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Aus Nr. 09 - 2003

Das Staunen über das Vorbeigehen Gottes


Der Postulator für den Heiligsprechungsprozess Don Oriones erzählt die Geschichte des Wunders, das der Heiligsprechung des Gründers des Kleinen Werkes der Göttlichen Vorsehung den Weg ebnete.


von Giovanni Cubeddu


Don Orione

Don Orione

Pýpst Johannes XXIII. hat den apostolischen Prozess für seine Seligsprechung 1963 eingeleitet, Paul VI. 1978 die heldenhaften Tugenden proklamiert. Johannes Paul II. war es dann, der Don Luigi Orione am 26. Oktober 1980 seligsprach, diesen Mann, der ein „wunderbarer und genialer Ausdruck der christlichen Liebe“ war. Auch wer diesen Priester und Gründer der „Piccola Opera della Divina Provvidenza“ (zu der die Söhne der Göttlichen Vorsehung, die Kleinen Missionsschwestern der Nächstenliebe, die Eremiten, das Säkularinstitut und die Laien- Bewegung gehören) nicht kennt, wird dieser Definition zustimmen.
Don Luigi wurde 1872 in Pontecurone geboren, einem Örtchen in der Provinz Alessandria, zwischen Tortona und Voghera. Er starb am 12. März 1940 in San Remo. Es gibt keinen Bereich, in dem seine Liebe nicht das Herz anrühren und die Armut von Körper und Geist gelindert hätte – in Italien, in Nord- und Südamerika, aber auch in England und Albanien. Man muß nur an die vielen Unglücklichen denken, die er in seinem „Piccolo Cottolengo“ aufgenommen hat. Seine Biographie ist voll von Seiten, die Trost spenden und aus denen Demut erstrahlt („von den Gnaden, die der Herr mir gewährt hat, war eine die, arm geboren zu sein“).
Am 7. Juli wurde, in Anwesenheit des Papstes, das Dekret zur Anerkennung eines Wunders promulgiert, das zweite, das sich dank der Fürsprache Don Oriones ereignen konnte. Und das den Weg zu seiner Heiligsprechung ebnete.
Wir haben uns mit Don Flavio Peloso getroffen, Sekretär der „Piccola Opera“ und Generalpostulator.

FLAVIO PELOSO: Im Jahr 1998 betraute mich unsere Kongregation mit dem Amt des Generalpostulators. Im Herbst jenes Jahres bin ich einer gewissen Gabriella Penacca begegnet, die mir die Geschichte ihres Vaters erzählte, der ein Freund unseres religiösen Werkes war. Die Episode, die sie mir erzählte, hatte sich acht Jahre zuvor zugetragen, und sie hatte noch nie jemandem davon erzählt. Da ich keinen Grund hatte, an der Seriosität meiner Gesprächspartnerin und der mir erzählten Geschichte zu zweifeln, hörte ich aufmerksam zu (der Hausarzt, den ich später aufsuchte, konnte übrigens alles bestätigen).
Im Oktober 1990 begann besagter alter Mann, Pierino Penacca, aus Monperone in der Diözese Tortona, Blut zu husten. Die Diagnose des Krankenhauses von Alessandria war niederschmetternd: Verdacht auf Lungenkrebs. In der Hoffnung auf einen Irrtum holten die Familienangehörigen auch in Mailand medizinischen Rat ein, doch der Gesundheitszustand des Patienten verschlechterte sich zusehends: er mußte ins Mailänder Krankenhaus „San Raffaele“ eingeliefert werden. Die dort gemachten Untersuchungen bestätigten den Verdacht, der dann, am 31. Dezember, zur Gewißheit wurde. Die Ärzte beschlossen, Penacca bald wieder zu entlassen, da der alte Mann eine Chemo- oder Radiotherapie nicht überstanden hätte und dieser Lungentumor ohnehin nicht bekämpft werden konnte. Sie rieten den Familienangehörigen, den Kettenraucher soviele Zigaretten rauchen zu lassen, wie er wollte, um ihn nicht unnötig zu quälen und therapeutische Rückschläge zu vermeiden. Sie rieten vielmehr, ab sofort, und für die letzten Tage, einen Experten in Schmerzlinderungstherapie hinzuzuziehen.
All das wurde der Tochter Penaccas, Gabriella, am Nachmittag des 31. Dezember im Krankenhaus von San Raffaele mitgeteilt.
Wie ging es weiter?
PELOSO: Man kann sich unschwer vorstellen, wie schmerzlich das für sie war. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Und als ihr Vater eingeschlafen war, ging sie in die Krankenhauskapelle, um ein paar Minuten lang mit dem Herrn allein sein, in Ruhe beten zu können. Voller Verzweiflung, aber auch voller Hoffnung. Es war der intensivste Moment des Zwiegeprächs mit dem Herrn und mit Don Orione, an den sich die Tochter erinnerte und der ihrer Meinung nach das ermöglicht hat, was dann passierte. Sie hatte ein kleines Reliquiar mit einer Reliquie von Don Orione bei sich, vertraute sich ihm und dem Herrn an, und verließ die Kirche in der inneren Gewißheit, daß ihr Wunsch erfüllt werden würde.
Die Wissenschaft war mit ihrem Latein am Ende, an jenem Nachmittag am Ende des Jahres im Krankenhaus San Raffaele – doch immer inbrünstiger werdende Gebete stiegen zum Himmel auf: die der anderen beiden Kinder, Isaura und Fiorenzo, der Behinderten von Seregno und einiger befreundeter Priester. Und dann beteten noch andere Familienangehörige und die Behinderten des Piccolo Cottolengo von Seregno – der Kranke war nämlich einer ihrer Wohltäter. Und natürlich betete auch Penacca selbst.
Am 11. Januar wurde Penacca aus dem Krankenhaus entlassen, ohne jemals irgendeine Therapie begonnen zu haben. Doch von diesem Tage an trat eine stetige Besserung ein – und so fuhr der Kettenraucher am 15. Januar, wie jedes Jahr, ans Meer nach San Bartolomeo in Ligurien, um Frischluft für seine Lungen zu tanken.
Seine Familie aber war der Meinung, daß seine Tage gezählt wären...
PELOSO: Ja, aber Penacca wurde wieder gesund. Der Arzt, den die Familie für die „Schmerzlinderungstherapie“ kontaktiert hatte, erzählte mir, daß er nicht verstand, was da vor sich ging und nur feststellen konnte, daß er offensichtlich nicht gebraucht wurde. Die Kinder Penaccas konnten es nicht glauben: „Vater geht es wieder besser“, sagten sie zueinander (der Patient mußte natürlich die notwendigen Untersuchungen über sich ergehen lassen, CT (Computertomographie) und zytologische Untersuchungen – von dem Tumor keine Spur!), und da begann in ihnen der Verdacht, ja, die stille Gewißheit, zu wachsen, daß Don Orione die Finger mit im Spiel hatte. Von all dem wußte Penacca nichts; um ihn nicht zu beunruhigen und unnötig aufzuregen hatte man ihm verschwiegen, wie ernst sein Gesundheitszustand tatsächlich war...
Aber Sie haben die Geschichte sofort geglaubt?
PELOSO: In der Phase der diözesanen Ermittlungen habe ich als Postulator alle Zeugenberichte minutiös gesammelt, die ärztlichen Atteste, die Aussagen. Und da wurde in mir die Gewißheit immer stärker, daß der Bericht der Tochter Gabriella über die Fürsprache Don Oriones der Wahrheit entsprechen könnte. Die Unterlagen wurden dann, wie üblich, der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse übergeben. Nach einer ersten medizinischen Überprüfung konzentrierte man sich auf die Ergebnisse der Blutuntersuchung. Und schließlich, am 16. Januar dieses Jahres, erging durch die Ärztekommission das einhellige Urteil, daß Penacca tatsächlich an Krebs erkrankt war, an einem Tumor, der keine Hoffnung auf Heilung zuließ. Die einzigen Medikamente, die Penacca in der Zwischenzeit eingenommen hatte, waren Herztabletten und Aerosol gegen sein Asthma gewesen. Die Kommission kam also zu der einhelligen Schlußfolgerung, daß das hier vorliegende Verschwinden des Tumors „aus ärztlicher Sicht unerklärlich“ war.
Auf dieser Grundlage analysierte die Theologenkommission die chronologische Sequenz von Diagnostizierung der Krankheit, Fürbittgebet und Heilung; wägte das von der Wissenschaft gegebene Urteil „medizinisch unerklärlich“ ab; überprüfte, ob tatsächlich ein Zusammenhang bestand zwischen Fürsprache und dem unerklärlichen Ereignis. Und erklärte schließlich – auch dieses Mal einhellig –, daß hier ein Wunder vorlag. Die ordentliche Sitzung der Kardinäle und Bischöfe am 3. Juni antwortete – nach neuerlicher Überprüfung der Unterlagen – auf die Frage, ob hier ein durch die Fürsprache Don Oriones bewirktes Wunder vorlag, „adfirmative“, „ja“, auch das einhellig.
Offiziell handelt es sich um einen geklärten Fall. Was aber hat Ihnen Ihre Zeugin genau gesagt?
PELOSO: Penaccas Tochter Gabriella erzählte mir von der Verzweiflung, die sie überkommen hatte, als sie begriff, daß ihr Vater sterben würde, und daß sie gerade in diesem Moment erkannt hatte, was der Verlust eines Vaters bedeutete. Sie war kein Kind mehr – sie war damals über fünfzig Jahre alt. Sie flehte Gott an, seine Väterlichkeit unter Beweis zu stellen und ihren alten Vater leben zu lassen. Sie wandte sich auch an Don Orione: „Du warst bei uns zuhause immer willkommen, hast Papa schon im Krieg gerettet. Laß uns auch diese Gnade erlangen.“ Sie berichtete mir, eine Art inneren Frieden empfunden zu haben, als sie ihm so ihr Herz ausschüttete. Und dann, nachdem sie inbrünstig in der Kapelle gebetet hatte – wie lange? Zwanzig Minuten vielleicht, oder auch eine halbe Stunde – ging sie wieder auf die Krankenstation, ging zu jedem Patienten und gab Kuchen und Sekt für alle aus – so groß war das von ihr empfundene Gefühl der Befreiung.
Warum gerade Don Orione?
PELOSO: In dem Gebiet um Alessandria und Pavia fühlen sich die Menschen Don Orione ganz besonders nah. Penacca hatte ihn noch persönlich gekannt und sprach oft davon, wie Don Orione in den Dreißigerjahren in sein Dorf gekommen war, zur Sammlung von Kupfertöpfen, die dann eingeschmolzen wurden und die „Madonna della Guardia“ entstehen ließen, die noch heute, stolze 14m hoch, auf dem Turm des Marienheiligtums thront.
Seite gegenüber, das Sanktuarium der „Madonna della Guardia“ in Tortona; hier oben, die Seligsprechungsfeier von Don Luigi Orione am 26. Oktober 1980.

Seite gegenüber, das Sanktuarium der „Madonna della Guardia“ in Tortona; hier oben, die Seligsprechungsfeier von Don Luigi Orione am 26. Oktober 1980.

Die Episode, die seine Verbundenheit mit Don Orione begründete, ereignete sich im Zweiten Weltkrieg, genau gesagt im Jahr 1940. Penacca war 1912 geboren worden, und wie alle seine Altersgenossen sollte auch er in den Krieg ziehen. Er war verzweifelt, denn seine familiäre Situation war alles andere als einfach. Er hätte eine kranke Frau, seine alten, gebrechlichen Eltern, sowie seine drei Kinder und die vier seiner Obhut anvertrauten Waisen seines toten Bruders zurücklassen müssen. Was sollte aus ihnen werden, wenn er an die Front zog? Don Orione war am 12. März jenes Jahres gestorben, und Penacca zögerte nicht lange, ihn zu bitten, ihm eine Gnade zu erweisen. Er ging also zum Marienheiligtum „Madonna della Guardia“ in Tortona, um zu ihm zu beten. Und das Unglaubliche geschah! Ohne daß Penacca jemals darum gebeten hätte, trennte ihn der Militärchef vor Ort von den anderen und teilte ihn für die Fliegerabwehr von Tortona ein – er mußte also nicht mehr fort! Die anderen wurden an die russische Front geschickt, und von denen aus Tortona kehrte kein einziger zurück! Es dauerte nicht lange, bis man erkannte, daß Pierino gut Blasinstrumente spielen konnte und ihn als Trompetenblaser einteilte. „So mußte ich letzten Endes nicht einen einzigen Schuß abfeuern!“ erinnerte er sich später. Überdies hatte er auf diese Weise auch die Möglichkeit, sich um seine Familie zu kümmern. Penacca hatte nie daran gezweifelt, daß er diese Gnade Don Orione zu verdanken hatte, und von da an trug er stets sein Bildnis im Portemonnaie. Und wenn ihm seine Familie wieder einmal wegen der vielen Zigaretten zusetzte, ließ er sie reden, holte das Bildchen aus seinem Portemonnaie, wie um zu sagen: „Nun kümmert euch nicht, ich habe doch ihn!“. So verhielt er sich auch damals, 1990, als er merkte, daß es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten stand. Von diesem letzten Krankenhausaufenthalt bis zu seinem Tod im Februar 2001 – dessen Ursache nichts mit dem Tumor zu tun hatte – hat er nie wieder auch nur einen einzigen Tag im Krankenhaus verbracht.
Auch Penaccas Frau hat Don Orione noch persönlich gekannt. Sie stammte aus Tortona, wo sie sich als Arbeiterin verdingte. Don Orione pflegte den Fabriken an Festtagen einen Besuch abzustatten, und so hatte sie ihn kennengelernt und ihren Kindern davon erzählt.
Sie haben vorhin die Gebete der Behinderten erwähnt.
PELOSO: Ja, auch die bedauernswerten Behinderten des „Piccolo Cottolengo“ von Seregno, die „lieben Kinder“ haben zu Don Orione gebetet. Pierino hatte schon seit langem Geschenkkörbe und andere Spenden dorthin gebracht. Er hatte ein fast brüderliches Verhältnis zu den Menschen hier, besonders zu einem der Assistenten des Instituts, Ennio, einem sehr gläubigen und großzügigen Menschen. Und als guter Freund des Hauses war dieser natürlich auch einer der ersten, der von Pierinos Bluthusten erfuhr. Ihm war sofort klar, daß mit einem solchen Symptom nicht zu spaßen war und überzeugte ihn davon, daß er sofort einen Arzt aufsuchen müsse. Als die Ärzte dann von einem Tumor sprachen, zögerte er nicht, Don Orione um Hilfe anzuflehen, und auch seine „lieben Kinder“ miteinzubeziehen: „Wir hatten die Reliquien von Don Orione, und mit denen haben wir gebetet. Wir haben auch viel mit den behinderten Kindern des ‚Piccolo Cottolengo‘ gebetet. Und irgendwann erfüllte mich dann die Gewißheit: du kannst beruhigt sein, es wird alles in Ordnung kommen.“ Es handelte sich um geistig Behinderte, aber doch nicht um Menschen, die nicht fähig gewesen wären, zu glauben, gewisse Dinge zu verstehen.
Welche Erfahrung haben Sie als Postulator gemacht?
PELOSO: Ich habe mich eingehend mit dem Leben von Don Orione befaßt, darüber geschrieben, damit alle davon erfahren... und ich war dankbar dafür, daß mir das Schicksal zugefallen war, zur Anerkennung dieses Wunders beitragen zu dürfen. Ich machte mich mit Begeisterung an die Arbeit, hatte aber auch gewisse Zweifel, vielleicht nicht genug dafür zu tun, um ein unglaubliches Ereignis ans Tageslicht treten zu lassen, von dem ich schon nach den ersten Untersuchungen erkannt hatte, daß es sich um ein Wunder handelte. Meine letzten Zweifel wurden in der diözesanen Phase ausgeräumt. Zu Beginn war ich mehr als skeptisch gewesen. Ich wollte mir keine Blamage antun, und auch meinen Kollegen in der Kongregation unnötige Arbeit ersparen. Doch dann hat mich nichts mehr aufhalten können.
Wenn ich jetzt zurückblicke, an all die Dokumente denke, all die minutiösen Erklärungen, dann sehe ich deutlich diesen Moment, in dem die Wissenschaft am Ende ihres Lateins angelangt war und die Ärzte zu den Familienangehörigen Penaccas gesagt hatten: „Bringt ihn wieder nach Hause – eine Therapie zu versuchen, wäre zwecklos.“ Und doch lebte Pierino Penacca weiter. In diesem Moment – und davon bin ich aus vielerlei Gründen fest überzeugt – war da ein Vorbeigehen Gottes, der sich, in diesem Falle von Don Orione, dazu bewegen hatte lassen, einzuschreiten. Es scheint unglaublich. Ich werde es nie vergessen.
Ein Vorbeigehen Gottes im Leben miterleben zu können, ist stets Grund für große Verwunderung, ruft auch eine gewisse Indignität hervor, doch dann muß man ganz einfach sagen „es ist wahr, es ist wirklich wahr“, auch wenn man riskiert, naiv zu erscheinen. Unser Verstand bäumt sich dagegen auf, will nicht zugeben, daß das, was schon immer passiert ist, wirklich passiert; daß es nämlich Ereignisse gibt, die dem Naturgesetz widersprechen, für die es keine natürliche Erklärung gibt.
Die Kirche will auch weiterhin, daß in dem einen oder anderen Fall, Wunder untersucht und anerkannt werden. Was nicht überall Zustimmung findet. Doch auch als ich mich so schwer dabei tat, die Voruntersuchung zu dem Wunder voranzutreiben – was ich mir gern erspart hätte, für mich war Don Orione ohnehin schon ein Heiliger – war ich dennoch immer überzeugt davon, daß es sich lohnen würde, um eben zu erreichen, ein Zeichen Gottes zu zeigen, für das es keine natürliche Erklärung gab. Das stärkt den Glauben.
Die Kirche nimmt jedes Zeichen Gottes an, hütet es. In unserem Fall betrachtet sie das Wunder als eine durch Gott ergangene Bestätigung des menschlichen Urteils über die Heiligkeit Don Oriones. Wir müssen Gott ebenso unseren Glauben anbieten, indem wir auf den gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus blicken. Aber wenn man dann ab und zu noch das ein oder andere Zeichen hat, ist uns das in unserer Schwäche doch sehr hilfreich.


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