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SELIGE-HEILIGE
Aus Nr. 06 - 2003

Der letzte katholische Kaiser


Karl von Habsburg, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, dessen heroische Tugenden nun anerkannt worden sind, regierte zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Jenes sinnlosen Blutvergießens, das er – leider erfolglos – zu verhindern suchte und das letztendlich das Schicksal dessen besiegelte, was vom Sacrum Imperium geblieben war.


von Paolo Mattei


Kaiser Karl I. 
von Österreich am Tag seiner Krönung zum König von Ungarn; links von ihm, Kaiserin Zita und Kronprinz Otto

Kaiser Karl I. von Österreich am Tag seiner Krönung zum König von Ungarn; links von ihm, Kaiserin Zita und Kronprinz Otto

Es war ein Frühlingstag des Jahres 1922 in Funchal, der portugiesischen Insel Madeira. In der Kathedrale Nossa Senhora do Monte hatten sich 30.000 Menschen eingefunden, um einem 34jährigen König das letzte Geleit zu geben. Einem Mann, der Kaiser war, als die Trümmer des Krieges des vergangenen Jahrhunderts noch rauchten, und der dann, als Verbannter, in den Armen seiner Gemahlin, der Kaiserin, am 1. April jenes Jahres starb. Für die Menge, die sich hier vor und in der Kirche eingefunden hatte – wie auch für den Großteil der Inselbewohner – war er ein Heiliger: Karl I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn. In seinen letzten Stunden hatte er zu den Ärzten, die ihn wegen einer schweren Lungenentzündung behandelten, scherzend gesagt: „Comment allez-vous? Moi, je vais bien!“
Das Antlitz des illustren Gastes dieser Insel war entspannt, die Trauergäste waren gekommen, um sich von diesem Mann zu verabschieden, der ihnen in den letzten fünf Monaten so viel Trost gebracht hat. Der Bischof von Funchal sollte wenig später zu einem österreichischen Priester sagen: „Keine Mission hat den Glauben in meiner Diözese so sehr und so effizient vorangetrieben wie das Beispiel dieses Kaisers in seiner Gebrechlichkeit und in seinem Sterben.“
Im April 2003, 81 Jahre nach jenem Frühlingstag, sind in Anwesenheit des Papstes die „heroischen Tugenden“ Karls I. anerkannt worden: ein erster Schritt zur Heiligsprechung.
In der Nacht vor seinem Tod hatte Karl mit schwacher Stimme zu seiner Frau gesagt: „Ich will nichts anderes als in allen Dingen so klar wie möglich den Willen Gottes erkennen; ihm will ich folgen, und das auf die vollkommenste Weise.“ Nach diesem Leitsatz hat er sein ganzes Leben gelebt.

Laufbahn eines Kaisers
Karl wurde am 17. August 1887 im niederösterreichischen Persenbeug an der Donau geboren. Er war der Sohn des Erzherzogs von Österreich, Otto Franz, und der Erzherzogin Maria Josepha, und ein Großneffe Franz Josephs I. Wie für einen Sproß seines Standes üblich, wurde er in den im Reich gesprochenen Sprachen unterrichtet, erhielt Musikunterricht, absolvierte seine Gymnasialzeit am „Schottenstift“ der Benediktiner in Wien, und studierte in Prag Rechtswissenschaften. 1911 heiratete er Zita von Bourbon-Parma. Die Ehe wurde von Papst Pius X. gesegnet, der Zita bei einer Privataudienz zu verstehen gab, daß ihr Gatte nicht nur Kaiser werden, sondern daß seine christlichen Tugenden für alle Völker zum Vorbild gereichen würden. Dem Ehepaar wurden acht Kinder geboren, das letzte kam nach dem Tode Karls zur Welt.
Die Militärlaufbahn Karls begann 1903 und endete 1916, als er den Thron bestieg. Karl war nämlich nach dem Tod seines Großonkels Franz Ferdinand Thronfolger geworden. Die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo war der auslösende Faktor für den Ausbruch des 1. Weltkrieges gewesen. Unmittelbar danach hatte Pius X. durch einen hohen vatikanischen Beamten Karl einen Brief zukommen lassen, in dem er ihn beschwor, Franz Joseph klar zu machen, daß der nun drohende Krieg nicht nur Österreich, sondern ganz Europa großes Unheil bringen würde. Das Schicksal aber wollte es, daß Kriegshetzer vom Inhalt des Briefes erfuhren: der vatikanische Beamte wurde an der italienischen Grenze zurückgehalten, und Karl bekam den Brief erst sehr viel später in die Hände, dann nämlich, als es längst zu spät war.
Zwei Jahre später starb Franz Joseph, und Karl wurde am 21. November 1916 Kaiser Karl I. von Österreich. Am 30. Dezember wurde er in der Budapester Kathedrale St. Stephan – als Karl IV. – zum König von Ungarn gekrönt. Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn bestand seit dem Jahr 1867, nachdem man die Territorien der Donaumonarchie mit der Anerkennung der ungarischen Autonomie in zwei Blöcke geteilt hatte: das unter österreichischer Verwaltung stehende Zisleithanien, und das unter ungarischer Verwaltung stehende Transleithanien. Die beiden Teile hatten zwar ihre eigene Verfassung, Regierung und ihre eigenen Ministerpräsidenten, gemeinsam aber waren der Kaiser – der Kaiser von Österreich und König von Ungarn – sowie das Außen-, Finanz- und Kriegsministerium.
Karl trat das Erbe eines krisengeschüttelten Reiches an, dessen Stern im Sinken begriffen war: Österreich-Ungarn war nämlich nicht nur wegen der Expansion Deutschlands und den in den italienischen Unabhängigkeitskriegen erlittenen Niederlagen sichtlich angeschlagen, sondern mußte nun auch um seine Gebiete auf dem Balkan fürchten. Überdies befanden sich die kaiserlichen Truppen nach den ersten siegreichen Schlachten in einem verheerenden Zustand. Und auch wenn der Historiker Victor Tapié (Monarchia e popoli del Danubio, Turin 1993) berichtet, daß „sich die österreichisch-ungarische Armee mit großer Zähigkeit schlug, sich ein jeder Soldat, ganz gleich welcher ethnischer Herkunft, zu unerschütterlicher Treue verpflichtet fühlte und großen Mut und Zähigkeit an den Tag legte“, bleibt doch festzuhalten, daß der Krieg bereits gegen Ende des Jahres 1915 unzählige Menschenleben gekostet und sich allgemeine Mutlosigkeit breitgemacht hatte. Die Hälfte der regulären – schlecht ausgerüsteten, technisch rückständigen und bei weitem nicht ausreichend finanzierten – Truppen war bereits in den Schlachten des Jahres 1914 eliminiert worden. Das Schicksal Österreich-Ungarns hing in diesem Krieg voll und ganz von der Stärke des deutschen Bündnispartners ab.
Karl kam am 10. September 1914 an die Kriegsfront in Galizien und bestand sofort darauf, im Namen des Kaisers die Truppen zu inspizieren. Er sprach mit den Soldaten, ganz gleich welchen Rang sie hatten, verlieh Orden an Offiziere, die sich im Krieg verdient gemacht hatten und vergaß auch nicht, Franz Joseph darüber zu informieren, daß der Krieg in ein nie dagewesenes Blutvergießen auszuarten drohte. Die Fußsoldaten pflegte man damals mit der wahnwitzigen Technik des Direktangriffs mit Stichwaffen in die Schlacht zu schicken. Im Jahr 1916, dem Jahr des Massakers von Verdun, der Schlacht an der Somme und der ersten neun Isonzoschlachten, dem Jahr, in dem auf dem Kriegsschauplatz die englischen Panzer auftauchten, übernahm Karl das Kommando über das XX. Korps. Seinem Eingreifen war es zu verdanken, wenn Rumänien besiegt und an der Ostfront dem Vormarsch der Russen unter General Brusilow Einhalt geboten werden konnte. Er zeichnete auch für die Offensive an der italienischen Front verantwortlich, die in dem Sieg von Folgaria gipfelte. Aber die Zerstörungen, die der Krieg mit sich brachte, die vielen hingeschlachteten Menschen, waren ihm ein Greuel. Und gerade als Österreich und das mit ihm verbündete Deutschland seine bedeutendsten Siege erringen konnte, wollte Karl Friedensverhandlungen in den Weg leiten. In einem Gespräch mit dem österreichischen Außenminister, Graf Berchtold, machte er keinen Hehl aus seinem Unverständnis darüber, daß man immer noch kein Friedensprogramm erstellt hätte. Seiner Meinung nach – er konnte und wollte kein Pessimist sein – mußte man diesen Weg in jedem Fall, sowohl eines Sieges als auch einer Niederlage, mit den verschiedenen Alliierten zusammen einschlagen. So bemühte sich der zukünftige Kaiser intensiv darum, alle diplomatischen Möglichkeiten auszuschöpfen, verschloß aber keineswegs die Augen vor der rauhen Realität der Schützengräben.
In der Positio super virtutibus werden einige Episoden erzählt, die sich um diese Ereignisse ranken. So steht dort zu lesen, daß „er den goldenen Rosenkranz, den er immer bei sich trug, so oft heimlich gebetet hatte, daß er schon ganz abgenutzt war und ihm die junge Erzherzogin einen neuen besorgen mußte.“ Erzählt wird auch, wie er einem seiner Offiziere das Leben rettete, als dieser fast im Isonzo ertrunken wäre. Und da ist auch die von Kaplan Rudolf Spitzl berichtete Episode um Karl, der auf dem Weg vom Astico-Tal nach Arsiero – während eines Gewaltmarsches der Truppe – Zeuge wurde, wie sich der zukünftige Kaiser höchstpersönlich um einen Soldaten kümmerte, dessen Füße derart mit Blasen übersät waren, daß er nicht mehr weitermarschieren konnte. „Ich glaube nicht, daß Sie oder ich mit solchen Füßen solange marschiert wären wie dieser Mann da. Sehen Sie zu, daß er auf Erholungsurlaub geschickt wird!“ befahl Karl dem diensthabenden Truppenarzt. Pater Spitzl berichtet, wie entsetzt er war, als er erkennen mußte, daß den Gottesdiensten im Regiment keine große Bedeutung beigemessen wurde. Er wollte, daß wenigstens einmal im Monat in jeder Division – auch dort, wo gekämpft wurde – die Möglichkeit gegeben war, die Messe zu besuchen und die Sakramente zu empfangen. Nicht zuletzt diese Episoden zeigen, wie gläubig Karl war. Und wie geschickt er es verstand, seinen Willen durchzusetzen. Wie z.B. dann, als er sich gegen den Einsatz von Giftgas stellte und damit dem deutschen Generalstabschef Hans von Seeckt die Stirn bot, der es an der Ostfront anwenden wollte. Oder als er sich gegen den Einsatz der U-Boote verwehrte, mit denen man die feindlichen Städte an der Adria – vor allem Venedig – angreifen wollte.

Vom „Krieg der Macht“ zum
„metaphysischen Krieg“
Als Kaiser hatte Karl automatisch den Oberbefehl über alle seine Truppen. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Verlagerung des Oberkommandos von Teschen nach Baden bei Wien, was es ihm leichter machte, seinen politischen und militärischen Pflichten nachzukommen. Aber da ihm daran lag, am Leben der von ihm immer wieder inspizierten Truppen auch wirklichen Anteil zu haben, verbrachte er letztendlich mehr Zeit an der Front als in Baden. So konnte er von den ihm persönlich bekannten Kommandanten Berichte aus erster Hand erhalten, und befand sich ständig mitten im Kugelhagel der shrapnels der Kampfschauplätze. In den Jahren 1916-1918 wurden seine Bemühungen um ein Ende des Krieges zusehends intensiver. Die Deutschen, für die es nur einen „Siegfrieden“ gab, warfen ihm Feigheit vor. Im Einklang mit seiner Politik ernannte Karl Männer zu seinen Ministern, die sich nie für den Krieg ausgesprochen hatten.
Der Kaiser wußte, daß der soziale Frieden seines Landes die notwendige Grundvoraussetzung für den Weltfrieden war. So rief er ein Ministerium für Sozialhilfe und eines für öffentliches Gesundheitswesen ins Leben, schaffte die Duelle ab und gewährte 1917 die Generalamnestie. Auch durch die im Reich gärende Nationalitätenfrage war der interne und somit auch der internationale Frieden gefährdet. Aus diesem Grund wollte er – wie schon Franz Ferdinand – der Monarchie einen bundesstaatlichen Charakter verleihen. In seinem Buch Requiem per un impero defunto (Mailand, 1990) erklärt François Fejtó, daß Karl, den Vorstellungen Franz Ferdinands entsprechend, „aus der ungarischen Verfassung alles streichen wollte, was eventuellen Zugeständnissen an die Serben und Versuchen einer Umwandlung des Dualismus hinderlich gewesen wäre. Man schlug auch vor, den tschechischen Autonomisten entgegenzukommen, die, wie andere Slawen und, allgemein, alle pazifistischen Kräfte der Monarchie – insbesondere die Sozialisten – von den ersten Anzeichen der russischen Revolution vom Februar 1917 ermutigt worden waren.“ Aber eine föderative Perspektive, mit dem damit verbundenen allgemeinen Wahlrecht, konnte der magyarischen Aristokratie, die in Ungarn an der Macht war, unmöglich gefallen. In seinem Buch über die Auflösung Österreich-Ungarns, La dissoluzione dell Austria-Ungheria (Mailand 1966), erklärt Leo Valiani, daß „die demokratischen Reformen, die die Monarchie im Falle eines Friedens, der im Grunde nichts anderes gewesen wäre als das Eingeständnis einer militärischen Niederlage, vor dem Zusammenbruch hätten retten sollen, a priori sowohl von der Mehrheit im ungarischen Parlament, als auch den deutschösterreichischen Parteien im Reichsrat, mit der einzigen Ausnahme der Sozialdemokraten, abgelehnt wurden.“
Auf internationaler Ebene sah Karl in den Beziehungen zu Frankreich die konkreteste Möglichkeit, in Sachen Frieden einen Schritt vorwärts zu kommen. So schrieb er am 24. März 1917 an den französischen Staatspräsidenten Poincaré: „Ich kann zu meiner größten Zufriedenheit feststellen, daß mein Reich und Frankreich – wenngleich derzeit in verschiedenen Lagern – doch keinesfalls unterschiedliche Ansichten oder Bestrebungen trennen. Ich hege die, wie ich meine, berechtigte Hoffnung, daß meine große Sympathie für Frankreich, eine Sympathie, die von der Zuneigung genährt wird, die die Donaumonarchie für dieses Land empfindet, dem Zurückgreifen auf den Krieg auf immer Einhalt gebieten wird, für den ich selbst keinerlei Verantwortung übernehme!“. Diesen freundschaftlichen Kontakten ist es zu verdanken, wenn Karl und sein Schwager Prinz Sixtus von Bourbon-Parma, ein Nachkomme des französischen Königshauses und von Poincaré mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet, im Jahr 1917 diplomatische Verhandlungen zwischen Frankreich und dem Reich einleiten konnte. Verhandlungen, die geheim bleiben mußten, um bei den Deutschen keinen Verdacht zu erregen. Natürlich schwebte Karl ein Frieden vor, der zusammen mit den Deutschen erreicht wurde, er schloß aber auch die Möglichkeit nicht aus, daß sich Österreich – sollte der Kaiser einen möglichen Ausweg aus dem Konflikt nicht akzeptieren (dessen condicio sine qua non die Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich und die Befreiung der besetzten Länder war) – für den Alleingang entscheiden, aus dem Bündnis austreten und einen Separatfrieden unterzeichnen könnte. Doch soweit sollte es nicht kommen – und das nicht nur wegen der Schwierigkeiten dabei, bezüglich der von Italien geforderten Gebiete zu einer Einigung zu kommen –, sondern auch wegen des verantwortungslosen Verhaltens des österreichischen Außenministers Ottokar Czernin. Der Historiker Gordon Brook-Shepherd bezeichnete die Ernennung Czernins zum Außenminister in seinem Buch La tragedia degli ultimi Asburgo (Mailand 1974) als einen der größten Fehler Karls. Czernin hatte nämlich nie den Frieden im Sinn gehabt, stand bedingungslos auf der Seite der Deutschen, für die ein Ende des Krieges nur nach dem totalen Sieg denkbar war. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß Czernin im Jahr 1918 bewirkte, daß der französische Ministerpräsident Clemenceau die Öffentlichkeit über die geheimen Verhandlungen des Kaisers bezüglich eines Separatfriedens unterrichtete und damit nicht nur das Leben des Kaisers in Gefahr brachte, sondern auch die Sicherheit Österreichs Deutschland gegenüber. Karl war dazu gezwungen, öffentlich den Rückzug anzutreten. Diejenigen, die „vom Gedanken des totalen Sieges besessen waren, hatten gesiegt,“ schreibt Fejtó: „Im Laufe des Krieges – der mehr als einmal an einem toten Punkt angekommen war, den man normalerweise mit Verhandlungen oder Kompromissen zu überwinden suchte – konnte sich ein bisher nie dagewesener Gedanke durchsetzen: der vom totalen Sieg, um jeden Preis. Es ging nicht mehr darum, den Feind zum Rückzug zu bewegen, sondern ihm tödliche Wunden zuzufügen; nicht mehr darum, ihn zu demütigen, sondern ihn zu zerstören. Durch diese Vorstellung vom totalen Sieg war jeder vernünftige Versuch, dem sinnlosen Massaker durch einen Kompromiß ein Ende zu setzen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Krieg erfuhr also nicht nur ‚quantitativ‘ eine Veränderung, sondern auch – um bei der Hegelschen Vorstellung zu bleiben – qualitativ. Ein Gedanke, der nicht auf die Verzweiflung der vor dem Desaster stehenden Militärchefs zurückzuführen war, die angesichts der ausbleibenden Erfolge der vermeintlich entscheidenden Schlachten mit ihrem Latein am Ende waren. Und der auch nicht aus der Ecke der Diplomaten oder Kabinette kam. Er schien im Volk gewachsen, hatte einen fast schon mystischen Beigeschmack. War ideologisch. Bestand darin, den Feind als Teufel hinzustellen, aus dem Krieg der Macht einen metaphysischen Krieg zu machen, einen Kampf zwischen Gut und Böse, einen Kreuzzug.“ Der Sieg dieses Gedankens wird von Augusto Del Noce in einer bisher unveröffentlichen Notiz wie folgt beschrieben: „Die Ablehnung der Komplizenschaft mit dem Bösen deckte sich für mich mit der ‚Flucht ohne Ende‘ vor dem, was mir als das Böse erschien, die allmähliche Zerstörung dessen, was vom Sacrum Imperium übriggeblieben war. Treue zur im August 1916 eingegangenen Verpflichtung, bevor für mich die Schule begann.“
Mit all dem im Hinterkopf sagte der radikalsozialistische Franzose Anatole France Jahre später über Karl I.: „Er war der einzige anständige Mann dieser ganzen Kriegsjahre, nur leider schenkte man ihm kein Gehör. Er hat wirklich den Frieden gewollt, und wurde deshalb von der ganzen Welt geschmäht. Da hat man eine einzigartige Gelegenheit verpaßt!“.

die österreichisch-ungarischen Truppen bei ihrem Vorstoß am Isonzo.

die österreichisch-ungarischen Truppen bei ihrem Vorstoß am Isonzo.

Tränen über ein
sinnloses Blutvergießen
Der Krieg tobte weiter, und Kaiser Karl I. erlebte, wie die Soldaten aller beteiligten Länder, die Schrecken der Zerstörungen und der Schützengräben. Es waren die Jahre der „schlaflosen Nächte“, im Halbschlaf zugebracht auf der anderen Seite der Barrikaden, die der Soldat Ungaretti so beschreibt: „Die Luft durchlöchert / wie Spitze / von den Büchsenschüssen / der Männer / in Schützengräben / verschanzt / wie die Schnecke in ihrem Haus“. Im August des Jahres 1917 – die elfte Isonzoschlacht ging gerade dem Ende entgegen – sah Hof-Fotograf Schumann Karl I. vor der Leiche eines verkohlten und zerfetzten Soldaten weinen und hörte, wie er flüsterte: „Kein Mensch kann das noch vor Gott verantworten. Ich muß dem ein Ende setzen, so schnell wie möglich.“ In Österreich waren – wie fast überall in Europa – die Lebensmittel knapp. Armut, Hunger und Tod waren die wahren Sieger dieses Krieges. Karl war sich dessen bewußt und zögerte nicht, seinen Lebensstil an die Umstände anzupassen. Auch er und seine Familie ernährten sich von den Kriegsrationen. Das für das Oberkommando in Baden bestimmte Weißbrot ließ er an Kranke und Verwundete ausgeben, und er selbst aß, vor den Augen seiner fassungslosen Offiziere, nur Schwarzbrot. Er ließ Kriegsküchen einrichten, benutzte die Pferde seines Hofes für Kohle-Transporte nach Wien, war großzügiger, als er es sich eigentlich hätte erlauben können.
In der Zwischenzeit war der deutsche Bündnispartner dabei, die heimtückischsten Waffen zu ersinnen. Als der große Admiral Alfred von Tirpitz Karl bei einem Essen davon zu überzeugen suchte, die italienischen Städte von Flugzeugen und U-Booten aus zu bombardieren, war Karl so entrüstet, daß er einfach aufstand und ging. Aber nicht nur wegen des Desasters, das er jeden Tag vor Augen hatte, war er gegen die Bombardierungen – auch sein politischer Weitblick riet ihm davon ab. Er wußte, daß das den Kriegseintritt Amerikas beschleunigt hätte, der für sein Land nur verhängnisvolle Auswirkungen haben konnte. Aber in Deutschland wollte man ihm kein Gehör schenken. Im Februar des Jahres 1917 befahl Kaiser Wilhelm II. den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, die Männer hatten den Auftrag, jede Flotte zu versenken, die den Atlantik kreuzte. Und damit begangen die Mittelmächte ihren großen Fehler. Wilson beschloß nämlich, an der Seite der Entente in den Krieg einzutreten, sozusagen anstelle Rußlands, das im Oktober desselben Jahres mit den Revolutionswirren zu kämpfen hatte und im Dezember mit Deutschland den Frieden von Brest-Litowsk unterzeichnen sollte. Trotz aller von Karl I. unternommenen Versuche, wurde der Frieden letztendlich nicht auf dem Wege der Diplomatie erreicht, sondern mit der Gewalt der Waffen.
1918 war das Jahr der Kapitulation. Am Piave, an der Marne, in Amiens, Vittorio Veneto, ja, einfach überall, war das Schicksal Deutschlands und der Donaumonarchie besiegelt. Der amerikanische Präsident Wilson verkündete sein „14-Punkte-Programm“ zur Erhaýtung des Weltfriedens. Rumänien unterzeichnete das Friedensabkommen mit der Entente, Bulgarien ergab sich, die Tschechoslowakei und Polen erklärten ihre Unabhängigkeit, die Türkei unterzeichnete den Frieden, der deutsche Kaiser dankte ab und machte damit den Weg frei für die Entstehung der Weimarer Republik.
Und als sich die Ereignisse derart überschlugen und sich die Straßen Wiens mit aufgebrachten Menschenmengen füllten, mußte Karl erkennen, daß er auf einmal allein dastand. Am 11. November unterzeichnete er ein Manifest, in dem er erklärte, a priori alles anzuerkennen, was Deutsch-Österreich hinsichtlich der Wahl seiner zukünftigen Staatsform beschließen werde, daß das Volk durch seine Vertreter die Regierungsgeschäfte übernommen habe und er auf jedwede Beteiligung an der Regierung des Staates verzichte. Gleichzeitig entband er seine österreichische Regierung von ihrem Mandat.Karl unterzeichnete dieses Manifest im Vertrauen auf gewisse Politiker, die ihm versichert hatten, daß der Fortbestand der Dynastie gewährleistet wäre, wenn er es öffentlich dem Volk überlasse, über die zukünftige Gestaltung des Staates zu befinden. Er tat es in dem Bewußtsein, daß es sich dabei nicht um eine Abdankung handelte, denn eine solche hätte er nie unterzeichnet, weil das einen Bruch mit dem Eid bedeutet hätte, den er Gott gegenüber abgelegt hatte, als er Kaiser geworden war. Er wollte sich einfach nur eine Zeitlang aus den Staatsgeschäften zurückziehen, und das, um die auf ihn immer größeren Druck ausübenden Politiker zufriedenzustellen, aber auch, um unnötiges Blutvergießen zu verhindern. Doch dann, am 12. November, wurde die Monarchie als gestürzt erklärt, und Karl war noch am selben Abend gezwungen, Wien zu verlassen und sich in sein 20km von der Hauptstadt entferntes Jagdschloß in Eckstau zurückzuziehen. In der Zwischenzeit tobte in Ungarn gerade ein blutiger Aufstand und Ministerpräsident Tisza wurde von den Revolutionären ermordet.
In der Positio super vritutibus steht zu lesen, daß „der Diener Gottes“, ungeachtet all dieser Ereignisse, jeden Abend das Te Deum betete, und es am 31. Dezember 1918 als Dank für all das singen ließ, was das ausklingende Jahr gebracht hatte. Auf den Vorschlag, es wegzulassen, hatte er nur geantwortet, daß ihm in jenem Jahr zu viele Gnaden gewährt worden wären, für die er Dank sagen müsse.“ Und all jenen, die ihren Ohren nicht trauen wollten und ihn erstaunt fragten, was das denn für Gnaden gewesen sein sollen, antwortete Karl: „Dieses Jahr war zwar ein hartes, aber es hätte für uns alle noch viel schlimmer kommen können. Man darf aus der Hand Gottes nicht nur das Gute annehmen wollen, sondern muß auch dankbar sein können für alles andere, so schwierig und schmerzlich es auch sein mag. Hat dieses Jahr nicht auch das so langersehnte Ende des Krieges gebracht? Und für den Frieden ist jedes Opfer, jeder Verzicht nur recht und billig.“ So mußte Karl schließlich auch seine österreichische Heimat verlassen, wo sein Leben und das seiner Familie gefährdet war. Am 23. März 1919 begab sich die kaiserliche Familie in die Schweiz, und am 3. April erklärte die österreichische Regierung öffentlich, daß der Kaiser ins Exil gegangen war und man zur Konfiszierung seiner Güter schreiten würde. Von der Schweiz aus unternahm Karl zweimal den Versuch, nach Ungarn zurückzukehren, um die Monarchie wiýderherzustellen. Von zahlreichen Politikern, Militärs und einfachen Bürgern angespornt, vor allem aber von Benedikt XV. (der laut Bericht des letzten Kabinettschefs des Kaisers „wiederholt zum Ausdruck brachte, für wie notwendig er eine Wiederherstellung der Monarchie in Ungarn hielt“), unternahm Karl I. zweimal – im März und im Oktober 1921 – den vergeblichen Versuch, den Thron zurückzuerobern. So blieb ihm letzten Endes nur die Verbannung. Und denen, die in jenen schweren Stunden an seiner Seite waren, sagte er: „Auch wenn es fehlgeschlagen ist, müssen wir Gott danken, weil seine Wege nicht die unsrigen sind.“

„Am 19. November 1921, Fest der hl. Elisabeth, tauchte das sonnige Land seines Exils vor ihm auf [...]. Der Kaiser nahm die beiden Türme einer Kirche wahr. ‚Welch wehmütige Erinnerungen ruft diese Kirche in mir wach!‘ rief er aus, ‚wie sehr erinnert sie mich an die Kirchen meines Landes! Es muß eine der Muttergottes geweihte Kirche sein: gehen wir sie sofort anschauen!‘. Die Rede war von Nossa Senhora do Monte, der Kirche, in der er wenige Monate später beigesetzt werden sollte“
„Jesus“
„Am 19. November 1921, Fest der hl. Elisabeth, tauchte das sonnige Land seines Exils vor ihm auf [...]. Der Kaiser nahm die beiden Türme einer Kirche wahr. ‚Welch wehmütige Erinnerungen ruft diese Kirche in mir wach!‘ rief er aus, ‚wie sehr erinnert sie mich an die Kirchen meines Landes! Es muß eine der Muttergottes geweihte Kirche sein: gehen wir sie sofort anschauen!‘. Die Rede war von Nossa Senhora do Monte, der Kirche, in der er wenige Monate später beigesetzt werden sollte“: so beschreibt Giuseppe della Torre (Carlo d´Austria. Una testimonianza cristiana, Mailand 1972) die Ankunft Karls auf Madeira. Karl lebte hier noch fünf Monate, und in dieser Zeit erkannten die Einheimischen schon bald, daß dieser Mann neben seinem kaiserlichen Titel noch etwas viel Wichtigeres an sich hatte. „Karl verstand es, auf die anderen zuzugehen, zu allen sofort eine spontane, von Menschlichkeit geprägte Beziehung aufzubauen; wer war von seiner Persönlichkeit, seinem herzlichen, zuvorkommenden Wesen nicht eingenommen? Und so verwandelte sich die anfängliche, mitleidsvolle Sympathie, die die Inselbewohner ihm und seiner Frau entgegenbrachten, schon bald in unverhüllte Begeisterung.“
So konnte es auch nicht verwundern, wenn sie sich alle eingefunden hatten, an jenem Frühlingstag des Jahres 1922. Um diesem Freund das letzte Geleit zu geben, der sich von ihnen und von seinem Erdenleben mit folgendem Wort verabschiedet hatte: „Jesus.“
An jenem Tag gab es nirgends mehr, weder in Funchal noch anderswo, Kaiserreiche und Kaiser, die das Christenvolk in Europa und in der Welt repräsentierten. Jener Mann, jener 34jährige Mann, hatte die Bewohner Madeiras mit etwas in seinen Bann gezogen, das nichts zu tun hatte mit seinem kaiserlichen Titel und der damit verbundenen Macht. Vielleicht war es die liebevolle Art und Weise, in der er diesen Namen ausgesprochen hatte, die die Inselbewohner in jenen fünf Monaten so nachhaltig beeindruckt hatte. Dasselbe, was vielleicht alle beeindruckt hat, die ihn persönlich gekannt hatten, am Hof oder inmitten der Dramatik der Schützengräben am Anfang des Jahrhunderts. Vielleicht war gerade das der einzige Schutz des Christenvolkes: diese liebevolle Art und Weise, auf die der letzte Kaiser so oft diesen Namen angerufen hatte.






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