gehen Sie mehr nach Ihrer Mutter oder nach Ihrem Vater?
TARCISIO BERTONE: Nach beiden. Mein Vater Pietro war – ein Priester unseres Ortes einmal ausgenommen – der einzige Abonnent des Osservatore Romano in Romano Canavese. Er war praktizierender Katholik, ging jeden Tag zur Messe. Und er hatte eine große Leidenschaft für die Musik. Meine Mutter Pierina war sehr religiös, in zahlreichen Wohltätigkeitswerken engagiert. Sie war aber auch eine „Kämpfernatur“, konnte sich für Politik begeistern. Sie war aktives Mitglied der Volkspartei von Don Luigi Sturzo; in den Zwanzigerjahren nahm sie sogar an Versammlungen teil, wo es nicht selten zu Handgemengen kam, setzte sich 1948 für den Sieg der DC Alcide De Gasperis ein. Und nicht nur das. In der Zeit des Faschismus bezahlte sie nie den Parteiausweis – weder für mich noch für meine Geschwister.
Kardinal Tarcisio Bertone mit Benedikt XVI

Kardinal Tarcisio Bertone mit Benedikt XVI

Von Ihrem Vater haben Sie eine gewisse Leidenschaft für die Lektüre und die Musik geerbt. Laut dem Buch, das der Journalist von Secolo XIX, Bruno Viani, über Sie schrieb (Tarcisio Bertone. Il cardinale del sorriso, De Ferrari, Genua 2004, Euro 12,00), sollen Sie sich – wie Ihr Bruder erzählt – in jungen Jahren auch als Komponist betätigt haben: das Ergebnis sind Frenesia primaverile, ein fröhliches Stück, und Zingaresca, im Jazzstil gehalten...
BERTONE: Ja, dem Text von Frenesia primaverile lag das Gedicht eines Häftlings zugrunde, dem ich beim Besuch des Gefängnisses von Fossano begegnet war und der mich gebeten hatte, es zu vertonen… Aber das sind natürlich keine Meisterwerke. Ich bin nicht zum Komponisten geboren. Obwohl ich mich bei guter Musik schon immer entspannen konnte: Wolfgang Amadeus Mozart beispielsweise, oder auch Giuseppe Verdi. Ich habe auch immer gern Klavier gespielt.
Von Ihrer Mutter haben Sie Ihre soziale Ader und Ihr Interesse für Politik geerbt. Es ist kein Geheimnis, daß Sie dank Ihrer Freundschaft mit Carlo Donat-Cattin, dem 1991 verstorbenen christdemokratischen Leader, auch Artikel für Terza Fase, Zeitschrift der Bewegung „Forze Nuove“, geschrieben haben...
BERTONE: Mit Donat-Cattin verband mich eine tiefe Freundschaft und gegenseitige Wertschätzung. Was ich an ihm besonders bewunderte, war seine starke christliche Inspiration und sein Engagement, wenn es darum ging, die Lebensbedingungen der sozial schwachen Schichten, Bauern und Arbeiter, zu verbessern; und das ohne jeglichen Minderwertigkeitskomplex der Linken gegenüber. Ganz im Gegenteil. Er war auch frei von intellektuellem Hochmut, und seine gesunde Laizität, geprägt von einem großen Respekt der Kirchenhierarchie gegenüber, stellte nie den Anspruch, seine Ideen und Ideologien der Kirche aufdrängen zu wollen. Er war ein bedeutender Mann, ein bedeutender christlicher Politiker. Aber ich hatte nicht nur das Glück, Donat-Cattin kennenzulernen, sondern noch eine andere, nicht weniger faszinierende Persönlichkeit...
Wen?
BERTONE: Giorgio La Pira. Einmal bin ich mit ihm zu einem Konzert für die Konzilsväter des II. Vatikanums in der Basilika St. Paul vor den Mauern gefahren. Schon als ich noch Theologiestudent war, standen wir in Briefkontakt, und diese Briefe habe ich noch heute.
Kommen wir wieder auf Ihre Jugendzeit zurück. In dem bereits zitieren Buch Vianis wird berichtet, daß Sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit gerne mit „Kriegsrelikten“ wie Mauser-Pistolen oder Stein-Gewehren geschossen haben. Ein Hobby, das Sie noch immer pflegen?
BERTONE: Nein, Gott bewahre! Schon damals bekam ich wegen dieser Bubenstreiche einen gewaltigen Rüffel von meinen Eltern, als die Carabinieri vor der Tür standen, die uns entdeckt hatten… Ich persönlich bin der Meinung, daß man den Gebrauch von Waffen gründlich überdenken sollte. Vor allem der bedauerliche und schändliche Waffenhandel müsste abgeschafft werden: schließlich ist er eine der Hauptursachen vieler heutiger Kriege.
Als Ihre Ernennung zum Staatssekretär in einer Depesche der Ansa angekündigt wurde, wurde in Ihrer Heimatstadt erzählt, daß Sie als Kind Ingenieur werden wollten …
BERTONE: Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich hatte eigentlich eine gewisse Vorliebe für moderne Sprachen und wäre gerne Dolmetscher geworden… vielleicht auch Diplomat. Doch dann, als ich 14 war und das Kolleg in Valdocco besuchte, lud mich ein Salesianer, Don Alessandro Ghisolfi, zu einer Berufungseinkehr ein und forderte mich auf, in die Familie Don Boscos einzutreten. Ich kann mich noch genau erinnern, wann: es war der 3. Mai 1949, der Tag nach der Tragödie von Superga, dem Flugzeugabsturz der populären Fußballelf Grande Torino. Ich nahm an. Und sagte es meinen Eltern dann am 24. Mai, dem Fest Maria, Hilfe der Christen.
Bertone auf einem Foto des Jahres 1950, dem Jahr seiner religiösen Profess

Bertone auf einem Foto des Jahres 1950, dem Jahr seiner religiösen Profess

Wie reagierten Ihre Eltern?
BERTONE: Sie waren etwas überrascht, aber sie legten mir keine Steine in den Weg. Ganz im Gegenteil. Und wenn mich dann später doch Zweifel befielen – das Noviziat erschien mir manchmal als erdrückende Last – waren es gerade meine Eltern, vor allem meine Mutter, die mir rieten, mir gut zu überlegen, ob ich wirklich alles aufgeben wolle. Diesen Rat habe ich befolgt. Und zum Glück das Richtige getan.
Die erste Profess legten Sie am 3. Dezember 1950 ab, am 1. Juli 1960 wurden Sie zum Priester geweiht. Danach erwarben Sie das Lizentiat in Theologie mit einer Dissertation über Toleranz und Religionsfreiheit. Und dann schickten Sie Ihre Oberen zum Studieren nach Rom…
BERTONE: Wohin ich nicht gerne gegangen bin. Nach Rom zog es mich gar nicht. Und dabei habe ich nun schon dreißig Jahre hier gelebt! Hier habe ich das Lizentiat und das Doktorat in Kanonischem Recht erworben, mit einer Studie über die Regierung der Kirche im Denken von Benedikt XIV., Papst Lambertini (1740-1758). Mein Relator war der heutige Kardinal Don Alfons Maria Stickler. Noch zwei andere meiner ehemaligen Professoren sind heute Kardinäle: Don Antonio María Javierre Ortas, bei dem ich Kurse in Ekklesiologie besuchte, und Don Rosalio José Castillo Lara, Professor für Strafrecht.
Wie man hört, soll Don Stickler großes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten gesetzt haben, ein bisschen weniger jedoch in Ihr Engagement…
BERTONE: Ja, das stimmt. Er war der Meinung, daß ich nicht genügend Zeit in der Bibliothek verbringen würde. Ich hatte damals, wie eigentlich immer, keine große Lust, mich einzig und allein dem Studium zu widmen, sondern wollte auch bei den Jugendlichen pastoral aktiv sein: mit Einkehrtagen beispielsweise (an einem davon nahm auch Maria Fida Moro teil) und Ehevorbereitungskursen, aber auch bei den „laizistischen“ Jugendlichen in der sozialen und politischen Welt. Es waren die Jahre des Konzils, und wir Studenten waren fasziniert, wollten auf jeden Fall als Beobachter oder – warum nicht? – vielleicht sogar Protagonisten daran Anteil haben.
Welche Erinnerung haben Sie an das II. Vatikanische Konzil?
BERTONE: Sehr viele. So war ich beispielsweise bei der wunderschönen Eröffnungszeremonie vom 12. Oktober dabei. An jenem Tag sah ich auch, daß Ing. Vacchetti, Gestalter der Konzils-Aula, nicht wußte, wie er die ersten, streng vertraulichen Texte an die mehr als zweitausend Väter verteilen sollte. Da bot ich mich an, eine Gruppe von einem Dutzend Seminaristen zu koordinieren, und es gelang uns tatsächlich – in aller Vertraulichkeit – dieser Aufgabe innerhalb kürzester Zeit Herr zu werden. Die Konzilsberichte erwarteten wir jungen Priester stets mit großer Ungeduld. Geschrieben wurden sie von dem damals jungen Arcangelo Paglialunga für die Gazzetta di Torino, und von Raniero La Valle und Giancarlo Zizola für Avvenire d’Italia. Außerdem versuchten wir immer, uns zu St. Peter Zutritt zu verschaffen, wollten „live“ hören, worüber die Konzilsväter diskutierten. Dafür boten wir uns manchmal an, die ältesten von ihnen zu begleiten, die schon gebrechlich waren und Hilfe brauchten.
Bertone als junger Priester bei einem Ausflug mit den Jungen des Oratoriums (1955)

Bertone als junger Priester bei einem Ausflug mit den Jungen des Oratoriums (1955)

Gab es Aspekte des Konzils, die Sie besonders interessierten?
BERTONE: Thema meiner Lizentiatsarbeit war die Religionsfreiheit gewesen, und daher war ich sehr an den Diskussionen interessiert, die zur Erklärung Dignitatis humanae führten. Dank Don Castillo Lara – er war der Sachverständige des venezolanischen Episkopats – konnte ich bei einer der Debatten, die zur Abfassung des Textes führten, dabei sein. Es war eine lebhafte Diskussion unter den Kardinälen Giuseppe Siri, Josef Beran, Charles Journet, usw. Als sie dann plötzlich ins Stocken geriet und Paul VI. beschloß, die Abstimmung über den Text zu vertagen, geschah etwas, das ich wohl nie vergessen werde: die Kardinäle Julius Doepfner und Leo Jozef Suenens waren mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und heuerten zwei junge Theologen an, die bei den Konzilsvätern Stimmen für einen Appell an den Papst sammeln sollten, um doch noch eine sofortige Abstimmung zu erreichen. So bezogen diese beiden berühmten Theologen vor den Stehcafés des Konzils – mit den sympathischen Namen Jona und Abba – Stellung, um Stimmen zu sammeln. Sie bekamen tatsächlich tausend Stimmen zusammen. Aber der Papst ließ sich nicht beirren. Und hatte recht, denn am Ende wurde das Dokument mit weniger Widerstand angenommen, als das am Anfang der Fall gewesen wäre.
Warum können Sie sich an die beiden Stehcafés des Konzils so gut erinnern?
BERTONE: Das ist ganz einfach: weil sie immer gut besucht waren. Dort war alles gratis: Kaffee, Croissants, Getränke, belegte Brötchen … Und für uns, die wir zu Fuß aus der Via Marsala gekommen waren, wo sich damals der provisorische Sitz der Salesianer-Hochschule befand, war das ein wahrer Segen…
Haben Sie noch andere Erinnerungen an das Konzil?
BERTONE: Einmal nahm ich an einer interessanten Konferenz des jungen Hans Küng teil, der damals noch nicht vom Weg abgekommen war. Das Thema lautete: „Kirche und Charismen“. Auch bei einer Versammlung der sogenannten konservativen Konzilsväter war ich zugegen. Sie waren im Augustinianum zusammengekommen, um die Strategie zu analysieren, wie man jegliche Öffnung dem Thema der Kollegialität gegenüber im Keim ersticken könne. Dabei waren die Erzbischöfe Dino Staffa und Geraldo de Proença Sigaud. Eigentlich wollten sie uns gar nicht hereinkommen lassen, aber wir sagten ihnen einfach, wir wären die Studenten von Don Stickler – er war Konzilssachverständiger. Und dann organisierte ja auch die Salesianer-Hochschule Begegnungen mit Konzilsvater-Gruppen.
Nach dieser ersten Zeit in Rom – von 1961 bis 1965 – kehrten Sie in den Piemont zurück, wo Sie am internationalen Konvikt von Bollegno, in der Nähe von Ivrea, Moraltheologie unterrichteten. Aber schon 1967 kamen Sie erneut nach Rom.
BERTONE: Ich wurde beauftragt, Moraltheologie an der Salesianer-Hochschule zu unterrichten, die 1973 von Paul VI. in den Rang einer Päpstlichen Universität erhoben wurde. 1976, nach dem frühzeitigen Ableben des bekannten belgischen Juristen Don Gustave Leclerc, übertrug man mir die Leitung der Fakultät für Kanonisches Recht, wo ich bis 1991 Öffentliches Kirchliches Recht unterrichtete. Und zwar vor allem „Kirchliches Verfassungsrecht“ und „Beziehungen zwischen Kirche und politischer Gemeinschaft“. Außerdem befasste ich mich noch mit dem Recht der Minderjährigen und dem Völkerrecht. Seit 1978 wurde ich dann gerufen, diese Fächer auch an der Päpstlichen Lateran-Universität zu unterrichten.
Einer Ihrer Salesianer-Mitbrüder, Don Umberto Fontana, berichtete Verona Fedele gegenüber, Sie in den Siebzigerjahren kennengelernt zu haben. Und hat Sie wie folgt beschrieben: „Ein richtiger Salesianer… Ein guter Kumpel, der herrliche Fußballmatches organisieren konnte; im Sommer Grillfeste im Hof der Universität gab, mit so mancher Flasche guten Weines…“. Sie hatten also schon damals eine Schwäche für Fußball und gutes Essen…
BERTONE: Natürlich. Wann immer es mir möglich war, ging ich ins Olympiastadion, um meine Mannschaft, Juventus, deren Fan ich schon seit meiner Kindheit bin, spielen zu sehen. Und da ich schließlich aus dem Piemont komme, weiß ich ein Glas guten Weins natürlich zu schätzen, wenngleich ein frisches Bier – vor allem im Sommer – auch nicht zu verachten ist…
Von 1979 bis 1985 waren Sie Dekan der Fakultät für Kirchenrecht, von 1987 bis 1989 Vizerektor und von 1989 bis 1991 Rektor der Päpstlichen Universität Salesiana.
BERTONE: Damals wurde ich auch damit beauftragt, an der letzten Phase der Revision des Kodexes des Kanonischen Rechts mitzuarbeiten. Ich leitete die Arbeitsgruppe, die den Kodex ins Italienische übersetzte, mit Approbation der italienischen Bischofskonferenz CEI. In diesem Zusammenhang konnte ich Hunderten von Diözesen – italienischen und ausländischen – meinen Besuch abstatten, um diese „große Disziplin der Kirche“ vorzustellen. Von dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, wurde ich auch mit der Abfassung des 1990 promulgierten Kodexes der Kanones der Orientalischen Kirchen beauftragt.
Der katholischen asiatischen Presseagentur Ucan hat Ihr Mitbruder Don John Baptist Zen erzählt, daß Sie als Rektor der Päpstlichen Universität Salesiana auch nach China reisten. Welche Erinnerung haben Sie an diese Reise?
BERTONE: Das war 1990. Ich war in Hongkong und Peking, wo meine Begleiter und ich auch in der Kathedrale beteten. An bedeutungsvolle Begegnungen mit bürgerlichen Behördenvertretern oder Bischöfen der katholischen Kirche kann ich mich nicht erinnern, weder mit offiziellen noch im Untergrund wirkenden.
Bertone in der italienischen Diözesanmission in Isiolo, Kenia, 1994

Bertone in der italienischen Diözesanmission in Isiolo, Kenia, 1994

In den Jahren Ihrer Lehrtätigkeit begann aber auch Ihre Zusammenarbeit mit der Römischen Kurie…
BERTONE: Ja, zunächst informell – bis ich zum Konsultor für verschiedene Dikasterien ernannt wurde. 1989 wurde ich dann Mitglied der Gruppe von Rektoren der katholischen Universitäten, die an der späteren Apostolischen Konstitution Ex corde Ecclesiae über die Katholischen Universitäten arbeiteten, ein Dokument, das – vor allem in den USA – mit großer Ungeduld erwartet wurde.
Wann haben Sie Kardinal Ratzinger kennengelernt?
BERTONE: Wenn ich mich recht erinnere, erfolgte meine Ernennung zum Konsultor der Kongregation für die Glaubenslehre 1984. Den damaligen Kardinal Ratzinger, der Anfang 1982 nach Rom gekommen war, kannte ich schon vorher.
1988 wurden Sie Mitglied der Sachverständigengruppe, die Kardinal Ratzinger bei den Gesprächen mit Mons. Marcel Lefebvre zur Seite stand.
BERTONE: Das war eine überaus komplexe, aber interessante Erfahrung – wenn auch ohne positives Ergebnis. Ich bin jedoch nach wie vor der Meinung – besonders nach der Audienz, die Benedikt XVI. Mons. Bernard Fellay im vergangenen Jahr gewährte – daß es, sofern auf lefebvrianischer Seite der ehrliche Wille bestehen sollte, wieder in volle Gemeinschaft mit dem Hl. Stuhl zu treten, Mittel und Wege dazu geben wird.
Arbeiteten Sie damals auch mit dem Staatssekretariat zusammen?
BERTONE: 1990 wurde ich von Kardinal Agostino Casaroli, der bis Dezember 1990 Staatssekretär war, beauftragt, an den Versammlungen der Europäischen Kommission für die Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) teilzunehmen, die vom Europarat geschaffen worden war. Ein Organismus, der den Zweck verfolgte, einen fruchtbaren Dialog zwischen Ost und West zustande zu bringen, vor allem, um den Ländern, die gerade erst den Eisernen Vorhang hinter sich gelassen hatten, bei der Abfassung ihrer Verfassungstexte und der Einrichtung von der europäischen Rechtstradition würdigen konstitutionellen Organismen wie dem Obersten Gerichtshof zu helfen.
Am 1. August 1991 wurden Sie von Papst Johannes Paul II. zum Metropolitanerzbischof von Vercelli ernannt.
BERTONE: Es war eine große Ehre für mich, mit der Leitung des ältesten Bischofssitzes von Piemont betraut zu werden – auf den Spuren des großen hl. Eusebios, Freund des hl. Athanasius, mit dem er im 4. Jahrhundert die Plage der arianischen Häresie bekämpfte.
Der hl. Eusebios, den Sie einmal mit Don Bosco verglichen haben…
BERTONE: Eusebios und Don Bosco haben vieles gemeinsam. Man muß nur daran denken, wie entschlossen Don Bosco die Entartungen und Häresien bekämpfte, die auch im Turin des 19. Jahrhunderts um sich griffen, oder an die Einfühlsamkeit im Umgang mit anderen. Oder die politischen Kontakte: Don Bosco war ein blitzgescheiter Heiliger, manche sagen auch, ein zu gescheiter; ein Mensch, der großes Geschick bei Verhandlungen mit den Mächtigen zeigte, wenn es beispielsweise darum ging, einen größeren Handlungsspielraum für die Kirche zu erwirken. Auch darin gibt es Parallelen zum hl. Eusebios.
Apropos Politiker. Als Sie Erzbischof von Vercelli waren, war gerade der Politskandal um „Mani pulite“ (Saubere Hände) entbrannt, wurden Ermittlungen über die Stadtverwaltung angestellt, Administratoren inhaftiert. Bei diesem Anlaß baten Sie, diese im Gefängnis besuchen zu dürfen und brachten in einem Kommunique Ihre Verbitterung über die Freudenszenen zum Ausdruck, die sich bei der Ankunft der Verhafteten vor der Kaserne der Finanzpolizei abspielten: „Die Illusion, einen Kampf um die Gerechtigkeit gewonnen zu haben, wird von grausamer Euphorie und unglaublicher Schaulust überschattet, die eines rechtschaffenen Menschen und Christen unwürdig sind.“
BERTONE: Nur zu Ihrer Information: diese Administratoren wurden dann freigesprochen. Schauprozesse gefallen mir nicht, und zwar weder im kirchlichen, noch im staatlichen Bereich. Ich habe damals, in meiner Eigenschaft als Präsident der kirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der italienischen Bischofskonferenz, zwei wichtige Dokumente unterzeichnet (Legalità, giustizia e moralità, 1993, und Stato sociale ed educazione alla socialità, 1995), in denen auf die Notwendigkeit einer größeren Ehrlichkeit in der öffentlichen Verwaltung verwiesen wurde.
In den Jahren in Vercelli konnten Sie auch die ein oder andere Auslandsreise unternehmen.
BERTONE: Ich habe die Vercelliner Gemeinschaften in den USA, Kanada und Südamerika besucht, besonders aber die Beziehung der Erzdiözese zur Mission in Isiolo in Kenia verstärkt – der ich viele Male meinen Besuch abstattete –; ich habe die Schaffung des Apostolischen Vikariats befürwortet und den ersten Bischof geweiht, Mons. Luigi Locati, der am 14. Juli barbarisch ermordet wurde, mit seinem Blut Zeugnis ablegte für seinen Glauben.
Bertone, Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre, mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger, bei der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des dritten Geheimnisses von Fatima (2000)

Bertone, Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre, mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger, bei der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des dritten Geheimnisses von Fatima (2000)

Am 13. Juni 1995 wurde Ihre Rückkehr nach Rom angekündigt, wo Sie Kardinal Ratzinger als Sekretär des ehemaligen Heiligen Offiziums zur Seite standen. Welche wichtigen Aufgaben haben Sie in den sieben Jahren im Dienst dieser Kongregation erfüllt?
BERTONE: Es waren arbeitsreiche Jahre. Die Kongregation hat damals sehr bedeutungsvolle Dokumente veröffentlicht. Man denke nur an die Erklärung Dominus Iesus, an das Reglement für die Untersuchung der Lehren, an die der Kongregation obliegenden Normen für die schwersten Vergehen, an die lehrmäßige Note zu Engagement und Verhalten der Katholiken im politischen Leben…
Dokumente, die auch die ein oder andere Debatte auslösten, nicht immer unumstritten waren…
BERTONE: Ja, da haben Sie recht. Dominus Iesus wurde auch von namhaften Persönlichkeiten kritisiert. So daß Johannes Paul II. nach einem Arbeitsessen mit den Leitern der Kongregation beschloß, in einem Angelus zu bekräftigen, daß dieses Dokument von ihm selbst gewollt und approbiert worden war. Was er dann ja auch getan hat.
In Ihrer Zeit als Sekretär des ehemaligen Heiligen Offiziums hatten Sie auch Auslandsmissionen zu erfüllen.
BERTONE: Ja, ich hatte das Glück, Kardinal Ratzinger bei zwei wichtigen Begegnungen begleiten zu dürfen: bei der mit den lateinamerikanischen Episkopaten im mexikanischen Guadalajara 1996, und der in Nordamerika und Ozeanien 1999, in San Francisco, wo William Joseph Levada, der die Kongregation heute leitet, Erzbischof war. Dann mußte ich auch in die Tschechische Republik reisen, um die delikate Frage der in der dunklen Periode der kommunistischen Verfolgung erfolgten heimlichen Weihen verheirateter Männer zu untersuchen.
Man vertraute Ihnen auch mehrfach „Sondermissionen“ an: z.B. die Veröffentlichung des dritten Geheimnisses von Fatima oder den „Fall Milingo“…
BERTONE: Zwei sehr verschiedene Geschichten, die vielleicht eines gemeinsam haben: beide wurden von den Massenmedien mit einem gewissen morbiden Interesse verfolgt.
Ist in Sachen Fatima noch irgendetwas ungesagt gelieben?
BERTONE: Nein, keineswegs. Wie bereits öffentlich erklärt, wurde das dritte Geheimnis 2000 öffentlich gemacht, und Schwester Lucia hat weder die Wahl und den nachfolgenden Tod von Johannes Paul I. vorhergesagt, noch die Attentate vom 11. September mit Fatima in Verbindung gebracht. Das habe ich Schwester Lucia selbst sagen hören. Der einzige Aspekt, der Entwicklungen haben könnte, betrifft die von Schwester Lucia zum Ausdruck gebrachte Bitte, daß das Rosenkranzgebet liturgisches Gebet werden solle. Aber das ist eine andere Geschichte.
Eminenz, da Sie den Rosenkranz ansprechen, muß ich Ihnen gestehen, daß Sie von manchem Anhänger der Jungfrau Maria mit einem gewissen Misstrauen betrachtet werden – immerhin zeichneten Sie als Sekretär des ehemaligen Heiligen Offiziums für Briefe verantwortlich, die offizielle Pilgerreisen der Diözesen nach Medjugorje untersagen. Und haben auch bekanntgegeben, daß die regionale Bischofskonferenz des Latiums in dem hinlänglich bekannten Fall Unserer Lieben Frau von Civitavecchia das non constat de soprannaturalitate dekretiert hat…
BERTONE: Einem Salesianer vorzuwerfen, es an Frömmigkeit der Jungfrau Maria gegenüber fehlen zu lassen, ist gelinde gesagt lächerlich. Schon als kleiner Junge lehrte man mich, mich vertrauensvoll an Maria, Hilfe der Christen, zu wenden. Und dieses Vertrauen ist im Lauf der Jahre zum Glück nie geringer geworden. Das bedeutet aber nicht, daß man die offizielle Position der Kirche in so delikaten Fragen wie wahren oder vermeintlichen Marienerscheinungen nicht respektieren muß.
Und was können Sie uns zu Emmanuel Milingo sagen? Eine unendliche Geschichte, wie es scheint…
BERTONE: So erfreut ich über seine Rückkehr nach der ersten Flucht war, so betrübt bin ich heute über seinen zweiten Fall. Ich hoffe und bete, daß er seinen Platz in der katholischen Kirche definitiv wiedereinnimmt. Ich habe das dem Diener Gottes Papst Johannes Paul II. anvertraut
Am 10. Dezember 2002 wurden Sie zum Erzbischof von Genua ernannt, am 2. Februar 2003 hielten Sie in der Kathedrale St. Lorenz Einzug. Haben Sie mit dieser Ernennung gerechnet?
BERTONE: Nein, aber ich habe sie mit salesianischem Enthusiasmus vernommen. Es war eine Ehre für mich, mit der Leitung einer so alten und namhaften Diözese betraut zu werden, Nachfolger so bedeutender Bischöfe wie dem sel. Tommaso Reggio oder dem großen Giuseppe Siri zu sein…
Von dem Sie sich nach eigenen Aussagen inspirieren lassen wollten. Auch wenn eine Ihrer ersten – von der Presse entsprechend kommentierten – „Amtshandlungen“ ein Diskothekenbesuch mit den dortigen Jugendlichen war, mit denen Sie dann in das Lied einstimmten „Io, vagabondo che son io… ma lassù mi è rimasto Dio“…[Vagabund, der ich mich umhergetrieben..., doch dort oben ist mir Gott geblieben]
BERTONE: Das war keine Diskothek, sondern der Sportgelände Paladonbosco. Und hat uns nicht gerade Don Bosco gesagt, wir müßten auf die Jugendlichen zugehen? Das fragliche Lied ist zwar sicher kein liturgischer Gesang, aber es hat mich schon immer beeindruckt, weil es einen großen Wahrheitsgehalt hat.
In der Zeit in Genua machten Sie mehrfach von sich reden – nicht nur in der ligurischen Hauptstadt, sondern auch auf nationaler Ebene. Beispielsweise durch Ihre Kritik an der Halloween-Mode und Dan Browns Da Vinci Code, oder Ihre lobenden Worte für den Film The Passion von Mel Gibson. Eine Redseligkeit, die manchem etwas übertrieben scheint…
BERTONE: Ich habe von diesen Kritiken gehört. Sie haben mich jedoch nicht besonders berührt – auch, weil sie nie von meinen Vorgesetzten kamen. Und dann glaube ich, daß eine gesunde parresia bei Männern der Kirche eher Tugend denn Laster ist…
Die Kreierung zum Kardinal durch Johannes Paul II. am 21. Oktober 2003

Die Kreierung zum Kardinal durch Johannes Paul II. am 21. Oktober 2003

Berühmt sind auch Ihre Einsätze als Sportkommentator aus Marassi oder Ihre Aussage, daß die Kirche bei Sophia Loren in Sachen Klonation eine Ausnahme machen könnte. Aber sprechen wir über andere, ernsthaftere Aussagen Ihrerseits, beispielsweise Ihr klares Nein zum Irak-Krieg.
BERTONE: Ich habe nur das wiederholt, was schon Johannes Paul II. und der Hl. Stuhl darüber gesagt haben. Und die heutige Situation im Irak bestätigt, daß dieses Urteil prophetisch war. Als der arme Fabrizio Quattrocchi ermordet wurde, bat mich seine Familie, die Begräbnisfeier in der Kathedrale zu halten. Und als dann der sofortige Abzug unserer Truppen aus dem Irak vorgeschlagen wurde, machte ich darauf aufmerksam, wie gefährlich ein verfrühter Abzug unserer Truppen für die lokale Bevölkerung sein könnte.
Kein Blatt vor den Mund genommen haben Sie auch in Sachen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Norden und Süden der Welt…
BERTONE: Ich habe mehrfach das bekräftigt, was schon namhafte Gelehrte und gesamte Episkopate feststellen konnten: die internationalen Darlehen der Weltbank und des Währungsfonds, wie auch die von Land zu Land, sind Darlehen zu Wucherzinsen und müßten für illegal erklärt werden. Die Verschuldung wird nämlich dann Wucher, wenn sie das unveräußerliche Recht auf Leben und all die anderen Rechte verletzt, die man dem Menschen zwar nicht zugesteht, die er aber von Natur aus hat. Einige Technokraten, besonders der internationalen Konzerne, der Weltbank und des Währungsfonds’, haben den armen Ländern inakzeptable Bedingungen auferlegt, wie Zwangssterilisation oder die Verpflichtung, katholische Schulen zu schließen. Nach der Soziallehre der Kirche müsste man einen volksdemokratischen Kapitalismus verwirklichen, bzw. ein System nicht oligopolistischer Wirtschaftsfreiheit, das die größtmögliche Zahl von Subjekten umfasst und ihnen Zugang zum Unternehmertum und zur Kreativität gibt, was wiederum einen gesunden Wettbewerb begünstigt.
Sie haben sich zum geplanten Bau einer Moschee in Genua geäußert und scharfe Kritik an einem Minister geübt („Gewisse Personen müsste man zur Zwangsarbeit nach Cyrenaika schicken, damit sie endlich lernen, was Respekt ist“), der die Mohammed-Karikaturen befürwortete, die die islamische Welt in Rage brachten.
BERTONE: Die Frage des Islam ist sehr delikat. Ich habe immer gesagt, daß die Menschenwürde der gläubigen Muslime gewahrt werden muß, auch die der – immer zahlreicher werdenden – in unserem Land. Daher bin ich auch nicht gegen den Bau einer Moschee hier bei uns, wenn eine gewisse „Gleichberechtigung“ im Falle der Christen, die in islamischen Ländern leben, auch wünschenswert wäre. Ich schließe prinzipiell auch die Hypothese nicht aus, daß es in italienischen Schulen islamischen Religionsunterricht geben könne – natürlich vorausgesetzt, das erfolgt im Einklang mit den verfassungsmäßigen Werten unserer Republik, in einem normativen Rahmen, einer Kontrolle der Inhalte und einer Unterrichtsweise, die den Regeln für den katholischen Religionsunterricht entsprechen. Was meiner Meinung nach sehr schwierig sein wird.
Unmittelbar nach Ihrer Ankunft in Genua hatten Sie mit Polemiken um ein Buch zu kämpfen, in dem die Kirche von Genua bezichtigt wurde, einer Reihe von Naziverbrechern die Flucht nach Südamerika ermöglicht zu haben.
BERTONE: Als Antwort auf diese unglaublichen, von Secolo XIX wiederaufgegriffenen Anschuldigungen, haben wir 50.000 Kopien einer Sonderausgabe des Settimanale Cattolico [Katholisches Wochenblatt] drucken lassen, mit Artikeln, die zeigten, wie unbegründet und aus der Luft gegriffen diese Anschuldigungen waren. Und dann stehen auch die Arbeiten einer von mir ernannten historischen Kommission kurz vor dem Abschluß – Studien, die, wie ich meine, das tadellose Verhalten der Kirche von Genua in jener Zeit beweisen werden.
In Genua hatten Sie mit Politikern aus verschiedensten Lagern zu tun. Mit dem christdemokratischen Bürgermeister Giuseppe Pericu, dem Präsidenten der Provinz, Alessandro Repetto (Margherita), dem Präsidenten der Region, Sandro Biasotti (Mitte-Rechts) und schließlich mit Claudio Burlando (Mitte-Links) und dem ehemaligen Minister von Forza Italia, Claudio Scajola… Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
BERTONE: Eigentlich ganz gute. Wenn man auch sagen muß, daß sich die Kirche von Genua nie gescheut hat, ihre Meinung – wenn das notwendig war – klar zu äußern. Ich darf auch sagen, daß es mich sehr gefreut hat zu sehen, wie viel Wertschätzung und Sympathie mir die von Ihnen zitierten Politiker entgegenbrachten.
Genua ist auch die Diözese von Gianni Baget Bozzo und Don Andrea Gallo, die einander so ähnlich, und doch so verschieden sind…
BERTONE: Die Kirche von Genua ist eine Kirche mit einer langen Geschichte und Tradition. Aber diese Kirche ist auch heute lebendig. Und Don Baget und Don Gallo – mögen sie die Dinge manchmal auch anders empfinden – wollen vollkommener Teil dieser Kirche sein.
In der Zeit in Genua konnten Sie mehrere Auslandsmissionen erfüllen…
BERTONE: In Genua habe ich vor allem versucht, den Pfarreien und religiösen Gemeinschaften der Diözese meinen Besuch abzustatten. Und ich muß sagen, daß ich sie in drei Jahren fast alle besucht habe. Dann habe ich noch das Wohltätigkeitswerk der Kirche von Genua aufmerksam verfolgt, das die Kirche mit großer Liebe für ihre Stadt vorantreibt: angefangen bei den imposanten Krankenhäusern Gaslini und Galliera, deren Präsident der Erzbischof von Genua ist. Aber Genua ist eine Stadt, die dem Rest der Welt gegenüber schon immer aufgeschlossen war. So konnte ich auch nach Lateinamerika reisen, die ligurischen Gemeinschaften in Peru und Argentinien besuchen. Oder die Diözesanmission in Santo Domingo – und Kuba, wo wir, auf Bitte des Bischofs von Santa Clara und in Zusammenarbeit mit der Diözese Chiavari eine neue Diözesanmission ins Leben rufen konnten.
In Kuba sind Sie auch Fidel Castro begegnet…
BERTONE: Mein Besuch in Kuba stand vor allem im Zeichen der Begegnungen mit den Repräsentanten der Ortskirche: dem Kardinal von Havanna, Jaime Lucas Ortega y Alamino, dem Erzbischof von Santiago de Cuba und anderen kirchlichen Würdenträgern. Natürlich kam es auch zur Begegnung mit Fidel Castro, der den ausdrücklichen Wunsch geäußert hatte, mich zu sehen. Wir haben uns lange unterhalten. Castro sagte mir, daß er Benedikt XVI. nach Kuba einladen wolle. „Dieser Papst gefällt mir,“ meinte er. „Er ist ein guter Mensch, man braucht ihn nur anzuschauen, er hat das Gesicht eines Engels.“ Diese Worte habe ich dem Papst nach meiner Rückkehr wiederholt. Ich bat Castro aber auch, er möge doch nach 10 Jahren problematischer Beziehungen einer Begegnung mit dem kubanischen Episkopat zustimmen. Was er dann am 16. November 2005 auch tat.
Beim Konsistorium vom 21. Oktober 2003 wurden Sie zum Kardinal kreiert, im April 2005 nahmen Sie an dem Konklave teil, aus dem Kardinal Ratzinger als Papst mit dem Namen Benedikt XVI. hervorging.
BERTONE: Die Ernennung zum Kardinal war nicht eine meiner Person, sondern vielmehr der Kirche von Genua zugestandene Ehre. Das darf man nicht vergessen. Zum Konklave kann ich natürlich nichts sagen, auch wenn für uns Kardinäle im Falle einer Nichtbeachtung der Geheimhaltung nicht der Ausschluß aus der Kirchengemeinschaft vorgesehen ist. Es ist jedoch kein Geheimnis, daß die Wahl von Kardinal Ratzinger zum Papst eine ganz besonders große Freude für mich war; immerhin habe ich ihn schon vorher gekannt und seine großen menschlichen und christlichen Gaben schätzen gelernt.
Kardinal Bertone und Giulio Andreotti bei der Studientagung zum 100. Jahrestag der Geburt von Kardinal Giuseppe Siri, Palazzo Ducale, Genua (4. Mai 2006)

Kardinal Bertone und Giulio Andreotti bei der Studientagung zum 100. Jahrestag der Geburt von Kardinal Giuseppe Siri, Palazzo Ducale, Genua (4. Mai 2006)

Am 22. Juni gab das vatikanische Presseamt Ihre Ernennung zum Staatssekretär mit Amtsantritt am 15. September bekannt.
BERTONE: Schon im Dezember 2005 hatte mir der Heilige Vater dieses Amt in Aussicht gestellt. Nach einer gewissen Zeit zum Überlegen und Beten habe ich schließlich mein Einverständnis gegeben. Und am 22. Juni gab der Heilige Vater dann seine Entscheidung bekannt.
Eine revolutionäre Entscheidung: sozusagen ein Bruch mit der fast lückenlosen Tradition, die die Leitung des Staatssekretariats stets einem Kirchenmann übertrug, der bereits in der Papstdiplomatie Erfahrung sammeln konnte.
BERTONE: Das habe ich auch gelesen, aber ich glaube, daß der Heilige Vater diese „Tradition“ nicht als verpflichtend sieht.
Sie sind auch ein Ordensmann. Abgesehen von dem kurzen Intermezzo des Franziskaner-Minoriten Antonio Francesco Orioli – im turbulenten Jahr 1848 einen Monat lang Staatssekretär ad interim – war Ihr einziger, nicht aus dem Weltklerus stammender Vorgänger der Barnabiter Luigi Emmanuele Nicolò Lambruschini. Der war vor seiner Ernennung zum Staatssekretär (1836-1846) durch Gregor XVI. übrigens auch Erzbischof von Genua…
BERTONE: Ja, das habe ich gelesen. Aber vergleichen Sie mich bitte nicht mit Kardinal Lambruschini: er war zwar sicher ein heiliger Mann, aber politisch gesehen doch ein echter Reaktionär!
Erlauben Sie mir noch eine Frage: Sie haben vorhin erwähnt, daß Sie früher Sprachen studieren wollten. Wieviele Fremdsprachen sprechen Sie?
BERTONE: In der Schule habe ich französisch gelernt, weshalb ich damit auch keine großen Probleme habe. Ein paar Jahre lang schickten mich meine Oberen dann im Sommer immer nach Deutschland, wo ich mich auch mit dieser Sprache befassen konnte. Spanisch und portugiesisch verstehe und spreche ich auch ganz gut.
Und englisch?
BERTONE: Das ist mein wunder Punkt. Ich verstehe die mir vorgelegten Texte zu theologischen und sozialen Themen zwar dem Sinn nach, aber ich spreche nicht englisch. Das habe ich dem Heiligen Vater auch sofort gesagt, als er mir vorschlug, ihm als Staatssekretär zu Diensten zu sein. Und er ermutigte mich, verriet mir, daß auch so wichtige Persönlichkeiten wie Bundeskanzler Helmut Kohl nicht englisch sprechen. Und schließlich stehen im Dienst des Hl. Stuhls ausgezeichnete Dolmetscher.
Eminenz, eine letzte Frage. Wollen Sie zu dem Mitte Juli im Libanon ausgebrochenen Krieg etwas sagen?
BERTONE: Nichts, was mit den treffenden Worten, die schon der Papst dafür fand, und den entsprechenden Stellungnahmen von Kardinal Angelo Sodano und Erzbischof Giovanni Lajolo, nicht schon gesagt worden wäre. Auch ich bete jeden Tag, daß uns der Herr den Frieden schenke – und zwar nicht morgen oder übermorgen, sondern schon heute! Und uns weiteres Blutvergießen erspart!


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