Startseite > Archiv > 04 - 2003 > Reinhold Niebuhr und der politische Realismus des Augustinus
DEBATTE
Aus Nr. 04 - 2003

Reinhold Niebuhr und der politische Realismus des Augustinus


In Teologia protestante americana schrieb Luigi Giussani: „Bei Niebuhr treten die wichtigsten Prinzipien der amerikanischen protestantischen theologischen Thematik in einer vollkommen neuen, ausgewogenen Synthese zutage. Bedeutsamerweise ist er der Entmythisierer des Gedankens, daß Amerika der Ort ist, an dem sich das Reich Gottes manifestiert. Ein Gedanke, der in verschiedenen Nuancen und Weisen den Geist der gesamten amerikanischen Geschichte durchzogen hat.“


von Gianni Dessi


Reinhold Niebuhr

Reinhold Niebuhr

In dem Artikel Bush e il destino manifesto (la Stampa, 9. März 2003) hat Barbara Spinelli eine apokalyptische Religiosität (jenes Element, das diesem Krieg jenen Sinn der Unausweichlichkeit verleiht, der ihn charakterisiert), zu deren Vertreter sich Bush gemacht hat, dem christlichen Realismus gegenübergestellt, der ebenfalls schon von jeher in der religiösen und politischen Kultur der USA vorhanden ist. Der namhafteste Vertreter letztere Position war, wie Barbara Spinelli betonte, Reinhold Niebuhr, der einflussreichste religiöse Denker in der amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts. In Italien weiß man über diesen protestantischen Pastor, der in Amerika mit seinem Buch Moral man and immoral society (1932) auf sich aufmerksam gemacht hatte, recht wenig. Darin bezieht sich Niebuhr auf Augustinus und bekräftigt, daß der Weltstaat unweigerlich von gegensätzlichen Interessen geprägt war und daß der Anspruch, diese Komplexität definitiv lösen zu wollen zu einer „schlechten Religion“ und zu einer „schlechten Politik“ führte.
Laut Luigi Giussani, der ihm in den Siebzigerjahren verschiedene Texte widmete, „treten bei Niebuhr die wichtigsten Prinzipien der amerikanischen protestantischen theologischen Thematik in einer vollkommen neuen, ausgewogenen Synthese zutage.... Bedeutsamerweise ist er der Entmythisierer des Gedankens, daß Amerika der Ort ist, an dem sich das Reich Gottes manifestiert. Ein Gedanke, der in verschiedenen Nuancen und Weisen den Geist der gesamten amerikanischen Geschichte durchzogen hat“1. Niebuhr konfrontierte sich ausdrücklich mit jenem überaus komplexen Element, dessen Ursprung gerade in der entscheidenden Funktion liegt, die die Religiosität von Anfang an in der amerikanischen Geschichte gespielt hat. In einem Buch aus dem Jahr 1958, Pious and Secular America analysierte er diese Frage ausgehend von der Feststellung, daß „wir im 20. Jahrhundert die religiöseste, aber gleichzeitig auch die säkularisierteste Nation der westlichen Welt sind.“2
Die Prämissen für diese Aussage gehen jedoch auf frühere Zeit zurück. Im Jahr 1953 veröffentlichte er – nachdem er von einer politisch dem Sozialismus nahestehenden Position zu einer entschiedenen Kritik des Kommunismus übergegangen war – The political realism of Augustine. Einen langen Essay, in dem sich der protestantische Theologe eingehend mit dem katholischen Heiligen auseinandersetzte und gesteht, daß dieser seinen eigenen intellektuellen Werdegang maßgeblich beeinflusst hat. In einem Interview des Jahres 1956 bekräftigte er: „Wenn ich so über mein Leben nachdenke, überrascht es mich festzustellen, wie spät ich damit begonnen habe, mich intensiv mit Augustinus auseinanderzusetzen: schließlich ist das noch überraschender, wenn man bedenkt, daß das Denken dieses Theologen eine Antwort auf viele meiner noch ungelösten Fragen haben und mich definitiv von der Überzeugung freimachen sollte, daß der christliche Glaube irgendwie mit dem moralischen Idealismus des vergangenen Jahrhunderts identisch sei“3.
Der Essay über Augustinus beginnt mit dem Versuch, den politischen Realismus zu definieren: Niebuhr schlägt vor, daß im Bereich der Politik „Realismus auf die Disposition hinweist, alle Faktoren in Betracht zu ziehen – vor allem die Faktoren persönlichen Interesses und der Macht –, die in einer gegebenen politischen und sozialen Situation Widerstand gegen die festgesetzten Normen leisten.“ Gerade in diesem Sinne „war Augustinus, was universal anerkannt ist, der erste große Realist der westlichen Geschichte“4. Er hat es nämlich – so Niebuhr – verstanden, die Spannungen und Konflikte, die jede menschliche Gemeinschaft prägen, gebührend in Betracht zu ziehen. Der springende Punkt, der ihm einen solchen Ansatz ermöglichte, war die Konzeption von der menschlichen Natur, die diejenige der biblischen Überlieferung und des Christentums ist. Niebuhr erinnert daran, wie „dieser Unterschied zwischen dem Gesichtspunkt des Augustinus und dem der klassischen Philosophen nicht so sehr in der rationellen, sondern der biblischen Vorstellung liegt, die Augustinus von der menschlichen Subjektivität hatte und der damit verbundenen Vorstellung, daß sich der Sitz des Bösen im Ich befindet“5. Die Vorstellung vom Bösen als Folge des falschen Gebrauchs der Freiheit, also als Folge der Erbsünde, hat Augustinus – so Niebuhr – in die Lage versetzt, die Realität der Politik in ihrer Effektivität zu verstehen. Die augustinische Beschreibung des Weltstaates, der von unlösbaren Konflikten gekennzeichnet ist, von gegensätzlichen Interessen in Mitleidenschaft gezogen wird, unfähig, wirkliche Gerechtigkeit und dauerhaften Frieden zu garantieren, kann der protestantische Theologe nur voll und ganz teilen. Er schreibt, daß „verglichen mit einem auf Augustinus´ Interpretation des biblischen Glaubens basierenden christlichen Realismus ein Großteil der modernen sozialen und psychologischen Theorien, die sich für antiplatonisch oder auch antiaristotelisch Šalten und sich ihres vermeintlichen Realismus´ rühmen, in Wahrheit nicht realistischer sind als die Theorien der klassischen Philosophen“6.
Er betont jedoch einen anderen Aspekt des augustinischen Realismus, der mit dem Gedanken zusammenhängt, daß der Gottesstaat, in dieser Welt, während der gesamten Dauer seiner Wanderung, mit dem Weltstaat verbunden und vermischt ist. Es ist eine Tatsache, daß der Realismus des Augustinus kein Realismus ist, der zu einer bedingungslosen Gutheißung der Macht führt. Ausgehend von den verschiedenen Positionen von Luther und Hobbes, deren Meinung über die menschliche Natur pessimistisch ausfällt und die beide meinen, die Gesellschaft dürfe nicht ständig Konflikten und Anarchie ausgesetzt sein, schreibt Niebuhr, daß der „pessimistische Realismus sowohl Hobbes als auch Luther zu einer inakzeptablen Gutheißung des Machtstaates führte: doch nur, weil sie nicht realistisch genug waren“7. Sie haben versucht, die Gefahr der Anarchie zu vermeiden, aber „nicht die Gefahr der Tyrannei wahrgenommen, die mit dem Egoismus der Regierenden gegeben ist. Und deshalb haben sie auch die folgliche Notwendigkeit nicht erkannt, den Willen der Regierenden Kontrollen zu unterwerfen“8.
George W. Bush und sein Staff beim Gebet. Jede Versammlung der US-Regierung beginnt mit einem Gebet.

George W. Bush und sein Staff beim Gebet. Jede Versammlung der US-Regierung beginnt mit einem Gebet.

Niebuhr kritisiert also den politischen Realismus, der im Namen der Verderbtheit oder Schlechtigkeit der menschlichen Natur auf die Notwendigkeit der Macht pocht, ohne dabei jedoch zu bedenken, daß diejenigen, die das Ruder der Macht in der Hand halten, ebenso korrupt und schlecht sind wie alle anderen auch. Die Notwendigkeit einer Kontrolle der Macht und die Option Niebuhrs für die Demokratie werden gerade aus diesem radikalen Realismus geboren, der allen Menschen die Fähigkeit, gut oder böse zu sein, zuerkennt. Die Kontrolle der Macht stellt sicher ein Mittel dar, der Tendenz zum Despotismus Einhalt zu gebieten. Andererseits führt eine Gesellschaft, die kontinuierlich auf der Kippe zwischen Despotismus und Anarchie steht, und das als Folge des Druckes, den die verschiedenen Gruppen auf diejenigen ausüben, die die Macht haben, unweigerlich zu einer zynischen Betrachtungsweise der Politik. Augustinus kann jedoch aus diesem Dilemma heraushelfen. Er hat verstanden, daß „der Egoismus zwar universal, aber doch nicht natürlich ist, insofern als er nicht mit der Natur des Menschen konform geht... Der Realismus wird moralisch zynisch oder nihilistisch, wenn er meint, daß ein universales Merkmal des menschlichen Verhaltens auch als Norm betrachtet werden muß“9.
Zum Abschluß dieser synthetischen Rekonstruktion dessen, was Niebuhr bei seiner Begegnung mit Augustinus gelernt hat, wollen wir wenigstens drei Aspekte seiner Perspektive herausstellen, die uns erwähnenswert scheinen.
Der erste ist sein Anti-Perfektionismus“, verstanden als Bewusstsein der unweigerlich nicht perfekten versuchten Annäherung ans Gute eines jeden beliebigen politischen Regimes. Niebuhr hat den Anspruch Amerikas scharf kritisiert, das Land zu sein, das Gott auserwählt hat, um sein Reich auf Erden zu errichten.
Der zweite Aspekt betrifft den Verweis auf die notwendige Kontrolle einer jeden Macht, die Niebuhr in seiner Kritik am politischen Pessimismus von Hobbes und Luther präzisiert hat. Einen Pessimismus, den er für zu wenig radikal hält, da sie sich nicht auch zu den Mächtigen geäußert haben. Niebuhr bekräftigt die Präsenz der Sünde auf jeder Ebene der menschlichen Erfahrung.
Der letzte Aspekt, in dem die vorherigen zusammengefasst sind, ist das, was Christopher Lasch in einem interessanten, Niebuhr gewidmeten Kapitel beschrieb, als er „von der moralischen Disziplin gegen das Ressentiment“10 sprach. Dabei handelt es sich im Grunde um die Behauptung, daß die Sünde nicht nur in den anderen wirksam ist, sondern auch in uns selbst. Ein solches Bewusstsein macht es unmöglich, Positionen, die anders sind als die unsrigen, als unmoralisch zu bewerten, indem wir ihnen die unsrige als moralisch gegenüberstellen. Die Behauptung der eigenen moralischen Überlegenheit als Rechtfertigung einer besonderen politischen und praktischen Option, die ausschließliche Verurteilung des Bösen bei den anderen, verkennt nämlich die wahre Natur des Menschen nach der Erbsünde. Diese Dynamik führt, wie es Niebuhr ausdrückt, zur „Heiligung der eigenen Position“11, wobei präzisen und besonderen Interessen der Anstrich der Heiligkeit gegeben wird, die den Anspruch der Universalität stellen. Diese Haltung bringt Gewalt hervor, weil sie die Präsenz derselben menschlichen Natur in uns und in den anderen leugnet und dazu führt, jene, die eine andere praktische Wahl treffen als wir, wie das Böse in Person zu behandeln.

Anmerkungen
1 L. Giussani, Teologia protestante americana, La Scuola Cattolica, Venegono Inferiore 1969, S. 141.
2 R. Niebuhr, Pious and Secular America, Scribners, New York 1958, S.1.
3 R. Niebuhr, A theology for praxis, it.Ü., Queriniana, Brescia 1977, S. 55.
4 R. Niebuhr The political realism of Augustine, it.Ü., in G. Dessì, Niebuhr. Antropologia cristiana e democrazia, Studium, Rom 1993, SS.77-78.
5 Ebd., S.79.
6 Ebd., S.82.
7 Ebd., S.85.
8 Ebd.
9 Ebd., S.88.
10 C. Lasch, Paradise on earth. Progress and its critique, it. Ü., Feltrinelli, Milano 1992, S. 356.
11Diese Thema taucht in Niebuhrs Schriften immer wieder auf. So z. B. die Weigerung, „die eignen Interessen moralischen Sanktionen zu unterwerfen“ , wie er inThe Children of Light and The Children of Darkness meinte, Scribners, New York 1944, S.16.



Italiano Español English Français Português