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FAO-BERICHT
Aus Nr. 12 - 2003

Die Zahl der Hungernden wird bis zum Jahr 2015 nicht halbiert werden können.

Die Zahl der Hungernden halbieren? In 100 Jahren sprechen wir uns wieder


Der dramatische 2003er-UNO-Bericht über die unsichere Ernährungslage auf der Welt. 842 Millionen Menschen auf unserem Planeten leiden Hunger. Die Situation verschlechtert sich vor allem in Afrika zusehends. Ein positives Signal kam aus Maputo, wo die der Afrikanischen Union angehörenden Länder beschlossen haben, die Ankurbelung des weltweiten landwirtschaftlichen Entwicklungsprogramms voranzutreiben.


von Paolo Mattei


Kinder beim Verzehr der verteilten Nahrungsmittel im Sudan .

Kinder beim Verzehr der verteilten Nahrungsmittel im Sudan .

„Wenn es in diesem Tempo weitergeht, kann das Ziel erst im Jahr 2115 erreicht werden, also ein Jahrhundert später als vorgesehen.“ Besagtes Ziel ist die Halbierung der Zahl der Hungernden auf der Welt bis zum Jahr 2015; die Äußerung stammt von Jacques Diouf, Generaldirektor der FAO. So geschehen am 16. Oktober in Rom beim 23. Welternährungstag. Eine bittere Feststellung. 2015 wird also für die Hungernden auf der Welt ein Jahr sein wie alle anderen auch. Es steht inzwischen wohl fest, daß das – beim World Food Summit der FAO im Jahr 1996 gemachte und 2002 erneuerte – Versprechen, die Zahl der Hungernden bis zu jenem Datum zu halbieren, kaum eingehalten werden kann. Man wird sehr viel mehr Zeit brauchen, mindestens 100 Jahre mehr. Laut dem am 25. November angesichts der alle 32 Jahre stattfindenden FAO-Konferenz (abgehalten in Rom vom 29. November bis zum 10. Dezember) in Umlauf gebrachten Bericht über die Ernährungslage auf der Welt, sind 842 Millionen Menschen auf der Welt unterernährt. 798 davon leben in Entwicklungsländern, 34 Millionen in Schwellenländern und circa 10 Millionen in Industriestaaten. Die Zahl der Hungernden hat – nach einer kurzzeitigen Abnahme in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre (37 Millionen weniger) – im letzten Teil des Jahrtausends einen Anstieg von 18 Millionen erfahren. Besonders dramatisch gestaltet sich die Situation in den Ländern Zentral- und Westafrikas. Die Ursache dafür sind die dort ständig tobenden Kriege. Indien, dem es Anfang der Neunzigerjahre gelungen war, die Zahl seiner Hungernden um 20 Millionen zu reduzieren, mußte zwischen 1995 und 2001 hilflos mitansehen, wie dieser positive Trend zunichte gemacht wurde, da die Zahl der Hungernden um dieselbe Zahl wieder angewachsen ist. Und wenn in Asien, Lateinamerika, im Pazifikraum und in der Karibik auch eine allgemeine Verbesserung festgestellt werden konnte, so muß man auch festhalten, daß die Zahl der Hungernden im subsaharianischen Afrika und im Nahen Osten dagegen gestiegen ist. Und Schätzungen zufolge sterben auch weiterhin alle 7 Sekunden 11 Millionen Kinder unter fünf Jahren und ein Kind unter 10 Jahren den Hungertod. Im subsaharianischen Afrika (wo 33% der Bevölkerung Hunger leiden) sterben 170 von 1000 Neugeborenen, in Mittel-Nord-Asien 95. Diese Zahlen sind umso erschreckender, wenn man bedenkt, daß auf der Welt ausreichend Nahrung produziert wird. Und gerade die Primärerzeuger, die Bauern der Dritten Welt, die immer häufiger gezwungen sind, ihre Ernte nicht einzuholen, weil das gegen die Erfordernisse des globalisierten Marktes wäre, am meisten unter Armut und Hunger zu leiden haben. Wie meinte Johannes Paul II. in einer am 16. Oktober an Diouf gesandten Botschaft: „Das Abkommen von traditionellen Anbaumethoden, die entwickelt wurden, um den effektiven Ernährungs- und Gesundheitsbedingungen zu entsprechen, ist bei der einheimischen Bevölkerung einer der Hauptgründe für die wachsende Armut.“

ýber Diouf hat dennoch auch von Hoffnung gesprochen. Und zwar ganz besonders im Hinblick auf Afrika, wo die Staats- und Regierungschefs im Juli 2003, in Maputo, beschlossen haben, die Ankurbelung des globalen landwirtschaftlichen Entwicklungsprogramms voranzutreiben und die Verpflichtung eingegangen sind, wenigstens 10% der jeweiligen nationalen Ressourcen für die Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion zu verwenden. Ein gewisser Optimismus ist laut Diouf durchaus angebracht, auch angesichts anderer positiver Signale aus Brasilien, wo ein konkretes Programm gegen die Geißel der Unterernährung angelaufen ist: „Fome zero.“ Es handelt sich sicher um Ausnahmen, wie die 19 Länder Ausnahmen sind, die seit Anfang der Neunzigerjahre die Zahl der Hungernden reduziert haben; darunter auch China, wo es gelungen ist, fast 60 Millionen Menschen dem Teufelskreis des Hungers zu entreißen. Aber der Generalsekretär der FAO sieht das Problem in seinem ganzen Ausmaß – auch, was die derzeitige Fähigkeit der Welt angeht, ihre Bewohner zu ernähren. „Wenn alle dieses Jahr produzierten Nahrungsmittel unter allen Bewohnern unseres Planeten gerecht aufgeteilt worden wären,“ erklärt er, „hätten jedem Menschen wenigstens 2800 Kalorien am Tag geliefert werden können, was, verglichen mit dem Stand von vor 30 Jahren, einem Anstieg von 17% entspricht. Und das trotz des Umstands, daß die Weltbevölkerung im selben Zeitraum um 70% angestiegen ist.“ Diouf liegt also daran, den positiven Aspekt der dramatische Situation herauszustellen, ohne jedoch zu vergessen, an die Notwendigkeit der Umsetzung eines effizienten Systems für die Verteilung der – offensichtlich für alle ausreichend vorhandenen – Ressourcen zu erinnern.
Es ist ja inzwischen klar, daß es sich um eine Aufgabe handelt, die die Staaten nicht alleine erfüllen können. Und es ist auch klar, daß nicht einmal ein zügelloser Markt, vor dem Hintergrund der derzeitigen Perspektive einer absoluten Bewegungsfreiheit der Waren, die notwendige Durchschlagskraft besitzt, den Teufelskreis einer gerechten Verteilung der Reichtümer zu durchbrechen.
In dem Schlußbericht des World Food Summits „Five Years Later“ mit dem bezeichnenden Titel „Internationale Allianz gegen den Hunger“, in dem die 2001 von Johannes Rau lancierte Idee wiederaufgegriffen wurde, gaben die Staatschefs der Hoffnung Ausdruck, die „bürgerliche Gesellschaft“ miteinzubeziehen, deren Beitrag zum Kampf gegen das Drama der Unterernährung, unter Mithilfe der Politwelt, als überaus wichtig eingeschätzt wurde. Diese Hoffnung wurde auch am 16. Oktober beim Welternährungstag bekräftigt. Die Allianz – von Agrarproduzenten und Konsumenten, lokalen Regierungen und Organisatoren der Gemeinschaften, Wissenschaftlern, akademischer Welt, Religionsgruppen, NGOs, Politikern – muß, so Diouf, so schnell wie möglich in die Tat umgesetzt werden. Aber sie darf natürlich nicht an die Stelle der wirtschaftlichen Verpflichtungen treten, die die einzelnen Nationen der Welt gegenüber eingegangen sind. Verpflichtungen, die leider fast nie eingehalten wurden. So bleibt beispielsweise beim Auftreiben von Fonds für die Dritte Welt vieles zu wünschen übrig. Wenn die reichen Länder noch vor 10 Jahren 16 Millionen Dollar in die Landwirtschaft der armen Nationen investierten, werden heute dafür nur noch 9 Millionen Dollar aufgewendet, 40% weniger.
„Ich glaube auch angesichts dieser Daten nicht, daß die Politik vollkommen ohnmächtig ist,“ meinte Pater Giulio Albanese, ein Combonianer-Missionar und Direktor der gut informierten missionarischen Presseagentur Misna. „Im internationalen Panorama gibt es viele Politiker guten Willens. Leider stehen sie oft alleine da und schaffen es nicht, die Agenda ihrer Regierungen und Parlamente mit der Frage der Wirtschaftshilfen für die armen Länder in Einklang zu bringen. Daher beurteile ich die Initiative der internationalen Allianz gegen den Hunger als überaus positiv. Ich denke, daß es bei einem konstruktiven Dialog zwischen Politikern und Vertretern der bürgerlichen Gesellschaft möglich sein muß, Schritt für Schritt Strategien für ein gemeinsames Einschreiten zu entwickeln.“ Die nicht sehr ernst genommenen nationalen Initiativen können, so Pater Albanese, nur im Rahmen der Perspektive einer Neudefinierung der Regeln der Weltwirtschaft verstärkt werden: „Seit der Ära Nixon haben wir uns auf eine vollkommene Entregulierung der Wirtschaft zubewegt. Wir leben in einer Welt ohne Regeln, in einem vollkommen außer Rand und Band geratenen Markt, den niemand mehr unter Kontrolle bringt, nicht einmal die Magnaten der transnationalen Gesellschaft, ja, nicht einmal die Spekulanten. Es ist notwendig, die Normen neu zu formulieren, nicht nur, um den Hunger zu bekämpfen, sondern auch, um den Markt rationaler wieder in Schwung zu bringen. Ich sage das im Interesse des Unternehmertums. Wenn mehr als eine Milliarde Menschen nicht einmal einen Dollar am Tag verdienen, wer soll dann die Produkte kaufen?“. Der Direktor von Misna ist vollkommen einer Meinung mit dem Papst, der in der Botschaft an den Sekretär der FAO auch im „Fehlen der governance“ und dem „Voranschreiten ideologischer und politischer Systeme, die weit entfernt sind vom Gedanken der Solidarität“ die Verschlimmerung der sozioökonomischen Ungerechtigkeiten auf der Welt ausmacht.
ýsgr. Renato Volante, ständiger Beobachter des Hl. Stuhls bei der FAO, beim IFAD (Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung) und beim WFP (Welternährungsprogramm), ist mit den scharfen Kritiken am globalen Markt jedoch nicht einverstanden, mit denjenigen also, die hinter der wirtschaftlichen Globalisierung der Waren „einen Böses im Schilde führenden Kopf“ sehen, der strategisch darauf hinarbeitet, die Armen „übers Ohr zu hauen“, sich immer mehr am Allgemeingut zu bereichern: „Die Dinge liegen etwas komplizierter,“ gibt er 30Tage gegenüber zu verstehen. „Bei der Analyse des Problems der Unterernährung treten logistische Probleme zutage, wie der Transport der produzierten Waren oder klimatische Fragen. Am Horn von Afrika beispielsweise, besonders in Äthiopien, wurde Trockenheitsalarm gegeben, womit das Leben von Tausenden von Menschen bedroht ist. Im westlichen Teil Afrikas sind durch Kriege und soziale Unruhen viele nur schwer kontrollierbare Situationen entstanden. Es ist also nicht möglich, die Schuld für die Unfähigkeit, das Problem des Hungers in den Griff zu bekommen, nur dem fehlenden Willen der Landespolitik verschiedener Staaten in die Schuhe zu schieben, oder gar nur dem globalisierten Markt. Auch Msgr. Volante beurteilt die internationale Allianz gegen den Hunger als überaus positiv: „Für die Lösung dieser Probleme müssen sich nicht nur die verschiedenen Regierungen, stellvertretend für ihre Bürger, interessieren, sondern auch die NGOs, an die sich jeder Bürger auf freiwilliger Basis anschließen kann, unabhängig von seiner Nationalität.“
Die Initiative der FAO scheint überall von Erfolg gekrönt zu sein. Der Heilige Vater bekräftigte in seiner Botschaft an Diouf, daß „die Kirche, mit ihren verschiedenen Institutionen und Organisationen eine Rolle bei dieser weltweiten Allianz gegen den Hunger spielen will.“ Und in der Zwischenzeit hoffen die Armen des Planeten, daß es sich nicht um ein weiteres nicht erfülltes Versprechen handelt.


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