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DIALOG ZWISCHEN RELIGIONEN
Aus Nr. 11 - 2003

Jesus und das Ideal des Korans


Wieder einmal hat Kardinal Angelini zum internationalen Jahreskongress zum Antlitz Jesu einen namhaften islamischen Akademiker eingeladen. Großes Interesse fand sein Beitrag zum Thema „Jesus und das Ideal des Korans“. Der religiöse Dialog muß beim Anhören der jeweiligen Grundpositionen beginnen. Giulio Andreotti


von Hmida Ennaïfer


Die unter Kaiser Justinian (527-565) erbaute und 537 eingeweihte Basilika St. Sophie, die unter der türkischen Besatzung von 1453 zur Moschee wurde und heute als Museum dient (Istanbul, Türkei).

Die unter Kaiser Justinian (527-565) erbaute und 537 eingeweihte Basilika St. Sophie, die unter der türkischen Besatzung von 1453 zur Moschee wurde und heute als Museum dient (Istanbul, Türkei).

Die Schwierigkeit
Der Bezug auf die Gestalt Jesu ist für einen Muslim mit einer zweifachen Problematik verbunden. Auf der einen Seite geht es darum, eine „andere“, „unterschiedliche“ Vision eines Themas zu präsentieren, das für die einen das Wesen selbst ihres Glaubens, und daher ihres Lebens ist. Meine Absicht ist es, die innere Logik des Korans zu erklären, vor allem den Zuhörern und Lesern, die das Leben Jesu und sein Schicksal als die einzige und universale Darstellung der ersten Wahrheit betrachten. Die Schwierigkeit liegt darin, in einer anderen Weise von dieser Wahrheit sprechen zu müssen. Und das ist der erste Aspekt des Problems.
Auf der anderen Seite bringt von Jesus zu sprechen für einen Muslim, der seinen Glauben in kritischer Weise lebt, eine Neuauslegung der muslimischen Interpretation der Christus gewidmeten Koran-Verse mit sich. Das muslimische Erbe ist, zum derzeitigen Stand, meines Erachtens nach unfähig, in konsequenter Weise vom anderen zu sprechen, und folglich noch weniger, einen islamisch-christlichen Dialog anzukurbeln, der Ausschließlichkeit und Isolation auslöscht.
Daher drängt sich auf die Frage: „Wer ist Jesus für euch?“ auch eine doppelte Antwort auf. Auf der einen Seite muß man darlegen, wie sich Jesus im Koran darstellt, man muß ihn aber auch im Zentrum der hauptsächlichen islamischen Problematik ansiedeln, also der Frage des anderen und des Unterschieds zum monotheistischen Denken.
So ist dann Jesus für einen im interreligiösen Dialog engagierten Muslim der andere, der verschiedene, aber gleichzeitig auch der nicht eliminierbare andere, da integrierender Bestandteil seiner religiösen Identität. Jesus ist also der „andere, der mein ist.“
Aber das von ihm im Koran gegebene Bild kann die Christen nicht vollkommen zufrieden stellen, weil es nicht dem ihren entspricht. Daraus folgt dann, daß es im Islam unvorstellbar ist, die Einzigkeit Gottes anzurufen, ohne die Gestalt Jesu mit zu meinen. Aber diese Darstellung wurde in der klassischen muslimischen Version so sehr von historischen Gegebenheiten und politischen Konflikten modifiziert, daß man sie unbedingt neu überdenken muß. Es muß also als unerläßlich gelten, die Gestalt Jesu im Licht der koranischen Rede und der vergleichenden Geschichtswissenschaft zu sehen.
Meine Absicht ist es nun, uns in dieser doppelten Dimension anzusiedeln, zu dem Zweck, aus der jahrhundertealten impasse im islamisch-christlichen Dialog auszubrechen.
In Wahrheit ist dieser Dialog eine komplexe und delikate Sache, weil es darum geht, eine Verbindung zwischen zwei religiösen Identitäten herzustellen, die, wenngleich Schwestern, weder dieselbe Geschichte noch dieselben Dogmen und auch nicht dasselbe Ideal haben und die sich daher einander öffnen müssen.

Der Text und sein Kontext
Beginnen wir nun also mit einer kurzen Auflistung der Passagen, wo Jesus in den koranischen Texten erwähnt wird. In den 6.236 Versen, aus denen der Text des Koran besteht, wird Christus 33mal erwähnt, und zwar sowohl mit seinem arabischen Namen „Issa“, mit seinem zusammengesetzen Namen „Jesus, Sohn Mariens“, und schließlich mit seiner Eigenschaft als Messias. Der Text des Koran hat zweifelsohne von – auch namentlich genannten – Erwählten gesprochen, die die Botschaft der göttlichen Offenbarung vor dem Auftritt des Mohammed verbreitet haben. Wenn sich diese Auflistung auch auf 25 beschränkt, ist jedoch bekannt, daß sie weitaus zahlreicher waren. Unter denen, die namentlich genannt sind, werden einige nur ein einziges Mal, sozusagen en passant erwähnt, während andere dagegen eine wichtige Position einnehmen. So wird Abraham beispielsweise in 64 Versen erwähnt, Moses in 131. Was den quantitativen Aspekt angeht, könnte man schließen, daß Jesus einen zweitrangigen Platz einnimmt, aber das wäre eine verfrühte Schlußfolgerung. Wenn man sich nämlich genauer ansieht, was der Koran über Jesus sagt, erkennt man, daß keine andere Figur mit einer so außergewöhnlichen wunderheilenden Kraft ausgestattet ist wie er. Und nicht nur das: der Koran greift auf ein Dutzend Attribute zurück, die hauptsächlich Jesus zuerkannt werden. Er ist nämlich der Prophet, der Diener Gottes und das von jeder Unreinheit reingewaschene Kind. Aber er ist auch das Zeichen, das Beispiel, das Wort, der von Gott gekommene Geist, die Wissenschaft des Jetzt, derjenige, der vom Heiligen Geist gestützt wird, der direkte Weg.
Von diesen ersten Daten ausgehend kann man sagen, daß Jesus für den Koran eine bemerkenswerte Gestalt in der auserwählten Gruppe der Erwählten ist, die alle mit derselben Berufung ausgestattet sind: den Götzendienst zu bekämpfen, indem sie das Verantwortungsbewußtsein im Menschen wecken, dieser einzigartigen Kreatur und Stellvertreter Gottes.
Hierin liegt der Endzweck der vereinten Kräfte dieser Botschaften der göttlichen Gnade. Bei seinen Ausführung zu Aspekten des Lebens einiger biblischer Gestalten stellt der Koran keinerlei biographischen Anspruch. Das ist der Grund, warum sich bei ihm nichts vom Leben und Schicksal der Erwählten findet, da er, was den historischen Aspekt ihres Lebens angeht, mehr als limitiert ist.
Wir haben es hier mit einer voreingenommenen Position zu tun, die ergriffen wurde, um eine These zu stützen, nach der die Menschheit, wie verschieden sie wegen ihrer geschichtlichen Evolution auch sein mag, ihre Einheit in der Suche nach der Wahrheit und in der ständigen göttlichen Unterstützung dieser Suche zeigt.
Eine rein christologische Interpretation des Korans stellt eine gewisse Zahl von Punkten heraus, die die christliche Lehre betreffen. Man findet dort zum Teil einen uneingeschränkten Respekt vor Maria, der Mutter Jesu, die, von jeder „Verleumdung“ befreit, als die reinste aller Gestalten von Gläubigen dargestellt wird: „Und dann kam der Tag, an dem der Engel zu Maria sagte: ‚Oh Maria, Gott hat in Wahrheit dich gewählt, Er hat dich gereinigt, hat dich, unter allen Frauen des Universums, zu seiner Herrlichkeit erhöht‘“ (III, 42). Zu Jesus, ihrem Sohn, lassen die Verse folgendes Lob erschallen: „Oh Maria, Gott hat Dir eine glückliche Botschaft überbracht, die eines Wortes von Ihm, der den Namen Messias tragen wird, Jesus, Sohn Mariens. Er wird berühmt sein in dieser Welt und in der anderen, und wird Teil sein der Erwählten“ (III, 45).
In anderen Versen wird dagegen nicht gezögert, einige Dogmen zu leugnen, besonders das der Göttlichkeit Jesu: „Bemüht euch, zu Gott nur die Wahrheit zu sagen. Der Messias, Jesus, Sohn Mariens, ist nur der Gesandte Gottes, sein in den Schoß Mariens gelegts Wort, ein Geist, der aus dem Herrn hervorgeht! Glaubt an Gott und seine Propheten, aber sprecht nicht von Triade!“ (IV, 172).
Andere Verse schlagen, im Bezug auf die Christen, einen verurteilenden Ton an, warnen die Muslime vor ihnen: „Gläubige! Macht euch keine Verbündeten unter den Juden und unter den Christen. Denn sind sie vielleicht keine Verbündeten gegen euch? Wer immer sich unter euch zu ihren Verbündeten macht, macht sich zu einem von ihnen!“ (V, 51).
Dennoch verhindert diese Verurteilung nicht, Respekt vor dem Mönchstum und den Priestern zu zeigen: „Man kann beobachten, daß die schlimmsten Feinde der Gläubigen die Juden und die Heiden sind, und daß die, die wir am ehesten lieben können, die Christen sind, weil sich unter ihnen Priester und Mönche befinden, die voller Demut sind“ (V, 82). An einer anderen Stelle kann man lesen: „Wir haben in seiner [Jesu] Jünger Herz Süße und Nächstenliebe gelegt“ (LVII, 27).
Wie kann man nun aus diesen Versen herauslesen, was der Koran über Jesus und seine Jünger sagt? Hierzu ist es wichtig, daran zu erinnern, daß sich ein Großteil muslimischer Exegeten in ihrer antichristlichen Polemik vor allem an diesen verleumderischen Aspekt der christologischen Verse angelehnt hat. Andere Theologen haben dagegen vor allem jene Verse betrachtet, die die Größe Jesu wegen seines Kampfes gegen die Eitelkeit, die Falschheit und das Verbundensein mit dem irdischen Leben herausstellen.
Wenn man vom corpus des Koran eine objektive Christologie ableiten will, ist es unerläßlich, einen lehrmäßigen Punkt zu zitieren. Im Islam ist der corpus des Koran das direkte Wort Gottes (Allah), das auf arabisch gesprochen wird und Mohammed zwischen 612 und 632 der christlichen Ära offenbart wurde. Somit ist der Koran also, da Wort, für jeden Muslim die Wahrheit schlechthin. Die dort behandelten Themen betreffen vor allem: die Schöpfung, den Kosmos, die Natur, das Jenseits, und schließlich die Moral, den Kult und das Gesetz. All das auf der Linie einer neuen Konzeption von Gott und vom Menschen.
Zu diesem ersten Stadium läßt sich sagen, daß das, was über Christus gesagt wird, einen lehrmäßigen Wert hat, weil es, zusammen mit dem, was in den anderen, im Koran zitierten Erzählungen der Propheten gesagt wird, die Grundlage dessen bildet, was man als die menschliche Einzigkeit in seiner Identität bezeichnen könnte. Letztere, die ein wesentliches Argument für die Einzigkeit Gottes ist, schließt die Verschiedenheit der besonderen Gegebenheiten einer jeden Botschaft bei weitem nicht aus. Und daraus erklärt sich auch, warum der Koran, wenn er von Jesus spricht, lediglich einige Episoden seines Lebens herausgreift, um ein Profil davon zu zeichnen. Auf diese Weise wird der Christus der Evangelien in einer gewissen Weise „arabisiert“ und, in beträchtlichem Ausmaß, neu modelliert. Wenn die koranische Offenbarung also den Jesus der Bergpredigt beiseite läßt, den, der inmitten der Sünder lebte, oder wenn sie seiner Göttlichkeit und seine Kreuzigung widerspricht, dann tut sie das nur, um diese Einzigkeit in seiner Identität wieder zu finden. Sie will vermeiden, daß besondere Aspekte des speziellen Ambientes des Christentums zu einem ernstzunehmenden Hindernis für die Teilhabe eines Teils der Menschheit (im Falle der Araber) an dieser Gemeinschaft im weiteren Sinne werden.
Diese Haltung kann die Christen irritieren, da es gegen ihre Vorstellung von der Wahrheit geht; aber der Koran protestiert mehrfach gegen den Anspruch, die Wahrheit zu besitzen und warnt diesbezüglich sowohl die Christen, als auch die Juden und die Muslime: „[Die Wahrheit] hängt keineswegs von unserem reinen Ideal ab [dem Wort für die Muslime] und auch nicht von dem des Volkes des Buches [Juden und Christen]. Wer immer Böses tut, muß sich dafür verantworten und wird vor Gott weder Verbündete noch Beschützer finden“ (IV, 123).
Der koranische Weg, der darin besteht, die Vergangenheit durch die Instanzen des Augenblicks zu verstehen, wird auf alle im Koran zitierten biblischen Gestalten angewandt. Aber diese menschliche Einzigkeit in seiner Identität kann die Verschiedenheit dieser Figuren nicht ausschließen. Indem man diese koranische Dialektik zwischen Einheit und Verschiedenheit verwirft, ist man – nach islamischer Konzeption – sowohl dazu verurteilt, zu behaupten, daß die vorherige Offenbarung die einzig „wahre“ ist als auch dazu zu sagen, daß der Jesus des Koran und der der Evangelien zwei verschiedene Personen sind, die nur den Namen gemeinsam haben.
Muslime beim Lesen des Koran in der Moschee von Damaskus.

Muslime beim Lesen des Koran in der Moschee von Damaskus.

Aufgrund dieser Wahrnehmung ist die göttliche Inspiration notwendigerweise pluralisch und das Zeugnis Jesu eine Bestätigung dessen, was einige muslimische Theologen die lebende Einzigkeit nennen. Wenn Jesus also wirklich das Wort und die Wissenschaft des Jetzt ist, ist er gleichzeitig Permanenz und Kontingenz. Der von Gott gekommene Geist kann sich leicht in einen gut bestimmten historischen Kontext einfügen, unter der Voraussetzung, daß er ihn so übersteigt, daß sich das Wort in unbestimmter Weise realisieren kann. Diese koranische Vorstellung wird in verschiedenen Versen aufgegriffen. Wir wählen hier den, in dem die polymorphe Vorstellung die offensichtlichste ist. „Wenn der gesamte Ozean zu Tinte würde, um das Wort meines Herrn niederzuschreiben, würde sein gesamter Inhalt aufgebraucht, ohne daß sich die Worte des Herrn deshalb erschöpfen würden, auch wenn man zu diesem Ozean einen anderen hinzufügen würde.“ Die Gestalt Jesu öffnet dem Monotheismus so rigoros den Weg zu einem historischen Innovationsprozess, in dem Gott der Mittler zwischen den Menschen ist. In Ihm und durch Ihn erkennt man den Menschen. Der Koran wird nicht müde, zu wiederholen, daß der Gottesbegriff den für die Menschheit der Antike so schwer verständlichen Begriff des universalen Menschen (Insân) entstehen ließ. Wenn man diesen im Zentrum ihrer Lehre ansiedelt haben die monotheistischen Religionen den Menschen dem Menschen als Einheit offenbart. Das bringt uns zu einem anderen Punkt unserer Reflexion zur Spiritualität Jesu im Koran.

Wort Gottes
und Sprache der Menschen
Wenn die Gesamtheit der Koran-Verse zu Jesus und seiner Mutter von einem dogmatischen Standpunkt aus ein in Zeit und Raum gut definiertes Christentum auch verurteilen, bestätigt diese Gesamtheit durch den Messias, das Wort und den Geist Gottes die Spiritualität, die der Koran einrichten will. In seinem Wunsch, mit dem arabischen Heidentum und jeder Form eines antropomorphen Wiederaufflackerns des Gottesbegriffs zu brechen, führt der Koran eine Spiritualität ein, in der der Mensch nur vor einem allgegenwärtigen Gott Wert besitzt, von dem er alles akzeptiert. Zwischen diesen beiden Pfeilern muß die Position des Koran zu Jesus angesiedelt werden. Er ist präsent, wenn es darum geht, die junge muslimische Gemeinschaft in der Einzigkeit Gottes zu bestärken. Aber die absolute Transzendenz Gottes (tanzîh) muß kompatibel sein mit einer Spiritualität, die den Gläubigen dazu bringt, den Sinn der Ewigkeit zu leben.
Im Koran wird Jesus dazu gebraucht, diese Dimension einzurichten, in der sich der Sinn der Ewigkeit an die Pflichten des Augenblicks annähert. Die koranische Lehre konnte sich vor allem deshalb herausbilden, weil sie aus dem gemeinsamen Fonds der monotheistischen Religionskenntnis schöpfte und sich an den großen Figuren inspirierte, um deren Geist und besonderem Schicksal zu folgen. Und so kommt es, daß die Teilhabe Jesu an einem muslimischen Bewußtsein unleugbar ist: aber diese wird sich im Sinn des Gleichgewichts zwischen transzendenter Einzigkeit und Nähe erfüllen, zwischen Transzendenz und Vertiefung des göttlichen Hauches, der im Menschen ist.
An diesem Punkt ist es notwendig, daran zu erinnern, daß, im Unterschied zum Christentum, das in eine monotheistische Tradition eingeschrieben war und diese bereichert und vermenschlicht, der Koran ein neues religiöses Bewußtsein aufbauen mußte, und zwar sowohl vom dogmatischen als auch vom spirituellen Standpunkt aus.
Was sein Ideal, die Hoffnung, angeht, bildet es die Synthese der beiden Grundlagen des religiösen Bewußtseins: Die Einzigkeit und die Nähe. Aus dieser Hoffnung, die den Gläubigen der Barmherzigkeit Gottes aussetzt, wird der Friede der muslimischen Seele geboren, der auf die unveränderliche Großzügigkeit Gottes vertraut. Und gerade aus diesem Grund will der Koran von der Kreuzigung Jesu nichts wissen. Das soll nicht heißen, daß das Kreuz einer zutiefst schätzenswerten Spiritualität und einem zutiefst schätzenswerten Glauben kein Leben geben kann. Aber dafür muß man die Gesamtheit der Glauben, der Geschichte und vor allem des Ideals ändern.
Wenn die islamische Sicht des Christentums auch ihre eigene Lehre zu Christus enthält, zu seiner Sendung und seiner eschatologischen Rolle, um den in der Menschheitsgeschichte enthaltenen Zyklus zum Abschluß zu bringen, so steht außer Zweifel, daß der Koran Jesus vor allem in der Spiritualität integriert, die er annimmt und in der Ethik, der er Gestalt verleihen will. Es stimmt zwar, daß in der Evolution der von alten und neuen politischen Konflikten auf eine harte Probe gestellten muslimischen Mentalität die Gestalt Jesu, so wie sie vom Koran definiert wurde, eine Reihe ihrer emblematischen Züge verloren hat. Der historische, vor allem der mittelalterliche Islam hat die islamische Anschauung nicht erläutert, sondern sie in einigen ihrer wichtigsten Aspekte verzerrt. Und das betraf nicht nur die Lehre Jesu, sondern manchmal auch sein eigenes Ideal und seine Weltanschauung.
Was Jesus betrifft ist festzuhalten, daß die deutlichste der Verschlechterungen der ursprünglichen muslmischen Vorstellung sowohl die Dynamik im Innern des Monotheismus betrifft und ihre anders ausgedrückte Spiritualität, wie auch ihre Vorstellung vom Menschen und von Gott. Zwischen einer auf einer einheitlichen Sicht der Geschichte der Menschheit basierenden globalen Interpretation des Koran und dem historischen Werk muslimischer Araber lassen sich frühe und zerstörerische Divergenzen ausmachen. Aber das hindert uns nicht daran zu sagen, daß das Zeugnis Jesu in der muslimischen Gemeinschaft und ihrer Zukunft gut verankert ist, im Bezug auf und trotz jeglicher Abweichung. Die Präsenz Jesu ist eine Flamme und ein Sinn: ist die Barmherzigkeit, die die Kräfte des Individuums vereint, der Gemeinschaft und der Menschheit. Sein grundlegendes Faktum ist es, den Menschen verantwortlich zu machen, ihn in die Lage zu versetzen, Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein. Diese Stellvertreterschaft kann nur durch den Glauben und das Bewußtsein einer jeden Epoche und eines jeden Landes umgesetzt werden. Auf dieser Basis ist das Zeugnis Jesu für die Gesamtheit der Gläubigen (Muslime) aktuell und unfehlbar. Es betrachtet sie als ständige Bewerkstelliger der Zivilisation, dank der Umwandlung der Anbetung in eine lebendige, auf die Realität hin offene Kraft, die sie reformiert, konstruiert und unendlich weiter entwickelt.
Abschließend kann man festhalten, daß wenn uns die Gestalt Jesu im Koran auch auf dogmatischer, spiritueller und ethischer Ebene auf den Plan ruft, das nicht bedeutet, daß sein Beitrag heute nicht unter dem Gesichtspunkt der interreligiösen Beziehungen gesehen werden kann. Er wirft nämlich die Frage nach dem anderen in den modernen Religionssystemen auf: inwiefern kommt das Wort Gottes durch die von der Zeit konditionierte menschliche Sprachen beim Menschen an? Für die Muslime und die Christen hat Veränderung auf dieser Ebene für die Zukunft der Menschheit bemerkenswerte Folgen. Ich selbst verweise gern auf einen Ausspruch eines modernen muslimischen Denkers, Kamal Hussain, der es meiner Meinung nach verstanden hat, das Problem des anderen und zugleich das Problem Jesu im Islam zu stellen. Für diejenigen, welche in der heutigen Welt auf der Suche sind nach Gott und glauben, daß der von Gott inspirierte und deutlich offene Mensch ein sicherer Garant für das Überleben der menschlichen Spezies ist, schreibt er: „Wenn du tief in deinem Innern nicht spürst, daß du von deiner Liebe zu Gott und von deiner Liebe zu den Menschen, die Gott liebt, zum Guten berufen bist; wenn du meinst, daß die Menschen zu meiden ein Verbrechen ist gegen Gott [shirk] in seiner Einzigkeit, weil Gott, der sie liebt, auch dich liebt; wenn du meinst, daß du deine Liebe für Gott verlierst, wenn du deinen Freunden Schaden zufügst, die alle Menschen sind, dann bist du mit Jesus, ganz gleich, welcher Religion du auch angehören magst. Wenn du unter denen bist, die von der Hoffnung, die sie in Gott setzen, zum Guten getrieben werden, vom Wunsch nach einer größeren Belohnung und nicht enden wollender Freude, wenn du danach strebst, Gott nahe zu sein, der dir die ewige Glückseligkeit garantiert, dann bist du mit dem Islam, ganz gleich, welcher Religion du auch angehören magst.
Diese Konzeption führt uns zu folgender Schlußfolgerung: auf der einen Seite postuliert sie eine Annäherung an die Offenbarung, ausgehend von der Vielfältigkeit der Bedeutungen und der Untersuchungsebenen. Auf der anderen Seite legt sie fest, daß nur der Dialog den modernen Menschen retten kann. Das bringt uns dazu zu sagen, daß man die Unterschiede zwischen Christentum und Islam nicht bagatellisieren muß, es aber auch wichtig ist, daran zu erinnern, daß die sie verbindenden Elemente über die sie trennenden überwiegen. Der interreligiöse Dialog bleibt das beste Mittel dafür, einen Zusammenprall der Gläubigen zu verhindern zwischen der Überzeugung der Wahrheit ihrer Religion und der Anerkennung von anderen Wahrheiten, die von anderen vertreten werden, die nicht weniger ehrlich sind als sie selbst.
Zu diesem Schritt kann es kommen, wenn der Gläubige der auf der göttlichen Offenbarung gegründeten Sendung anhängt und sie vor allem als eine Veränderungsdynamik betrachtet und als Schaffung der Spezies, die beide sowohl im Dienst des Menschen als auch Gottes stehen.


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