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JOHANNES PAUL I
Aus Nr. 07 - 2003

Die Muttergottes und der Jongleur



von Albino Luciani


Patriarch Albino Luciani war oft und gern während der Sommermonate im Kloster der Diener Mariens zu Gast, gleich neben dem Südtiroler Marienheiligtum von Weißenstein. Gern konsultierte er die Bibliothek der Mönche. Beim Lesen einer französischen Anthologie stieß er auf eine Erzählung von Anatole France, die er, wie er zugab, schon fünfzig Jahre zuvor, als Junge, gelesen hatte. Der von ihm dazu geschriebene Kommentar erschien im Messaggero von Sant´Antonio im Dezember 1976.

Bereits Lukas hatte bemerkt, daß Maria nur „ein paar Turteltauben, die Gabe der Armen“ (vgl. Lk 2,23) in den Tempel bringen konnte. Daß sich dann die Armen in ihrer Nähe stets privilegiert gefühlt haben, geht aus vielen Gebeten hervor, deren springender Punkt folgendes ist: „Bitte bei Gott für mich; ich kann nur deshalb um deine Fürsprache bitte, weil ich arm bin.“ Ein solches Gebet durchzog die Jahrhunderte und, parallel dazu, machte eine Geschichte über die Armen Mariens die Runde: Aufgekommen in Frankreich im 13. Jahrhundert und von den Wanderpredigern erzählt, hat sie der Schriftsteller Anatole France aufgeschrieben: Le jongleur de Notre-Dame.
Barnabas von Compiègne war ein Zauberkünstler, der von Stadt zu Stadt zog und die unglaublichsten Kunststücke zum Besten gab. Aber oft, im Winter, hatte er keine Arbeit, mußte Hunger leiden. Und er, der die Muttergottes sehr verehrte, betete: „Herrin, ich lege mein Leben in Eure Hände, so es Gott gefalle, daß ich sterbe, und wenn ich tot bin, dann laßt mich die Freuden des Paradieses kennenlernen.“ Eines regnerischen, bitterkalten Abends begegnete ihm auf der Straße ein Mönch, und nachdem er mit diesem ein paar Worte gewechselt hatte, beschloß er, die Kunst aufzugeben, die ihn berühmt gemacht hatte, und, als Mönch, das Lob der Jungfrau zu singen. Als er im Kloster angekommen war, stellte er fest, daß die Mönche einander dabei zu überbieten suchten, der Muttergottes Ehre zu erweisen, und fühlte sich sofort wegen seiner großen Unwissenheit unbehaglich. Er sagte zu sich selbst: „Der Prior verfaßt Traktate über die Jungfrau Maria; Bruder Marcrobio schreibt sie auf feinstem Pergament ab, die Bruder Alessandro dann mit zauberhaften Miniaturen schmückt. Andere wieder komponieren Hymnen oder stellen Statuen her, ihr zu Ehren. Und was kann ich? Gar nichts!“. „Ich muß zu meinem Unglück sagen,“ gestand er der Muttergottes, „daß ich dir weder erbauliche Predigten, noch feine Malereien, noch fließende, elegante Verse bieten kann. Ich habe leider gar nichts.“ Und dann übermannte ihn die Traurigkeit. Doch eines Morgens war er ganz zufrieden, als er aufstand, begab sich eilig zur Kapelle, wo er den ganzen Vormittag blieb, bis nach dem Mittagessen. Das tat er von nun an jeden Tag, und war nie mehr traurig. Und die anderen Mönche begannen sich zu fragen: Was mag Barnabas nur solange in der Kapelle zu schaffen haben? Der Prior beschloß, es herauszufinden, ging Barnabas nach, und als er durch die Ritzen der Tür spähte, sah er Barnabas, der vor dem Altar der Muttergottes kniete und – mit den auf den Märkten üblichen sechs Kupferkugeln und 12 Messern – seine Kunststückchen zum Besten gab. Er war fassungslos, glaubte, Barnabas sei verrückt geworden, und wollte ihn gerade aus der Kapelle zerren, als er sah, wie die Muttergottes die Stufen vom Altar herunterkam, sich Barnabas näherte und mit dem Saum ihres Mantels den Schweiß trocknete, der auf der Stirn ihres Jongleurs stand. Dem guten Prior blieb nichts anderes übrig, als sich zu Boden zu werfen und zu stammeln: „Selig die Einfachen, denn sie werden Gott sehen.“
In der Fabel trocknet Maria nicht den Füllfederhalter des Priors, sondern den Schweiß des armen Barnabas: für ihn, den einfachen Jongleur, der da vor ihr auf dem Boden sitzt, müde, erschöpft und schweißüberströmt, steigt sie von ihrem Thron herab, um ihm, mit dem Saum ihres Mantels, Trost zu spenden. Eben gerade weil wir arm sind, hilft uns die Muttergottes jetzt und in der Stunde unseres Todes. Wer diese kleine Fabel von Anatole France heute erzählen will, wo die Menschen so nach wahrer Einfachheit dürsten, müßte herausstellen, wie sehr das dem realistischsten Bild Mariens entspricht, die in ihrem Loblied sagt: „Gott hat die Mächtigen vom Thron gestürzt und die Einfachen erhoben.“



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