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KIRCHE
Aus Nr. 06 - 2003

NACH DEM SYMPOSIUM DES PÄPSTLICHEN RATES ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN

Necessitas ecclesiae, Kriterium für die Ausübung des Primats


Interview mit Hermann Josef Pottmeyer, Mitglied der Internationalen Theologenkommission und emeritierter Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Bochum.


von Gianni Valente


Hermann Josef Pottmeyer.

Hermann Josef Pottmeyer.

„Vergleicht man die Theologie mit einer Landschaft, so gleicht die theologische Tradition rund um das Petrusamt einem Grenzgebiet zwischen lange verfeindeten Ländern. Allenthalben stößt man auf die Spuren und Rückstände kriegerischer Auseinandersetzungen: auf alte Schützengräben und Bunker und – als besonders gefährliche Hinterlassenschaft – auf Minen. Als die gefährlichste Mine, die hier lauert, gilt das Dogma des 1. Vatikanischen Konzils über den Primat des Nachfolgers Petri.“
Mit diesem suggestiven Bild beginnt das Referat, das Hermann Josef Pottmeyer beim römischen Symposium über das Petrusamt zum Thema „Jüngste Diskussionen zum Primat im Hinblick auf das 1. Vatikanische Konzil“ gehalten hat. Pottmeyer, Mitglied der Internationalen Theologenkommission und emeritierter Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Bochum, befaßt sich seit Jahren intensiv mit der Rolle des Papstes und den historisch wechselnden Weisen der Ausübung des päpstlichen Primats. Zweifellos war das ihm anvertraute Thema vom ökumenischen Standpunkt aus sozusagen das „heißeste Eisen“ der Tagung. Sollte es nämlich jemals möglich sein, die Einheit zwischen der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen wiederherzustellen, nachdem das I. Vatikanische Konzil die Unfehlbarkeit des Bischofs von Rom und dessen universale Jurisdiktion über die gesamte Kirche erklärte?
In seinem Vortrag hat Professor Pottmeyer darzulegen versucht, daß es durchaus eine Möglichkeit gibt, „diese Mine zu entschärfen.“

Herr Professor, Ihnen hat man das heikelste Thema des Symposiums anvertraut...
HERMANN JOSEF POTTMEYER: In der Tat überrascht es nicht, daß man es in den ökumenischen Gesprächen zwischen den Kirchen bisher möglichst vermieden hat, sich mit den vom I. Vatikanischen Konzil definierten Dogmen des Jurisdiktionsprimats des Papstes und seiner Unfehlbarkeit auseinanderzusetzen.
Der Vorschlag Hans Küngs lautete, das Dogma aus formalen Gründen zu „annullieren“, da das Konzil bei seiner Definition aufgrund historischer Umstände in seiner Entscheidung nicht frei gewesen sei. Außerdem mußte man das Konzil wegen des Krieges vorzeitig abbrechen. Welchen Vorschlag würden Sie dagegen machen?
POTTMEYER: Küng war der Meinung, daß das I. Vatikanum den Primat als eine absolute Monarchie des Papstes und die päpstliche Unfehlbarkeit als A-priori-Unfehlbarkeit definiert habe – Vorstellungen, die mit der Bibel und mit der Tradition der Kirche unvereinbar seien. Aber das I. Vatikanum verdient diesen ihm anhaftenden schlechten Ruf nicht. Im 19. und im 20. Jahrhundert hatte sich eine maximalistische Interpretation der beiden Dogmen breitgemacht, von welcher auch viele Konzilsväter nicht frei waren. Sie hat das Bild, das man sich von diesen Dogmen machte, bis heute inner- und außerhalb der Kirche bestimmt.
Das gestaltet die Dinge noch komplizierter. Wie kann man da einen Ausweg finden?
POTTMEYER: Man muß überprüfen, ob die Möglichkeit einer relecture der Dogmen von 1870 gegeben ist, und zwar auf der Grundlage einer anderen als der lange vorherrschenden maximalistischen Interpretation – einer Interpretation nämlich, die ebenfalls als legitim zu gelten hat und die mit der vom II. Vatikanum vorgeschlagenen Communio-Ekklesiologie und auch mit einer weniger zentralistischen Primatsausübung vereinbar ist. Diese Interpretation gibt es: es ist die Interpretation der Minorität des I. Vatikanums. Wir finden sie in den Texten und Akten des Konzils und in einigen nach dem Konzil gemachten offiziellen Erklärungen des Lehramtes, mit denen man das Dogma vor Mißverständnissen schützen wollte.
Ganz konkret gesagt: Können Sie uns kurz skizzieren, welche Fakten und Interpretationen beim Konzil von 1870 im Spiel waren?
POTTMEYER: Zunächst einmal muß gesagt werden, daß die Formulierung und das Verständnis des Dogmas von der historischen Situation des 18. und 19. Jahrhunderts in West- und Mitteleuropa geprägt waren. Seit der Epoche der absoluten Monarchien beanspruchten die modernen Staaten die volle Souveränität über ihr Territorium, auch in kirchlichen Angelegenheiten.
Welche Folgen hatte das für das Leben der Kirche?
POTTMEYER: Das klassische Beispiel war die Herrschaft des Staates über die Kirche in Frankreich, wo der König, der die Bischöfe ernannte, sogar die Durchführung der Reform des Trienter Konzils auf französischem Boden behinderte. Der Gallikanismus, wie man die diesem System zugrundeliegende Ideologie nannte, war auch von der Französischen Revolution und dann wieder von der restaurierten französischen Monarchie übernommen worden und hatte sich in der Folge zu einem Modell entwickelt, das auch andere europäische Staaten einführten. Und zu diesem staatlichen Dirigismus gegenüber der Kirche kam noch die beunruhigende geistige Entwicklung in Europa hinzu, wo Materialismus, Atheismus und Rationalismus die Grundlagen des christlichen Glaubens in Frage stellten.
Eine Situation, vor deren Hintergrund sich die Reaktion in der Kirche verstehen läßt, die die Form der sogenannten „ultramontanen Bewegung“ angenommen hatte.
POTTMEYER: Für die Ultramontanen stellte eine Stärkung der Autorität des Papstes die einzige Hoffnung dar, den Versuchen der Nationalregierungen entgegenzuwirken, die Kirche unter ihre Kontrolle und Regie zu bringen. Die Kirche drohte in eine Reihe von Nationalkirchen zu zerfallen. Gegenüber dieser Bedrohung erschien es den Ultramontanen in diesem Moment notwendig, die Souveränität des Papstes über die Kirche zu behaupten, d.h. die völlige Unabhängigkeit seiner Jurisdiktionsgewalt nach innen, damit er die Unabhängigkeit der Kirche nach außen sichern könne. Die Bischöfe, vielfach durch nationale Interessen gebunden und dem Druck der weltlichen Macht ausgesetzt, waren nicht in der Lage, die Unabhängigkeit der Kirche allein durchzusetzen. Der Logik des Souveränitätsbegriffs entsprechend mußte jeder Anspruch auf eine Mitwirkung des Episkopats an der Leitung der Gesamtkirche als Versuch einer Teilung oder Beeinträchtigung der päpstlichen Souveränität erscheinen. Die Bischöfe der Minorität auf dem Konzil erinnerten aber daran, daß eine gesamtkirchliche Mitverantwortung des Episkopats zur katholischen Tradition und zur göttlichen Verfassung der Kirche gehöre.
Welche Auswirkungen hatte diese Situation auf die Absichten und Arbeiten des Konzils?
POTTMEYER: Es gab auf dem Konzil keinen Streit über zwei Punkte: erstens, daß Christus selbst Petrus zum Ersten unter den Aposteln und zum sichtbaren Haupt der Kirche hier auf Erden eingesetzt hat, und zweitens, daß der römische Bischof Nachfolger Petri ist und als solcher den Primat über die ganze Kirche hat. Alle waren sich darüber einig, daß das Beharren darauf dem Glauben der Kirche entspreche und angesichts der realen Bedrohung der Einheit und der Freiheit der Kirche und der Gefährdung ihres Glaubens ein Gebot der Stunde sei.
Wo setzten dann aber die Einwände der Konzilsväter an?
POTTMEYER: Die Bestrebungen, die Autorität des Papstes durch die Behauptung seiner Souveränität zu stärken, gingen zunächst von der Basis der Kirche aus. Der Wille, der extremen Herausforderung mit einer extremen Reaktion zu begegnen, beschwor aber eine neue Gefahr herauf. Den Papst zum absoluten souveränen Monarchen der Kirche zu erklären, hätte den Bruch mit der göttlichen Verfassung und der Tradition der Kirche bedeutet. Und tatsächlich ging der erste Textentwurf, der den Konzilsvätern zur Beratung vorgelegt wurde, von der extremen Konzeption des Primats als monarchischer Souveränität aus.
Welche Reaktionen gab es darauf?
POTTMEYER: Bei der Diskussion des Entwurfes wandten die die Minorität des Konzils bildenden Bischöfe ein, daß die Kirche keine absolute Monarchie ist. Daß es außer der höchsten Autorität des Papstes die höchste Autorität des Bischofskollegiums und die Autorität der Bischöfe in ihrer Diözese gibt, was alles nicht weniger zur göttlichen Verfassung der Kirche gehöre. Die Bischöfe sind keine einfachen „Vikare“ des Papstes. Im Mittelpunkt der Kritik seitens der Minorität stand die Bezeichnung der päpstlichen Jurisdiktion als einer „ordentlichen, unmittelbaren und wahrhaft bischöflichen“ Gewalt.
Was beanstandeten die Bischöfe an dieser Definition?
POTTMEYER: Daß die päpstliche Jurisdiktion so als eine konkurrierende Gewalt erscheine, welche die gleichfalls „ordentliche, unmittelbare und wahrhaft bischöfliche“ Gewalt des Bischofs in seiner Diözese verdränge. Die Minorität forderte, daß der subsidiäre Charakter eines unmittelbaren Eingreifens des Papstes in die Ortskirchen herausgestellt werde. Und daß klar sein müsse, daß der Papst nicht ein „universaler“ Bischof sei, der die ganze Kirche als seine Diözese betrachten könne.
Welche Antworten hat das Konzil auf diese Erwägungen der Minorität gegeben?
POTTMEYER: Der Sprecher der zuständigen Kommission lieferte als Antwort auf die Einwände Klarstellungen, die von der maximalistischen Interpretation der Dogmen später wenig beachtet wurden, die aber wesentlich sind für die Interpretation des Dogmas.
Können Sie diese für uns zusammenfassen?
POTTMEYER: Vor allem bestätigte er, daß die Kirche in der Tat keine absolute Monarchie des Papstes ist. Daß der Primat die göttliche Verfassung der Kirche zu achten hat, wozu die Autorität des Bischofskollegiums und die der einzelnen Bischöfe gehört, und daß er sich am Wohl der Kirche auszurichten hat, dem er zu dienen hat. Hier und jetzt ginge es allein darum auszuschließen, daß es neben oder über dem Papst eine menschliche Autorität gebe, die seine Autorität begrenzen könne.
Und wie steht es mit der Beziehung des Papstes zum Bischofskollegium?
POTTMEYER: Laut den Äußerungen des Sprechers ist es richtig, daß die volle und höchste Jurisdiktionsgewalt in der Kirche auf doppelte Weise existiert. Sie kommt einmal dem Bischofskollegium mit ihrem Haupt, dem römischen Bischof, zu, und sie kommt dem römischen Bischof als dem sichtbaren Haupt der Kirche auch unabhängig von einer gemeinsamen Aktion mit den übrigen Bischöfen zu. Denn der Auftrag Christi galt sowohl allen Aposteln zusammen mit Petrus wie Petrus allein. Aber diese beiden Formen können auf keinen Fall als zwei voneinander getrennte und miteinander konkurrierende Gewalten betrachtet werden, wie es der Gallikanismus tut.
Welche Klarstellungen wurden zur Definition der päpstlichen Jurisdiktion als „ordentlicher, unmittelbarer und wahrhaft bischöflicher“ Gewalt geliefert?
POTTMEYER: Hierzu wurde gesagt, daß diese Bezeichnung keineswegs meint, daß es als normal gelten solle, daß der Papst ständig in die Diözesen eingreife. Vielmehr wird „ordentlich“ im Gegensatz zu „delegiert“ gebraucht und besagt, daß der Primat seinen Grund nicht in einer Delegation durch die Kirche hat, sondern im Auftrag Christi an Petrus. Mit „unmittelbar“ solle gewährleistet werden, daß der Papst – wenn es die necessitas ecclesiae erfordert – direkt und ohne die Vermittlung oder Erlaubnis anderer Instanzen überall in der Kirche eingreifen kann. Mit „wahrhaft bischöflich“ solle dem Irrtum des Gallikanismus begegnet werden, der Papst verletze die dem zuständigen Bischof vorbehaltenen, sakramental übertragenen Rechte, wenn er in eine Diözese eingreift.
Warum sind diese Klarstellungen so wichtig?
POTTMEYER: Weil sie die Aussageintention des Konzils deutlich werden lassen. Das Konzil wollte nicht die göttlich verbürgten Rechte des Episkopats einschränken und deshalb nicht den Primat als eine absolute monarchische Souveränität des Papstes definieren. Wohl wollte es die völlige Handlungsfreiheit des Papstes, wenn die necessitas ecclesiae es erfordert, und die Inappellabilität seiner Entscheidungen lehren. Es wollte feststellen, daß keine menschliche Instanz, sei es ein Konzil oder ein Staat, seinem Auftrag Grenzen setzen könne, wenn das entscheidende Kriterium der necessitas ecclesiae ins Spiel kommt.
Wie haben sich diese Absichten in dem endgültigen, vom Konzil verabschiedeten Text niedergeschlagen?
POTTMEYER: Die Differenzierungen und Anliegen der Minorität wurden in den Prolog und in die begründenden Kapitel der Konstitution Pastor aeternus aufgenommen, wo bekräftigt wird, daß Christus selbst allen Aposteln die apostolische Sendung übertragen hat, daß der unmittelbare Zweck des Primats die Einheit des Episkopats ist und daß das Konzil den Primat und die Unfehlbarkeit des Papstes im Respekt vor der universalen Tradition der Kirche definieren will, einschließlich der Tradition der noch ungeteilten Kirche des 1. Jahrtausends. Besondere Bedeutung kommt dabei dem dritten Kapitel zu.
Welche Punkte werden dort behandelt?
POTTMEYER: In diesem dritten Kapitel wird betont, daß der Primat die ordentliche und unmittelbare Vollmacht der bischöflichen Jurisdiktion nicht beeinträchtigt, was der Punkt war, der der Minorität am meisten Kopfzerbrechen bereitet hatte. In diesem dritten Kapitel wird auch sehr deutlich gesagt, worauf die Dogmatisierung des Primats zielte. Es ging darum, die Sendung, die Christus dem Nachfolger Petri übertragen hatte, gegen die gallikanische Behauptung zu verteidigen, man könne gegen päpstliche Entscheidungen an ein ökumenisches Konzil appellieren – ein Vorbehalt, auf den sich die Auffassung berief, der Staat dürfe den freien Verkehr zwischen Papst und Bischöfen behindern und päpstliche Erlasse in seinem Bereich außer Kraft setzen. Die Dogmen zielten genau auf diese Punkte ab, sie wollten aber nicht das Verhältnis von Primat und Episkopat umfassend darlegen.
Bestehen bleibt, daß in den Ausformulierungen des Dogmas in den Kanones über die kollegiale Mitverantwortung der Bischöfe geschwiegen wird...
POTTMEYER: Den eben genannten Texten läßt sich aber entnehmen, daß die Lehre von der gleichfalls vollen und höchsten Vollmacht des Bischofskollegiums als selbstverständlicher Inhalt der Tradition vorausgesetzt wird. Die einseitige und sozusagen gezielte Ausformulierung des Dogmas in den Kanones ist an dem spezifischen Ziel zu messen, das sich das Konzil gesetzt hatte. Was seitens des Gallikanismus bestritten wurde, war die gleichfalls volle und höchste Vollmacht des Papstes, die ihn unabhängig von der Mitwirkung des Episkopats zum Handeln ermächtigt. In juridischer Sprache, die allerdings der Klarheit der Aussage dient, wird ausschließlich die Universalität und die Unbeschränktheit des Primats durch irgendeine menschliche Instanz herausgestellt. Weder seine Zweckbestimmung, noch andere Kriterien für seine angemessene Ausübung, welche die Zuständigkeit der Bischöfe achtet, werden hier genannt. Tatsächlich findet sich in den Kanones kein Verweis auf eine Mitwirkung des Episkopats an der Leitung der Kirche, um zu vermeiden, daß ein solcher Verweis vom Gallikanismus instrumentalisiert werden könnte. Das Schweigen der Kanones zu diesem Thema hatte aber noch andere Gründe...
Als da wären?
POTTMEYER: Die zuständige Kommission lehnte die Forderung der Minorität, die Lehre von der kollegialen Mitverantwortung des Episkopats in die Kanones aufzunehmen, auch deshalb ab, weil man wußte, daß diese Lehre später, nämlich in der geplanten zweiten Konstitution über die Kirche, behandelt werden sollte. Diese zweite Konstitution kam nicht mehr zustande, weil das Konzil wegen des Deutsch-französischen Krieges vorzeitig abgebrochen wurde. Wir kennen aber den Entwurf zu dieser Konstitution. In ihm wird die volle und höchste Vollmacht des Bischofskollegiums als „fidei dogma certissimum“ bezeichnet.
In Ihrem Referat legen Sie dar, daß die Einseitigkeit der Definition selbst es in der Folgezeit möglich machte, daß sich die maximalistische Interpretation des Primats als absolute Souveränität auf die Dogmen von 1870 berufen konnte.
POTTMEYER: Diese Interpretation rechtfertigte die zunehmend zentralistische Ausübung des Primats. Umgekehrt verstärkte der zunehmende Zentralismus den allgemeinen Eindruck, das Dogma habe den Primat tatsächlich als absolute Souveränität definiert. Und das obwohl das Lehramt, ja Pius IX. selbst, eine derartige Interpretation zurückwiesen.
Welche Äußerungen meinen Sie?
ýOTTMEYER: Dazu gehört die Gemeinsame Erklärung des deutschen Episkopats. Im Jahr 1872 hatte der deutsche Reichskanzler Bismarck in einer Circular-Depesche die europäischen Regierungen davor gewarnt, daß die Bischöfe ihrer Länder durch dieses Dogma zu bloßen Werkzeugen des Papstes geworden seien. Die deutschen Bischöfe antworteten darauf, daß es „ein völliges Mißverständnis der Vatikanischen Beschlüsse“ sei, „wenn man glaubt, durch dieselben sei ,die bischöfliche Jurisdiktion in der päpstlichen aufgegangen‘, der Papst sei ‚im Prinzip an die Stelle jedes einzelnen Bischofs getreten‘, die Bischöfe seien nur noch ‚Werkzeuge des Papstes, seine Beamten ohne eigene Verantwortlichkeit‘.“ Es waren dieselben Mißverständnisse, die der zuständige Sprecher in seiner Antwort auf die Einwände der Minorität zurückgewiesen hatte. Pius IX. hat diese Erklärung des deutschen Episkopats zweimal öffentlich bestätigt: in seinem Apostolischen Schreiben Mirabilis illa constantia von 1875 und in einer Konsistorialansprache aus dem gleichen Jahr.
Das Konzil wollte die Handlungsfreiheit des Papstes bei seiner Verantwortung für die Einheit und Freiheit der Kirche und die Inappellabilität päpstlicher Entscheidungen herausstellen, entsprechend dem Prinzip „Prima sedes a nemine iudicatur“. Doch in den Dogmen, die das Konzil promulgiert hat, wird nicht die absolute Souveränität des Papstes definiert. Ebensowenig darf man meinen, die derzeitige, stark zentralistische Ausübung des Primats sei die einzige Form, die dem Dogma von 1870 entspräche. Die Art und Weise der Ausübung richtet sich unter Beachtung der göttlichen Verfassung der Kirche nach dem flexiblen Prinzip der necessitas ecclesiae.
Worauf läuft Ihre Neubetrachtung des I. Vatikanums also letztendlich hinaus?
POTTMEYER: Das Konzil wollte die Handlungsfreiheit des Papstes bei seiner Verantwortung für die Einheit und Freiheit der Kirche und die Inappellabilität päpstlicher Entscheidungen herausstellen, entsprechend dem Prinzip „Prima sedes a nemine iudicatur. Doch in den Dogmen, die das Konzil promulgiert hat, wird nicht die absolute Souveränität des Papstes definiert. Ebensowenig darf man meinen, die derzeitige, stark zentralistische Ausübung des Primats sei die einzige Form, die dem Dogma von 1870 entspräche. Die Art und Weise der Ausübung richtet sich unter Beachtung der göttlichen Verfassung der Kirche nach dem flexiblen Prinzip der necessitas ecclesiae.
Und was kann das bedeuten?
POTTMEYER: Im 19. Jahrhundert verspürte die Kirche aufgrund der entstandenen konkreten geschichtlichen Situation das Bedürfnis zu bekräftigen, daß der Papst in die gesamte Kirche eingreifen könne, wenn die necessitas ecclesiae es erfordere, daß seine Handlungsfreiheit von keiner menschlichen Instanz eingeschränkt werden könne und daß für seine Entscheidungen das Prinzip der Inappellabilität gelte. Wenn also heute das Kriterium der necessitas ecclesiae es erfordern sollte, die Form der Ausübung des Primats zu ändern, wäre das durchaus möglich, ohne daß damit die Wahrheit des Dogmas in Frage gestellt wäre. Und die Wiederherstellung der Einheit, in Anknüpfung an die Erfahrung der noch ungeteilten Kirche des 1. Jahrtausends, gehört zur necessitas ecclesiae.
Wie kann eine Neubetrachtung des I. Vatikanums für den Dialog mit den Orthodoxen hilfreich sein?
POTTMEYER: ...Zu einer neuen gemeinsamen Reflexion über das Verständnis und die Ausübung des Primats unter Einbeziehung der anderen Christen und Kirchen hat der Papst selbst in seiner Enzyklika Ut unum sint eingeladen. Was die relecture des I. Vatikanums angeht, wäre die Unterscheidung zwischen den Dogmen selber und ihrer maximalistischen Interpretation wichtig. Und daß man den orthodoxen Kirchen zeigt, daß das Dogma, dank des Einwirkens der damaligen Minorität, offengeblieben ist für eine Communio-Ekklesiologie, also für eine Ausübung des Primats nicht als monarchische Souveränität, sondern als Dienst an der Communio des Bischofskollegiums und der Kirche und deren Einheit.
Wie soll es aber konkret möglich sein, daß das, was das I. Vatikanum definiert hat, für die Kirchen des Orients bindend wird?
POTTMEYER: Das ist eine Frage, deren Erörterung noch vor uns liegt. Es gibt viele Wege, die zu prüfen wären... Joseph Ratzinger hat beispielsweise vor dreißig Jahren vorgeschlagen, das Petrusamt des Papstes zu unterscheiden von dem Amt, das er als Patriarch des Abendlandes ausübt...
Aber ist die Kritik am päpstlichen Zentralismus heute nicht eher Ausdruck gerade gängiger Vorstellungen, wie etwa die Forderung nach Demokratisierung in der Kirche?
POTTMEYER: Das Petrusamt hat mit der Natur der Kirche zu tun, mit ihrer göttlichen Stiftung und ihrem Wesen als Sakrament der Communio. Das schlagkräftigste Argument gegen ein zu zentralistisch ausgeübtes Papsttum beruft sich nicht auf die Demokratie, auf die Menschenrechte oder liberale Forderungen, sondern auf die Natur der Kirche als Communio, so wie Christus sie gewollt hat.
In Ihrem Dokument zitieren Sie die von der Kongregation für die Glaubenslehre 1998 veröffentlichten Erwägungen zum Primat des Nachfolgers Petri im Geheimnis der Kirche.
POTTMEYER: Es handelt sich dabei um ein sehr bemerkenswertes Dokument, das es verdient hätte, besser bekannt zu sein. Darin wird anerkannt, daß die Weise der Ausübung des Primats geschichtlich bedingt und veränderbar sein kann, während die Römische Kurie lange den Eindruck nahelegte, daß die gegenwärtige Ausdehnung der römischen Jurisdiktion gottgewollt sei.
In dem Dokument sind auch eindrucksvolle Äußerungen zur „Schwachheit“ Petri enthalten...
POTTMEYER: Sie finden sich in den letzten Sätzen. Dort heißt es: „Petrus, ein schwacher Mensch, wurde gerade deshalb zum Felsen erwählt, damit offenbar werde, daß der Sieg Christus allein gehört und nicht menschlichen Kräften zuzuschreiben ist. Der Herr wollte seinen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen durch die Zeiten tragen: So ist die menschliche Schwachheit zum Zeichen der Wahrheit der göttlichen Verheißungen geworden.“



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