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CHRISTENTUM
Aus Nr. 12 - 2003

„Man bräuchte in der Kirche vielleicht einen Moment der Ruhe, um ein wenig Atem schöpfen zu können”


Interview mit Kardinal Godfried Danneels, Erzbischof von Mechelen-Brüssel, über eine mögliche Reform der Kirche.


von Gianni Valente


Godfried Danneels

Godfried Danneels

Reform und Gegenreform. Wie zu Zeiten Luthers und des Konzils von Trient. Oder besser, protestantische Reformation und katholische Reform, wie es von den Historikern herausgestellt wurde. Auch zu Zeiten des letzten Konzils war die Reform der Kirche eines der Ziele, das Paul VI. mit seiner Enzyklika Ecclesiam Suam und in der Ansprache zur Eröffnung der Zweiten Sitzung der Konzilsversammlung gegenüber ansprach. Vielleicht mit dreister Naivität, sicher aber auch, im Fall von Papst Montini, mit dem ehrlichen und innigen Wunsch, daß das Licht Christi seine Strahlen mit größerer Transparenz auf das Antlitz der Kirche werfen möge, um die Begegnung mit dem Menschen von heute zu erleichtern. In den vergangenen Jahrzehnten hat man nicht sehr von der Reform der Kirche gesprochen. Und auch die bedeutungsvollsten Anspielungen auf eine Reform, wie der von Johannes Paul II. in der Enzyklika Ut unum sint zu einer möglichen Revision der Primatsausübung, oder die von Kardinal Gantin in 30Tage vorgeschlagene zur Rückkehr der antiken Disziplin, nach der ein Bischof nicht in eine andere Diözese wechseln konnte, fielen auf taube Ohren. Und doch: wenn man dem Umstand Rechnung tragen würde, daß die Kirche für die Menschen ist und nicht die Menschen für die Kirche, würde man alles nur Mögliche tun wollen, auch mit Reformen von Gesetzen und Institutionen, um das christliche Leben für alle Gläubigen einfacher zu gestalten. Leichter, wie es Jesus, von seinem Joch sprechend, definierte.
Mit diesen Gefühlen im Herzen wollten wir uns mit Kardinal Godfried Danneels unterhalten, Erzbischof von Mechelen-Brüssel, der bekannt dafür ist, auch auf die heikelsten Journalisten-Fragen mit entwaffnender Offenheit zu antworten. Er hätte der einfachen Feststellung Congars mit uns gemeinsam sicher zugestimmt: „Die gelungenen Reformen in der Kirche sind jene, die für die konkreten Bedürfnisse der Seelen gemacht wurden.“
Im Dezember 1963 promulgierten die Väter des II. Vatikanischen Ökumenischen Konzils die Konstitution Sacrosanctum Concilium, das Dokument, an dem sich die Liturgiereform hätte inspirieren sollen. Was kommt Ihnen heute, vierzig Jahre später, dazu in den Sinn?
GODFRIED DANNEELS: Die Konstitution Sacrosanctum Concilium beginnt mit folgenden Worten: „Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel gesetzt, das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen“. Der Geist, von dem die Liturgiereform beseelt war, war der, die Riten einfacher zu gestalten. Eine Rückkehr zur antiken Tradition, die all jene Beifügungen wegnehmen sollte, die sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hatten, und die an sich zwar nicht abzulehnen waren, aber Gefahr liefen, die wesentliche Struktur des eucharistischen Opfers zu verschleiern.
Hat man das erreicht?
DANNEELS: Es war wichtig, die liturgische Feier durch die Einführung der Volkssprache für die einfachen Gläubigen zugänglich zu machen. Und das Glanzstück der ganzen Reform war dann das Lektionar. In der gesamten Kirchengeschichte haben wir nie ein so reichhaltiges Lektionar besessen. Ich würde schon sagen: zu reichhaltig. Jede Lesung kommt nur einmal alle drei Jahre dran. Und dann hat man sich noch sehr um die Anpassung der äußeren Formen bemüht: den Gesang, den Altar, die aktive Teilnahme der Gemeinschaft. Aber in vielen Fällen hat man das tiefe Geheimnis der Eucharistie, die Realpräsenz, das Opfer Christi, aus den Augen verloren. Die liturgische Feier ist schließlich kein Theaterstück.
Auf diesen Seiten, einige Aufnahmen von den Mosaiken der Kathedrale von Moreale

Auf diesen Seiten, einige Aufnahmen von den Mosaiken der Kathedrale von Moreale

Im vergangenen Jahr haben Sie in einem Gespräch mit den kanadischen Bischöfen lange über die wesentlichen Aspekte der Liturgie gesprochen.
DANNEELS: Die Liturgie ist auf uns ausgerichtetes Werk Gottes. Sie ist in ihrem Wesen ein datum, etwas, das von außen zu uns kommt und uns übersteigt. Aktives Subjekt der Liturgie ist der auferstandene Christus. Er ist der erste und einzige Priester, der einzige, der in der Lage ist, dem Vater den Kult zu erweisen und die Versammlung zu heiligen. Und das Herz der Liturgie ist in den vom Herrn gesetzten Einsetzungsgesten bereits gegeben. Gewisse liturgische Formen sind von Christus selbst bestimmt worden. Über diese wesentlichen data des Sakraments hat die Kirche selbst keinerlei Macht. Die Eucharistiefeier wird bis zum Ende der Jahrhunderte jenes Abendmahl sein, zu dem es damals, zu jenem Zeitpunkt, in Jerusalem kam, und das mit Brot und Wein gefeiert wurde. Das kann niemand ändern.
Bei dieser Gelegenheit haben Sie auch beschrieben, wovon die konkrete Umsetzung der Liturgiereform überschattet war.
DANNEELS: Das tritt dann ein, wenn diejenigen, welche im Dienst der Liturgie stehen sollten, dagegen deren Besitzer geworden zu sein scheinen. Das wahre Subjekt scheint nicht mehr Christus selbst zu sein, sondern die Person und die Gemeinschaft, die einen Ritus vollzieht, bei dem sie sich selbst feiert. Anstatt eine bereits gegebene Geste zu vollbringen, wird immer mehr herumgeredet, werden Instruktionen gegeben.
Vielleicht haben einige Ergebnisse der Liturgiereform dazu geführt, daß ein negatives Vorurteil gegen die in Vergessenheit geratene Kategorie der Reform selbst entstehen konnte.
DANNEELS: In der Kirche ist der Begriff der Reform ein klassischer Begriff. Ecclesia semper reformanda. Das war auch das Leitmotiv des Konzils. Ich glaube nicht, daß man davor Angst haben muß.
Es ist jedoch eine Tatsache, daß wer davon spricht, Gesetze und Strukturen der Kirche zu reformieren, oft als jemand hingestellt und zum Schweigen gebracht wird, der nur seine Zeit vergeudet, anstatt sich für die sogenannte Neuevangelisierung zu engagieren.
DANNEELS: Es gibt eine Art, darüber zu reden, die man sozusagen als „von Amts wegen“ bezeichnen könnte, so als hätte man nichts Besseres zu tun. Wie die römischen Senatoren, die sich am Ende des Imperiums in ihren Reden verloren, während die strategischen Zentren eines nach dem anderen fielen, und sie das nicht einmal bemerkten. Aber die Notwendigkeit, die Dinge zu ändern und zu reformieren, hängt mit der instrumentalen Natur der Kirche selbst zusammen.
Jesus und die Apostel, Detail der Heilung der Frau vom Blutfluß.

Jesus und die Apostel, Detail der Heilung der Frau vom Blutfluß.

In welchem Sinne? Erklären Sie uns das bitte näher.
DANNEELS: Die Kirche ist nicht für sich selbst. Sie besteht in der Gnade Christi und für Christus, um seinem Gebot zu gehorchen, die Menschen zu retten. Sie ist ein Werkzeug in den Händen Christi, der nicht mehr sichtbar in der Welt präsent ist. Und wenn Christus Werkzeug des Heils in den Händen des Vaters ist, kann die Kirche nichts anderes sein als ein Werkzeug des Werkzeugs. Kann verändert und reformiert werden, um seine Funktion besser zu erfüllen.
Ein weiterer Einwand ist der, daß man, wenn man sich darauf konzentriert, zweitrangige Dinge zu reformieren, letzten Endes das Wesentliche aus den Augen verliert.
DANNEELS: Die ganze Kirche, die Werkzeug ist, ist etwas Zweitrangiges, aber als Werkzeug Unerläßliches. Die Reform betrifft äußere Aspekte, zweitrangige, betrifft nicht die Seele, das Herz. Aber eine Seele ohne Leib existiert nicht, und wenn der Leib krank ist, leidet die Seele darunter.
Um die Wahrheit zu sagen, konnte das äußere Profil der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten stärker werden. Wie zu Beginn des Zweiten Jahrtausends, zur Zeit der gregorianischen Reform, hat man sich in den vergangenen Jahrzehnten dafür eingesetzt, die öffentliche Rolle der Kirche den weltlichen Einrichtungen gegenüber zu stärken.
DANNEELS: Darin sehe ich eigentlich eine Verweltlichung der Kirche. Auch wenn man für ihre Verteidigung kämpft, bewegt man sich doch auf einen weltlichen Horizont hin. Die Kirche als Gruppe, die politischen Druck ausübt, wie jede beliebige Lobby. Bei uns in Belgien wäre das überhaupt nicht vorstellbar. Wir haben keine politische Macht mehr, sind arm und ohne jeden Einfluß. Wir leben in einer Befindlichkeit, in der man sich nur dann dessen bewußt werden kann, daß wir stark sind, wenn wir eben schwach sind, wie schon Paulus sagte. Es ist eine Prekarität, die viele als unbequem empfinden würden. In Italien ist die Tendenz kirchlicher Gruppen, Rollen zu bekleiden, mit denen politischer Einfluß ausgeübt werden kann, wie ich das sehe, stark ausgeprägt.
Rettung des Petrus aus dem Wasser, Detail.

Rettung des Petrus aus dem Wasser, Detail.

Welches ist dann also das Kriterium für eine wahre Kirchenreform?
DANNEELS: Das Kriterium kann nichts anderes sein als das Seelenheil. Salus animarum suprema lex. Es ist das verbindliche, normative Kriterium, das jede Veränderung beurteilen müsste, auch in der Art und Weise, die potestas in der Kirche auszuüben: das christliche Leben vertiefen und das Heil aller Gläubigen, wie es am Anfang der Sacrosanctum Concilium heißt. Wenn Kriterium ist, das christliche Leben der Gläubigen zu vertiefen, respektiert man jene Bedingungen einer wahren Reform, die Yves Congar in seinem Buch Wahre und falsche Reform in der Kirche aufgezeigt hat, und die immer gut sind.
Was meinen Sie damit?
DANNEELS: Beispielsweise den Umstand, daß die Befindlichkeit einer wahren Reform die Geduld ist, ein gewisser geduldiger Sinn der Zeit, aus dem sich die Kirche nicht durch Revolutionen, sondern durch organische Prozesse reformiert. Es gibt keine brüsken und gewalttätigen Wenden, es gibt keine Risse.
Lassen Sie uns nach dem Kriterium der salus animarum einige mögliche Perspektiven der Reform betrachten. Ausgehend von den getauften Laien. Wenn man in der Kirche von Laien spricht, meint man fast automatisch die Zugehörigen zu organisierten Bewegungen.
DANNEELS: Ich habe nichts gegen die Bewegungen, aber man muß sich einer Sache bewußt sein, nämlich der, daß die Charismen vorbeigehen. Vielleicht würde dieses Bewußtsein ausreichen, um in der Demut zu bleiben und zu vermeiden, sich in sich selbst zurückzuziehen. Und wer die Gabe eines Charismas hat, weiß das schließlich selbst nicht, ist sich dessen nicht bewußt. Die anderen in der Kirche sind sich dessen bewußt, und er ist nicht immer unbedingt sehr froh über diese Anerkennung.
Manchmal erscheinen die organisierten Laien als Militante, die sich darum bemühen, die öffentliche Rolle der Kirche in den entchristlichten Gesellschaften zu bekräftigen. Überzeugt sie dieses Profil?
DANNEELS: Aufgabe der Laien kann es in besonderen Situationen sein, sich zu organisieren, um mit gewissen Aktionen Druck auszuüben im Bereich der Kultur, der Politik, der Wirtschaft. Warum aber sollte man alle Laien unbedingt als Militante hinstellen? Das Konzept der Militanz ist als solches an außergewöhnliche Situationen gebunden. Während der Laie einfach nur ein Gläubiger ist, der in der Welt lebt, also unter gewöhnlichen Bedingungen wie der Familie, der Arbeit, den Dingen des täglichen Lebens. Um dort, in den Gegebenheiten des täglichen Lebens, wie es in Lumen gentium heißt, Christus sichtbar zu machen durch den Glanz des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.
Kommen wir zum Weihepriestertum. Sie haben Ihren letzten Beitrag bei der Synode begonnen, indem Sie vom Glück des Bischofs sprachen und von den vielen Dingen, die Ihr salus animarum bedrohen...
DANNEELS: Im Vergleich zu den Bischöfen von vor nur dreißig oder vierzig Jahren finde ich, daß unser Leben heute sehr stressig geworden ist. Wenn man sagen hört, daß der Bischof der erste Liturge, der erste Evangelisierer sein muß, der erste Katechet, der erste Freund der ...Armen, der erste Ökumenist, der erste Meister der Soziallehre, der erste Verantwortliche des interreligiösen Dialogs und des geweihten Lebens seiner Diözese... Da haben wir es mit einer derartigen Konzentration von Primaten zu tun, daß man letzten Endes nicht mehr die Möglichkeit hat, die tagtägliche Arbeit zu verrichten. Weil es so ist, wie im Staat. Wenn alle Aufgaben auf eine Person konzentriert sind, dann kann man am Ende nichts anderes tun, als auf seinem Thron sitzen zu bleiben, weil da zuviel Arbeit ist, die nicht erledigt werden kann. Mir kommt da immer Gregor der Große in den Sinn, der sich nach seinem Mönchsleben sehnte, als er mit einem unnötigen Schwall von Worten noch nichts zu tun hatte. Oder den hl. Bernhard, der den Priestern und Bischöfen ans Herz legte: „Habt Erbarmen mit unseren Seelen.“
Die Begegnung zwischen Petrus und Paulus.

Die Begegnung zwischen Petrus und Paulus.

Also keine Art Superpriester oder Superbischof...
DANNEELS: Das führt dann soweit, daß wir darauf vergessen, daß all unsere priesterlichen und bischöflichen Titel in proprio nur Christus, und Ihm allein, zugehören, und wir nur per Analogie daran teilnehmen. Vielleicht bedarf es eines neuen Briefes an die Hebräer, um uns daran zu gemahnen, daß Christus der einzige Priester ist. Und daß das Geheimnis unserer Freude ganz in dem unentgeltlichen Geschenk liegt, das, was wir tun, in persona Christi tun zu können.
Und wie beurteilen Sie die Versetzung eines Bischofs von einem Sitz auf einen anderen? Eine Praxis, die zur Gewohnheit geworden ist...
DANNEELS: Ich bin ein schlechtes Beispiel, ich wurde schon dreimal versetzt. Es ist ja kein Verbrechen, aber es ist ganz gewiß keine ideale Praxis. Weil sie die stabile, ordentliche Beziehung zwischen dem Bischof und seiner Diözese verdunkelt. Und es scheint mir nicht akzeptabel, daß jemand auf einen Sitz zum Bischof ernannt wird, nur um Erfahrungen zu sammeln, als Praktikum sozusagen, für einen größeren Bischofssitz. All das funktionalisiert den Episkopat. Die Bischöfe sind die Nachfolger der Apostel, und keine Vor-Ort-Funktionäre eines multinationalen Unternehmens. Und ihre Ernennung erfolgt zum Vorteil und zum spirituellen Wohl der Gläubigen, zu denen sie gesandt werden. Das ist das Kriterium, von dem alles geleitet wird.
Sie haben bereits bei anderer Gelegenheit darauf hingewiesen, daß die Beziehung zu den zentralen Organismen der Kirche für die Ortsbischöfe eine Last sein kann.
DANNEELS: Wir haben da diesen ständigen stream of paper, diesen nicht enden wollenden Papierfluss... Wir werden jeden Tag mit endlos langen Dokumenten überschwemmt, Instruktionen, vademecum. Ein wahrer Regen von Erklärungen, die, da sie von römischen Dikasterien kommen, immer den Charakter namhafter, normativer Anweisungen haben, ohne daß da eine Koordinierung wäre, um aufzuzeigen, was wichtig, und was weniger wichtig ist. Und der Ortsbischof muß dann einen Großteil seiner Zeit in seiner Diözese verbringen, als Weiterleiter dieser inputs, die vom Vatikan oder den bischöflichen Organismen kommen. Vielleicht bräuchte man auf allen Ebenen ein Moratorium, um eine Vereinfachung herbeizuführen. Vielleicht bräuchte man in der Kirche einen Moment der Ruhe, um ein bisschen Atem holen zu können.
Die Debatte über die Kollegialität wird oft an der weltlichen Kategorie der Demokratie angelehnt interpretiert.
DANNEELS: Die Kollegialität ist keine Frage der Mächte-Ausgewogenheit. Sie hat göttlichen Wert. Hat mit der Natur der Kirche zu tun. Ich habe bereits gesagt, daß wir einen starken Nachfolger Petri, einen starken Episkopat brauchen. Es geht nicht darum, den Einfluß des Papstes oder den der anderen Bischöfe zu schmälern, zu Lasten des einen oder anderen. Diese Ausgewogenheit wird jedenfalls nie eine Selbstverständlichkeit sein, die mit Geduld zu erwarten ist. Ich glaube nämlich, daß wir das Problem der Kollegialität erst nach der Rückkehr Christi lösen können werden.
Der ein oder andere verlangt, daß auf das Leben der Kirche das Subsidiaritätsprinzip angewandt wird. Einige kürzlich abgegebene vatikanische Erklärungen scheinen diese Debatte dagegen beendet zu haben. Welche praktische Anwendung könnte es Ihrer Meinung nach für dieses Prinzip geben?
DANNEELS: Im weiteren Sinne setzt sich die Subsidiarität bereits in den auf die verschiedenen Situationen angepaßten Pastoralplänen um. Es gibt Zeiten, in denen es in der Kirche sinnvoll ist, zu zentralisieren und dann wieder andere, in denen, nach dem Kriterium der necessitas Ecclesiae die Entscheidungen dezentralisiert werden müssen. Es geht jedoch darum, elastische Entscheidungen zu treffen, die stets zeitweilig sind. Man kann nicht den Anspruch stellen, auch das in irgendeiner kanonischen Regelung festzulegen, die die kommenden drei Jahrtausende aufrechterhalten werden muß.
åie haben bereits an anderer Stelle Ihre Vorbehalte gegen die ein wenig „selbstbeweihräuchernden“ Aspekte gewisser jüngster, in Rom abgehaltener Versammlungen von Kardinälen und Bischöfen – einschließlich der Synoden – geäußert.
DANNEELS: Ich denke, daß der Synoden-Mechanismus nach dreißig Jahren neu angepaßt werden sollte. Die Synoden sollten Stätten eines wahren Dialogs sein, wo eine freie, verantwortungsvolle Diskussion möglich ist, im Respekt der Vorrechte des Papstes, aber ohne Komplexe.
Apropos Papst: nicht selten wurde auf den „Papst im großen Stil“ hingewiesen, von dem die jüngste Jahreszeit in der Kirche geprägt war.
DANNEELS: Der Umstand, daß der Papst eine so überragende Figur in der Kirche geworden ist, hat mehrere Gründe. Zunächst einmal den, daß er wirklich ein Mensch mit sehr viel Charisma ist, der alle Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Er ist ein körperlich, geistig und moralisch athletischer Mensch. Hat die Gabe, leicht Kontakt zu anderen aufzubauen. Und da ist es dann gar nicht so überraschend, daß er eine so überragende Rolle in der Vorstellung, die die Welt von der Kirche hat, spielen konnte. Auch weil der von den Medien gebrauchte Mechanismus, vor allem des Fernsehens, das Zoomen ist. Man nimmt ein Detail, eine Persönlichkeit, aus dem Kontext heraus und konzentriert seine ganze Aufmerksamkeit darauf. Dasselbe geschieht auch mit den Kardinälen, oder den politischen Leaders. Und das ist nicht nur eine Kamera-Technik, sondern inzwischen eine Deformation der Mentalität des modernen Menschen geworden.
Die Personalisierung des Petrusamtes im charismatischen Sinne bringt jedenfalls problematische Entwicklungen mit sich.
DANNEELS: Ich habe viel darüber nachgedacht, wie es nur möglich ist, die von der Kirche empfangene Rolle und die Person, die diese Rolle eine Zeitlang spielt, zu unterscheiden. Das ist nicht einfach, weil das Amt des Nachfolgers Petri, wie eines beliebigen Bischofs, kein Gewand ist, das man anzieht und wieder auszieht. Es ist nicht so, wie wenn man Präsident von Agip wird, Philips oder Sony. Die Verantwortung in der Kirche ist eine persönliche, eine, die unter die Haut geht. Gewiß, die vollkommene Identifizierung der Rolle mit der Persönlichkeit dessen, der sie spielt, ist keine gute Sache. Aber ich denke, daß es in der aktuellen Konfiguration der Kirche nur ein Gegenmittel gibt...
Welches?
DANNEELS: Die Demut der Person selbst. Oder doch zumindest eine gewisse Gelassenheit, eine Haltung, die zeigt, daß man sich selbst nicht zu wichtig, zu ernst nimmt. Ein bisschen wie Johannes XXIII., der wenn er einen Text las, den andere für ihn geschrieben hatten, dann und wann kommentierte: „Das taugt nichts, so hätte ich das auch selbst schreiben können.“
Die persönlichen und subjektiven Faktoren sind jedoch Teil der Form geworden, die das Petrusamt im zweiten christlichen Jahrtausend annimmt. Viele sind der Meinung, daß das Image des Papstes als eine Art Superbischof, dessen Diözese die gesamte Welt umfasst, korrigiert werden müßte.
DANNEELS: Was man nicht ändern kann, ist der Wille Christi im Bezug auf die Kirche, bzw., daß der Papst der Nachfolger Petri ist und den Primat innehat. Die historische Ausübung des Primats ereignete sich dann in verschiedenen Formen. Im zweiten Jahrtausend kam es zu einem Zentralisierungsprozess, in dem die Kirche auch vom Modell der sich herausbildenden nationalen Monarchien beeinflusst wurde. Was im dritten Jahrtausend passieren wird, kann man nicht programmieren. Aber ein gewisses „Auf-die-Bremse-Treten“ könnte durchaus wünschenswert sein. Den Akzent auf die wesentlichen Züge des Petrusamtes legen.
Welche dieser wesentlichen Züge könnten in der derzeitigen Situation herausgestellt werden?
DANNEELS: Der Papst ist vor allem der Bischof von Rom. Er übt seinen Primat aus und bleibt dabei Bischof seiner Diözese. Und der derzeitige Papst hat dem alle Ehre getan, fast alle Pfarreien Roms besucht, wie es kein anderer Papst getan hatte. Gewiß, die mit den großen Fragen der universalen Kirche verbundenen Verpflichtungen gestalten es schwierig, sich um die alltäglichen Dinge der eigene Diözese zu kümmern. Aber das könnte ein Schlüssel sein, der im dritten Jahrtausend in neuen Formen wiederentdeckt werden muß. Das Prestige des Papstes sollte sozusagen ein Prestige innerer Kraft sein, nicht so sehr ein auf den Apparat aufbauendes.
In dieser Perspektive erscheint auch die Möglichkeit, daß zukünftige Päpste zurücktreten könnten, nicht skandalös. Sie haben mehrfach davon gesprochen...
DANNEELS: Es geht nicht darum, eine Regel wie die aufzustellen, nach der die Bischöfe mit 75 Jahren in Pension geschickt werden. Und man darf auch keinerlei Druck auf den Papst ausüben. Alles muß seiner Freiheit überlassen bleiben, der intimen Beziehung zwischen seinem Gewissen und Gott. Wir können nicht wissen, was im Herzen von jemandem vorgeht, der eine schwere Verantwortung trägt. Aber es kann passieren, daß im Zuge der steigenden Lebenserwartung auch die Päpste der Zukunft 100 Jahre alt werden könnten. Es wäre dann nichts Merkwürdiges daran, wenn der ein oder andere von ihnen sagen würde: Ich bin alt und krank, es ist Zeit, daß ich mich zurückziehe. Das hat es in der Kirche schon gegeben, wird auch vom Kirchenrecht vorgesehen. Es wäre eine Eventualität, in der ganz einfach und ohne irgendwelchen Zwang die Unterscheidung zwischen der Rolle des Papstes und der Person, die diese pro tempore innehat, zutage treten würde, wovon ich vorhin schon gesprochen habe.
In einem Ihrer Beiträge bin ich auf einen Begriff gestoßen, der meine Neugier geweckt hat: Sie sagen, daß zwei Dinge dem Priester und dem Bischof bei der Ausübung ihrer Arbeit hilfreich sein können: das Bewusstsein, arme Sünder zu sein, und die apostolische thlipsis (ylîciw). Was ist die thlipsis?
DANNEELS: Paulus spricht von den Leiden des Apostolats. Zu Anfang seiner Sendung dachte Paulus immer dann, wenn etwas nicht gelang oder schief lief, daß es seine Schuld wäre. Und versuchte dann immer sofort, es wieder gutzumachen, wieder auszubügeln, indem er vielleicht in eine andere Stadt predigen ging. Dann, mit der Zeit, erkannte er, daß es Dinge gibt, die einfach nicht gelingen wollen, und das nicht wegen der eigenen Limits, sondern als ein Geheimnis der Teilhabe am Leiden Christi, das ohne sein Verschulden war. In den Leiden des Apostolats liegt ein unerklärliches Geheimnis, der Gleichgestaltung mit dem Leiden Jesu. „Oderunt me gratis,“ heißt es im Psalm. Sie haben mich ohne Grund gehaßt. Sie hatten keinen, nicht den geringsten Grund, Jesus zu hassen. Auch ich habe, wie viele Priester und Bischöfe, eine ähnliche Erfahrung gemacht wie Paulus. Zu Anfang denkt man, wenn etwas nicht funktioniert: das hätte ich anders machen sollen, ich habe mich nicht genug auf die Arbeit vorbereitet. Und am Ende sieht man dann, daß man mit den eigenen Limits und Sünden, wenn sie auch ihre Auswirkungen haben, doch nicht alles erklären kann. Nichts ist automatisch, nichts versteht sich von selbst. Und ebenso glaube ich auch, daß selbst wenn wir vom Papst bis zum letzten Gläubigen alle heilig wären, wenn unser Zeugnis klar und unsere Sendung verdienstvoll wäre, das noch lange nicht bedeuten würde, daß sich die Leute vor den Türen unserer Kirche drängeln würden, um Einlaß zu bekommen. Vielleicht würden sie uns mehr hassen. So wie sie auch ihn gehasst haben, ohne Grund.


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