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DEMOKRATIE UND WESTLICHE WELT
Aus Nr. 07 - 2003

Israel, Europa, Islam


„Dialog impliziert Respekt. Und Respekt ist mehr als Toleranz. Toleranz ist eine passive Tugend, die dem Gesprächspartner lediglich das Recht auf eine eigene Meinung zugesteht. Respekt dagegen ist eine aktive Tugend, die dem Gesprächspartner die Möglichkeit zugesteht, bei mir eine Meinungsänderung zu bewirken.“


von Marcello Pera


Wir danken Präsident
Marcello Pera, der uns die Erlaubnis gegeben hat, seinen am 29. Mai an der Hebrew University von Jerusalem gehaltenen Vortrag zu veröffentlichen.
Die Aktualität des Themas bedarf keiner Hervorhebung.
Giulio Andreotti

1. Überzeugungen
und Probleme
Ich beginne mit der Auflistung der drei Dinge, an die ich fest glaube; alle drei hängen mit der Demokratie zusammen.
Das erste, woran ich glaube, ist eine Definition. Einem weit verbreiteten Denken folgend betrachte ich die Demokratie als jene Regierungsform, in der ein Regierungswechsel auf friedvolle Weise erfolgt, durch freie Wahlen und ohne Gewalt.
Das zweite, woran ich glaube, ist ein historisches Faktum. Die Demokratie wurde in der westlichen Welt geboren. Sie rührt in erster Linie von dem langen Kampf der Europäer gegen die absoluten, weltlichen oder religiösen, Mächte her.
Das dritte, woran ich glaube, ist ein Wert. Die Demokratie ist ein universales Gut, und daher nicht nur ein Faktum, das einen Teil des Globus betrifft, sondern eine Pflicht für alle Völker.
Diese drei Überzeugungen werfen mindestens zwei Probleme auf. Das erste ist folgendes: wenn die Demokratie ein Faktum der westlichen Welt ist, kommt dann ihre Umformung in einen universalen Wert nicht einer Form von Imperialismus gleich? Und das zweite: wenn die Demokratie ein Faktum der westlichen Welt ist, kann sie dann in andere Gebiete exportiert werden? Ich glaube, daß diese Probleme gelöst werden können, und will nun auch erklären, warum.

2. Demokratie
und Imperialismus
Ich will beim ersten Problem beginnen: ist die Demokratie eine Art westlicher Imperialismus?
Meine Antwort lautet „nein“, und um das zu erläutern, möchte ich mich auf die von mir übernommene Definition stützen. Wenn die Demokratie eine Regierungsform ist, die die Gewalt als Mittel zur Regierungsänderung ablehnt, basiert sie auf dem Dialog. In einer Demokratie ersetzen die Regierungen einander, indem sie in aller Freiheit über Verdienste und Verfehlungen der Regierenden diskutieren.
„Dialogieren“ ist allerdings mehr als „diskutieren“, weil der Dialog ein praktisches Ziel verfolgt. Der Dialog ist eine Diskussion, die auf eine Meinungsänderung, eine Handlung, abzielt. In den Demokratien bedeutet das Wahlen.
Das heißt, daß der Dialog einen Appell an die Vernunft impliziert – in jeder Bedeutung des Begriffs „implizieren“ –: wenn ich mit einem anderen diskutiere, damit dieser seine Meinung ändert, bedeutet das, daß ich ihm die Fähigkeit zugestehe, meinen Argumenten zu folgen, eigene zu entwickeln, die seinen mit den meinen zu konfrontieren. Der Dialog stellt eine Art „Bürgerrecht der Vernunft“ her, welche Toleranz für die Personen und ihre Meinungen erfordert, ganz gleich, wie diese auch aussehen sollten.
Aber das ist nicht alles. Der Dialog ist eine symmetrische Beziehung: so wie ich will, daß der andere meinen Standpunkt akzeptiert, will der andere, daß ich den seinen akzeptiere. Dialog impliziert also Respekt. Und Respekt ist mehr als Toleranz. Toleranz ist eine passive Tugend, die dem Gesprächspartner lediglich das Recht auf eine eigene Meinung zugesteht. Respekt dagegen ist eine aktive Tugend, die dem Gesprächspartner die Möglichkeit zugesteht, bei mir eine Meinungsänderung herbeizuführen. Die Toleranz geht nur in eine einzige Richtung, der Respekt geht in beide Richtungen, nach vorne und nach hinten.
Ich stelle diesen Unterschied heraus, weil man vor allem in den europäischen Ländern, in denen wichtige religiöse Minderheiten leben – in Italien lebt z.B. eine Million Muslime –, dazu neigt, die Toleranz für eine ausreichende Garantie für die Integration zu halten. Weit gefehlt. Die Toleranz allein birgt das Risiko, geschlossene Gemeinschaften zu schaffen, und daher Spannungen und Konflikte. Eine wahre Integration erfordert, daß jeder Gemeinschaft das Recht zugestanden wird, sich mit jeder anderen zu kreuzen. Man denke daran, daß der Dialog darauf abzielt, Meinungen zu ändern, aber nicht notwendigerweise die Meinung der anderen, auch unsere eigene.
Wie Popper zu sagen pflegte, hängt der Erfolg eines Dialogs zwischen A und B nicht von der Tatsache ab, daß A B konvertiert hat, sondern davon, daß A und B nach ihrem Meinungsaustausch klüger geworden sind, bzw. intellektuell betrachtet reicher, weil ein jeder von ihnen die Motivationen des anderen besser verstanden hat.
All das versetzt mich in die Lage, mich zur Frage der Demokratie als eine Art westlicher Imperialismus zu äußern. Wenn sich die Demokratie auf den Dialog gründet, dann gründet sie sich auf den Konsens, ist kein Aufdrängen. Der Gedanke, daß die Demokratie gegen den Willen eines Volkes vorangetrieben werden kann ist ebenso inkonsequent wie der Gedanke, daß man einen Dialog führen kann, indem man den Gesprächspartner „schulmeistert“, oder – schlimmer – eliminiert.
Hier könnte man einwenden, daß die Geschichte das Gegenteil bezeugt. Man sagt beispielsweise, daß Italiener und Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg gezwungen waren, die Demokratie zu akzeptieren. Aber das ist falsch. Der Zweite Weltkrieg hat zwei despotische Regime in die Knie gezwungen – den Faschismus und den Nazismus –, aber von sich allein hat er die Demokratie nicht aufgezwungen. Nach dem Krieg wurden Italien und Deutschland demokratische Länder, weil ihre Völker das so wollten, und gelungen ist ihnen das, weil sie sich an ihre früheren und fest verwurzelten Traditionen anlehnten.
An diese Erfahrung muß auch nach dem Zweiten Golfkrieg erinnert werden. Nach der Beseitigung des Diktators besteht die Herausforderung nun in der Schaffung einer Tradition des Dialogs und des Respekts in der irakischen Gesellschaft. Und die größten Anstrengungen müssen dafür unternommen werden, die Bedingungen zu schaffen (durch den Handel, die Bildung, Administration, Gesetzgebung, usw.), damit diese neue weltliche Tradition Wurzeln fassen und die vorherigen lokalen, kulturellen und religiösen Traditionen akzeptieren kann.
Traditionen sind von grundlegender Bedeutung. Die demokratischen Institutionen entwickeln sich in verschiedenen Formen, weil sie jede auf ihre Weise von den lokalen Traditionen genährt werden. Der Gedanke, daß es nur ein einziges Demokratie-Modell gibt, ist ebenso naiv und falsch wie der Gedanke, daß es nur eine einzige Tierart gibt. In der Praxis entwickeln sich Demokratien gemeinsam mit ihren Traditionen, und wenn die demokratischen Institutionen Verhaltensnormen verlangen sollten, die von der Gesellschaft weitgehend abgelehnt werden, könnten sie leicht degenerieren.

3. Die Demokratie exportieren
Vor diesem Hintergrund kann mein zweites Problem nun wohl leichter angegangen werden: kann man Demokratie exportieren? Da die Demokratie, je nach den lokalen Traditionen, die in Wechselwirkung zu ihr treten, verschiedene Formen annimmt, muß die Frage bei Ländern islamischer Tradition heißen: ist die islamische Tradition mit der Demokratie unvereinbar?
Nicht wenige westliche Gelehrte sind reichlich skeptisch. Sie vertreten die Meinung, daß die Demokratie die Trennung von Religion und Moralität von Gesetz und Staat voraussetzt, oder die Trennung des Staates von der bürgerlichen Gesellschaft. Mit anderen Worten: sie meinen, daß die Demokratie die Anerkennung der moralischen Neutralität des Staates voraussetzen würde. Und da diese Vorstellung der islamischen Tradition fremd ist und von vielen Muslimen strikt abgelehnt wird, sollte man meinen, daß die Demokratie mit dem Islam unvereinbar ist und folglich nicht in ein islamisches Land exportiert werden kann.
Hier könnte man entgegnen, daß es viele Länder gibt – die Türkei ist eines davon –, die, aufgrund ihrer Verfassung oder de facto, diese Unterscheidung akzeptiert haben. Dennoch lässt sich das Problem nicht hier lösen. Da es kultureller Natur ist, muß man eher eine konzeptuelle denn eine historische Position einnehmen.
Ebenso wie das Christentum ist der Islam eine komplexe Realität, in der verschiedene Nuancen und auch radikale Unterschiede nebeneinander leben. Aufgrund meiner eigenen (bescheidenen) Kenntnis, gibt es im Islam kein Element, das in deutlichem Kontrast zu den grundlegenden kulturellen Aspekten der Demokratie stünde. Da sich der Einwand aber auf einen angenommenen Aspekt der Demokratie bezieht, will ich das Problem von dieser Seite angehen.
Mein Standpunkt ist der, daß, streng betrachtet, die ethische Neutralität des Staates ein Mythos ist. Sie ist in keinem Teil der westlichen Welt voll umgesetzt worden, und wir haben guten Grund zu meinen, daß das auch gar nicht geschehen kann. Es ist falsch, die religiösen Meinungen als bloße Ausdrücke anzusehen, die nur der privaten Sphäre der individuellen Entscheidungen angehören. Religiöse Meinungen wirken sich auf die öffentliche Politik aus. Die hitzigen Debatten um Fragen wie Abtreibung, Euthanasie, den Rückgriff auf Biotechnologien, hängen mit tiefgreifenden religiösen und moralischen Ansichten zusammen. Und wenn Polygamie gesetzlich verboten ist, dann, weil wir alle Erben der jüdisch-christlichen Tradition sind.
Die Neutralität des Staates ist also nicht eine Frage von „alles oder nichts“. Es ist vielmehr eine Frage des Maßes. Was die moralischen Prinzipien angeht, ist das wichtigste Problem für die Demokratien nicht, wie man die Neutralität des Staates voll umsetzen kann, sondern wie man mit den Konflikten umgehen muß, die von den tiefgehenden moralischen und religiösen Unterschieden ausgelöst werden.
Hier kommt der Respekt ins Spiel. Nach langen und erbitterten Religionskämpfen haben sich die Europäer endlich zum gegenseitigen Respekt durchgerungen. Die Debatten mögen hitzig sein, aber die Leute tendieren dazu, die Gründe für die Unstimmigkeiten zu verstehen. Für diese Unstimmigkeiten gibt es keine einfachen Lösungen, aber das, was uns der Respekt zu erreichen erlaubt, ist ein vernünftig abgewogener, und stets temporärer, Kompromiß, der ein gemeinsames modus vivendi gewährleistet. Und das, was uns der Respekt zu akzeptieren erlaubt, sind jene juridischen und institutionellen Kompromisse, die eine friedliche Koexistenz aufrechterhalten.
Ich persönlich sehe keinen Grund dafür zu glauben, daß fundamentalistischere Länder nicht in der Lage sind, ähnliche, mit der Demokratie zu vereinbarende Kompromisse zu erreichen. Autokratische Gesellschaften können nur in einem statischen Ambiente überleben, aber die Welt von heute verändert sich in einem rasenden Tempo. Das Fernsehen, Internet, sowie die raschen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte bringen pluralistische Gesellschaften hervor, da die Leute natürlich verschieden auf Neuheiten reagieren. Das erklärt zum Teil, warum despotische Regime normalerweise nur von kurzer Dauer sind. Natürlich kann nach dem Zusammenbruch eines despotischen Regimes ein anderes folgen. Geschichtlich gesehen gibt es keine Notwendigkeit, daß der Despotismus von der Demokratie ersetzt wird, aber es ist auch keineswegs historisch unmöglich, daß auf Despotismus Demokratie folgt.

4. Die Geißeln Europas
und die Koexistenz
zwischen den Völkern
Man erlaube mir, meinen Vortrag mit der Analyse einiger politischer Probleme zu beschließen, die von dringlicher Aktualität sind und meiner Meinung nach gemäß dem von mir umrissenen Konzept angegangen werden können.
Die Geschichte der europäischen Völker und die des jüdischen und des arabischen Volkes lehrt uns, daß kein historischer oder theologischer Determinismus eine erbitterte gegenseitige Feindschaft vorschreibt. Europa ist nicht nur das Ghetto, wo sich die Judenverfolgung abgespielt hat. Es ist auch die Heimat des Zionismus und der Ort, wo das Zusammenleben von Juden und Muslimen mehrfach in die Tat umgesetzt werden konnte: auf der iberischen Halbinsel im Frühmittelalter, aber auch auf dem Balkan, unter muslimischer Herrschaft. Beide Völker konnten enorme Vorteile daraus ziehen, und zwar in materieller, aber – dauerhafter – auch in kultureller Hinsicht.
Zu den jüngsten Verfehlungen Europas darf jedoch nicht geschwiegen werden. Europa hat zuerst dem Einfluß des Nazismus, und dann später dem des Kommunismus in einigen bedeutenden arabischen Ländern zu wenig Beachtung geschenkt. Hatte für die Nahost-Staaten eine gehörige Portion Zynismus übrig, als wären sie rein geographische Realitäten. Nach der Geburt Israels hat man es versäumt, dieser Tradition des Dialogs und der Vermischung von Völkern unterschiedlicher Kulturen, die jahrhundertelang wesentlicher Bestandteil seines Erbes war, Rechnung zu tragen. Dasselbe riskiert Europa heute auch mit Israel, wenn es dessen Sorgen und Ängste nicht ernst genug nimmt.
Europa scheint heute leider zu vergessen, ein Hybrid der ganz besonderen Art zu sein: es ist Erbe Jerusalems, Athens, Roms, und schließlich auch Paris’, Amsterdams, Cambridges, Florenz’, Pisas, Königsbergs, wo seine vielen berühmten Väter geboren wurden und wirken konnten. Skepsis, Relativismus, Postmodernismus, Multikulturalismus, und viele ähnliche andere intellektuelle Geißeln, ziehen Europa in Mitleidenschaft, bringen seine Identität in Gefahr, bedrohen die von ihm jahrhundertelang gespielte Protagonistenrolle. So wie die Natur bei Heraklit, liebt es Europa heute, sich zu verbergen.
Dieses Phänomen des Abkommens Europas von seinen Wurzeln hat u.a. provoziert, daß Israels Mißtrauen dem alten Kontinent gegenüber erwacht ist, und ist auch die Ursache für das Unverständnis Europas dem Phänomen des Terrorismus gegenüber. Die integralistischen Muslime dagegen haben in Europa – vor allem in den radikalen Flügeln der no-global und der Pazifisten-Bewegungen – einen bevorzugten Ansprechpartner für ihren Krieg der Zivilisationen gesucht.
All das kann und muß richtiggestellt werden. Ich meine, daß wenn Europa seine Natur und demokratische Identität wiederentdeckt, schätzt und verteidigt, wenn Israel versteht, daß Europa, dank dieser Erkenntnis, vor allem für das Recht des israelischen Volkes auf eine sichere Existenz eintritt – dann sind weder die jüngste Geschichte der arabischen Länder noch die tragischen Phänomene des islamischen Fundamentalismus ein unüberwindliches Hindernis für ein friedliches Zusammenleben. Und dann wird auch das von Israel Europa gegenüber gehegte Mißtrauen aufhören.
Abschließend möchte ich auf die von mir anfangs aufgeworfenen Probleme zurückkommen. Ich glaube, daß die Demokratie ein universaler Wert ist, und daß demokratische Regierungsformen in einer Welt, die immer schnelleren Änderungen unterworfen ist, überall entstehen können – wenn auch unter tausend Schwierigkeiten und in den verschiedensten Formen. Puristische Philosophen werden über die juridischen und institutionellen Kompromisse nicht gerade glücklich sein, die eine jede dieser Formen mit sich bringt. Und, als Philosoph, bin auch ich, aus verschiedenen Gründen, nicht gerade glücklich darüber. Aber ich bin auch Politiker, wenngleich ein zeitweiser. Und daher glaube ich, daß das, was am meisten zählt, nicht die intellektuelle Zufriendenheit der Philosophen ist, sondern die moralische Weisheit der Politiker. Sie können für die Zusammenarbeit zwischen Völkern verschiedener Kulturen, Traditionen, Brauchtümer, Werte kämpfen. Und wenn sie das können, dann haben sie auch die Pflicht, es zu tun.





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