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Aus Was zählt, ist das...

Was zählt, ist das Staunen


Artikel und Interviews um Charles Péguy mit einem Vorwort von Roger Etchegary


AA. VV.


VORWORT

Mit Charles Péguy



Kennen Sie ihn? Erinnern Sie sich noch an den hämmernden Rhythmus seiner großen Verse? Die so einfache und tiefgehende Dinge sagen, daß sie Sie für immer durchs Leben begleiten, im Gleichschritt eines unermüdlichen Fußsoldaten.
Wenn Sie bisher nicht das Vergnügen hatten, ihm begegnet zu sein, haben Sie jetzt das Buch, das Ihnen die Gelegenheit dazu gibt… aber das allein ist nicht genug: Sie müssen sich danach schnell aufmachen und im Meer seiner Werke versinken. Einem Werk ohne Ufer. Einem Werk, das sich nicht einordnen läßt und doch von so frischer Aktualität ist. Einem komplexen Werk, das unter dem Einfluß der Unterschiedlichkeit der Exegese steht, aber mit sehr deutlichen Kontouren und soliden Grundmauern.
Péguy beschränkt sich nicht auf das ein oder andere Klischee seines Lebens, auf die ein oder andere Strophe seines Werkes. Man muß ihn ganz nehmen, als das, was er ist, man muß sich die Zeit nehmen, ihn in seiner ganzen Unermeßlichkeit auszuschöpfen. Pé¾uy ohne Ende! Aber das, was er uns lehrt, kann sich auf eine evangelische Wahrheit konzentrieren: je mehr Gott da ist, desto mehr ist der Mensch da. Das Geheimnis der Menschwerdung ist das Leitmotiv, das sein gesamtes Werk und sein ganzes christliches Leben durchzieht. „Ein Gottesmensch, ein Menschengott.“ Der Glaube ist dieses Band zwischen Ewigem und Zeitlichem.
Keine dieser beiden Versuchungen der Kirche – der, das Ewige vor das Zeitliche zu stellen und der, das Erste im Zweiten zu verschlingen – könnte in den Texten Péguys Gegenstand finden, die eine so herrliche Ausgeglichenheit widerspiegeln. Mir gefällt seià „bodenständiger Antiklerikalismus“: „Wir bewegen uns sicher zwischen zwei Banden von Kuraten: den laikalen Kuraten, die das Ewige des Zeitlichen leugnen, und den kirchlichen Kuraten, die das Zeitliche des Ewigen leugnen.“
„Ein Christ der Pfarrei“: das ist es, was Péguy einfach nur sein wollte. Ohne müde zu werden bestaunt er die Herrlichkeit Gottes in der Geschichte der Menschen, und sein poetisches Genie entfaltet dieses Gebet Schicht um Schicht in vollendeter Schönheit. Wie schon Urs von Balthasar treffend sagte: „Péguy ist untrennbar. Weil er im Tiefen verwurzelt ist, dort, wo Welt und Kirche, Welt und Gnade einander begegnen und ineinander eindringen, bis sie eins sind.“

Kardinal Roger Etchegaray


Péguy, der Dichter des Staunens

von
GIANNI VALENTE



„Ein christliches Kind ist nichts anderes als ein Kind, dem man tausend mal die Kindheit Jesu vor Augen geführt hat,“ schrieb Charles Péguy in einem seiner polemischsten und aktuellsten Werke (Un nouveau théologien, M. Fernand Laudet). Als der kleine Charles am 7. Januar 1873 in Orléans, Faubourg Bourgogne Nr. 50, das Licht der Welt erblickt, sind die Werke und Tage der Menschen noch von den Spuren und der Stimmung des christlichen Frankreich geprägt. Der Alltag wird noch hie und da von den unbewußten Reflexen jenes Volkes von armen Christen erhellt, die „singend umhergingen“ und „mit demselben Geist Stühle mit Stroh auspolsterten, mit dem sie ihre Kirchen bauten.“ Und doch kann man beim besten Willen nicht behaupten, daß die Beschreibung des Christenkindes, die dem erwachsenen Péguy so lieb war, auf den kleinen Charles gepaßt hätte. In seiner Umgebung, seinem familiären und schulischen Umfeld, gibt es keine Menschen, die so lebten, mit diesem vertrauten und zärtlichen Blick auf Jesus.
Der kleine Charles ist Halbwaise (sein Vater, der Schreiner Désiré Péguy, starb, als sein Sohn keine 11 Monate alt war). Seine Mutter ist eine energische Frau, der die harte Arbeit als Polsterin keine Zeit für die Sonntagsmesse läßt. Es ist gewiß, daß Charles jeden Tag sein Morgen- und Abendgebet sagt. Mit dem ihm eigenen Enthusiasmus nimmt er auch am Katechismusunterricht teil – zuerst in der Grundschule, dann in der Pfarrei Saint-Aignan, wo der Religionsunterricht 1882 von den laizistischen Gesetzen Jules Ferrys eingeschränkt wird. Aber diese religiöse Bildung, die der kleine Charles genießt, mündet wiederum in eine Moral von Pflicht, Arbeit und Opfern, die der sensible Junge jeden lieben Tag um sich herum wahrnehmen kann und für die seine Mutter das beste Beispiel ist.
üs sind „laizistische“ Zeiten des republikanischen Frankreich. Die Ideologie von Arbeit und Vaterland hat Hochkonjunktur. Johanna von Orléans und Michelet, Saint Louis und Victor Hugo. Auch die christliche Symbolik, die Erzählungen und Bilder der jüdisch-christlichen sakralen Geschichte werden „eingezogen“, ihre Aufgabe ist es jetzt, die moralischen Prinzipien dieser zivilen Religion zu illustrieren. Aber seit der Grundschulzeit lassen sich die Lehrer des kleinen Charles von einem aggressiven, dem Katholizismus gegenüber mißtrauisch eingestellten Laizismus inspirieren – demselben, der in jenen Jahren den Unterricht in der Lehre des Katholizismus außerhalb der Lehre des Staates ablehnt. Péguys Geschichtsbücher sind die von Lavisse, in denen Kirche und Monarchie als von der Revolution hinweggefegte Fossilien des Ancien Régime erscheinen. In einem zeitgenössischen Bericht über die Pfarrei Péguys, Saint-Aignan, heißt es, daß sie „schlecht besucht“ sei, „die Arbeiterklasse, das Volk, nicht erreicht“, die Kirche am Sonntag „mit Ausnahme einiger Feiertage, leer“ sei. Aber trotz dieser Spaltung in zwei Lager scheinen Priester und laizistische Erzieher doch an einem Strang zu ziehen, dasselbe Pflichtbewußtsein zu predigen: „Die einen wie die anderen – und allen voran unsere Eltern – lehrten uns diese dumme Moral, die Frankreich gemacht hat; und von der es sich heute noch nicht befreien kann […]. Die einen väterlich, mütterlich; die anderen schulmeisterlich, intellektuell, laizistisch; andere wieder demütig, fromm; alle […] lehrten, glaubten, konstatierten diese dumme Moral.“
ýür den heranwachsenden Charles, diesen sensiblen, wissensdurstigen Jungen, der alles ernst nimmt und zum Lieblingsschüler seiner laizistischen Lehrer geworden ist, die sich ganz dem zivilen republikanischen Wiederaufbauprogramm Ferrys verschrieben haben, scheint das Christentum ein Überbleibsel der Vergangenheit zu werden. Etwas, das man ohne viel Federlesens abstreifen kann. An einen seiner Lehrer schreibt er: „Gestern hatte ich Erstkommunion. Sicher können Sie sich vorstellen, wie genervt ich und meine Mutter waren. Ich konnte meinen schulischen Verpflichtungen nicht nachkommen; seit Sonntag habe ich keine Minute Zeit gefunden, ein Buch aufzuschlagen… Zum Glück ist es ja jetzt vorbei.“ In den ersten Jahren auf dem Gymnasium von Orléans, das er dank eines von der Gemeinde gestifteten Stipendiums besuchen kann, begeistert er sich für die griechischen und lateinischen Klassiker mit ihrem Labyrinth von Deklinationen. Im Alter von 16 Jahren wird der Religionsunterricht am Gymnasium abgeschafft. Im Alter von 17 Jahren – er frequentiert gerade das erste Jahr des Vorbereitungskurses an der École Normale Supérieure – hört er damit auf, sonntags die Messe zu besuchen.
Nach zwei gescheiterten Versuchen und nachdem er seiner Wehrdienstpflicht beim 131. Infanterieregiment nachgekommen ist, wird Péguy im August 1894 endlich an die École Superieur aufgenommen.
Das Herz des jungen Studenten Péguy, dieses „kühnen, finsteren, dummen“ jungen Mannes – wie er sich selbst 20 Jahre später definieren soll –, wird von den Parolen des utopischen und revolutionären Sozialismus Proudhons und Leroux’ entflammt. Im Mai 1895 tritt er offiziell der sozialistischen Partei bei. Einem Freund schreibt er: „Diese Konversion ist vielleicht das bedeutendste Ereignis meines moralischen Lebens.“ In jenem Jahr läßt er sich kurzzeitig von der École beurlauben, erlernt das Druckerhandwerk und gründet mit einigen seiner militanten Freunde die „Groupe d’études sociales d’Orléans“, die sich sozialen Studien sozialistischer Prägung widmet. Zwei Jahre später schreibt er einem Freund: „Der Sozialismus ist ein neues Leben und alles andere als einfach nur eine Politik.“
Der revolutionäre Aktivismus, den Péguy in seiner Jugend wie eine Religion annimmt, nährt sich von der Wut über die bestehenden Ungerechtigkeiten und von der Begeisterung für den Gedanken einer möglichen Befreiung der Unterdrückten. „Wir können nicht zulassen, daß es in irgendeiner Stadt Menschen gibt, die ausgegrenzt werden,“ schreibt er in einem seiner sozialistischen Manifeste des Jahres 1900.
Der Sozialismus Péguys drückt sich in dem leidenschaftlichen Verlangen nach einem realen, zeitlichen Heil aus, einem Heil, wie es alle tief in ihren Herzen wünschen; dem Kampf gegen das, was er das „universale Übel“ nennt; dem Warten auf eine Befreiung von dieser Ausgrenzung, die die bürgerliche kapitalistische Moderne („der internationale Imperialismus des Geldes, nach dem das Vaterland dort ist, wo man seinen Lebensunterhalt verdient“ – wie es Pius XI. in seiner stets aktuellen Enzyklika Quadragesimo anno ausdrücken sollte) Millionen von Menschen als Existenzgrundlage aufgezwungen hat. 1913 schrieb Péguy in seinem Werk L’argent: „Man kannte ihn nicht – diesen wirtschaftlichen Schraubstock, diesen wissenschaftlichen, kalten, rechteckigen, regulären, sittsamen, sauberen Würgegriff, ohne Fehler, unerbittlich, bedacht … ein Würgegriff, von dem man erfaßt wurde, ohne etwas einwenden zu können und wo derjenige, der gewürgt wird, doch so augenscheinlich im Unrecht zu sein scheint.“
In den Augen des jungen Sozialisten Péguy scheint die katholische Kirche von zwei Narben entstellt. Auf der zeitlichen Ebene ist sie eine Allianz mit der kapitalistischen Bourgeoisie eingegangen, unterstützt die neue bürgerliche Ordnung und gibt den Unterdrückungen und Verbrechen, die darin an der Tagesordnung sind, ihren Segen. Auf geistlicher Ebene trägt sie angesichts der mathematischen Möglichkeit, daß die zeitliche und die ewige Verdammnis, die Hölle, das Schicksal vieler ist, ein ruhiges Gewissen zur Schau. Dennoch wählt Péguy, als er 1897 sein erstes Drama beendet, als Symbol für das Verlangen nach dem radikalen Heil, von dem sein Sozialismus beseelt ist, eine christliche Figur: Johanna von Orléans, das Bauernmädchen aus Domrémy. Sein Werk ist „all denen gewidmet, die ihren menschlichen Tod im Namen der Errichtung der universalen sozialistischen Republik sterben.“
Im Oktober desselben Jahres heiratet der 23jährige Charles standesamtlich Charlotte Baudouin, die Schwester seines Freundes und Kameraden der militanten Jahre, Marcel, der im Jahr 1896 gestorben war. Mit ihm hatte er sein Marcel, premier dialogue de la cité harmonieuse geschrieben, das ein Jahr später erscheinen sollte, wenn auch unter einem Pseudonym. Es ist eine Hochzeit zwischen Militanten. Die Familie Charlottes ist eine Familie von Freidenkern, Communard-Sympathisanten, die sich dem mystischen Sozialismus verschrieben haben. Im November des Jahres 1897 verläßt Charles die École, erhält aber die Erlaubnis, als Gasthörer an den Kursen von Georges Lyon teilzunehmen und – ab Februar 1898 – an denen von Henri Bergson. Im Mai öffnet er die sozialistische Buchhandlung George Bellais in Paris. Er verwandelt sie schon bald in eine Redaktion, eine Investition, für die die gesamte Mitgift seiner Frau aufgebraucht wird. Im September jenes Jahres wird Marcel geboren, das erste Kind der Péguys.
Die folgenden Jahre sind keine einfachen: zu dem Problem, bis Monatsende mit dem Haushaltsgeld auszukommen, kommt noch die allmähliche Ernüchterung hinsichtlich der sozialistischen Ideale. Die „harmonische Stadt“, dieses in der Jugend erträumte Land der Befreiung, löst sich in Nichts auf, gleitet ab in den Abgrund der Begrenztheit, Hinterhältigkeit und Bosheit ihrer Erbauer.
Die Wende kommt mit der Affäre Dreyfus, die das damalige Frankreich in zwei Lager spaltet. Péguy stürzt sich mit seiner ganzen Begeisterung in die Verteidigung dieses ungerechterweise der Spionage angeklagten und wegen Verrats verurteilten jüdischen Soldaten und unterzeichnet die Petition für das Wiederaufrollen des Prozesses, das die französische Armee zu verhindern sucht. Dabei gerät er zunächst mit den Sozialisten aneinander, die im Namen des Klassenkampfes nicht am Eintreten für den „bourgeoisen“ Dreyfus interessiert sind, und findet sich letztendlich in derselben Position wie die klerikal-Reaktionären wieder. Aber dann geht er endgültig mit dem gesamten offiziellen, parlamentarischen, intellektuellen Sozialismus auf Kollisionskurs. Die Dreyfus-Verfechter gelangen an die Macht und formen eine republikanische Garantiemehrheit, die sich unter dem Ministeramt Combes in ein Regime religiöser Verfolgung verwandelt, das von den Sozialisten Jaurès’ unterstützt wird. Dieser hat im Jahr 1899, im Namen der notwendigen Wiedervereinigung der sozialistischen Gruppen, die Einführung der Zensur bei Parteipublikationen erlaubt. Péguy lehnt sich dagegen auf und gründet 1900 die Cahiers de la Quinzaine, jene Zeitschrift, die er trotz aller Widrigkeiten und Probleme bis zu seinem Tod herausgeben wird.
Die Cahiers sind der literarische und editorische Nährboden für die menschliche und schöpferische Erfahrung Péguys. Ganz im Zeichen der Urteilsfreiheit wird der Raum in der Rue de la Sorbonne Nr.8, der die Redaktion seit Herbst 1901 beherbergt, zum Treffpunkt für den merkwürdigen Trupp der Freunde Péguys – anarchische Gewerkschaftler, sich als Agnostiker bezeichnende Juden, Sozialisten, Freidenker mit schriftstellerischen Ambitionen. Hier finden sie ausreichend Raum, leidenschaftliche Artikel über das Zeitgeschehen und das Schicksal des Sozialismus zu schreiben. Im Lauf der Jahre verändert sich das Profil der Zeitschrift, läßt mehr Raum für Literatur und Kritik. Die Cahiers können sich dank der Abonnements und vor allem dank der finanziellen Unterstützung einiger weniger Freunde über Wasser halten, die den Geist der Zeitschrift teilen und sich diesem Zeitungsverleger sui generis verbunden fühlen.
In den Cahiers wird Péguy all seine Werke veröffentlichen und an einsamer Front gegen jenen Block kämpfen, den er später „die intellektuelle Partei“ nennen soll. In primis zielt er dabei auf jene aufstrebenden „Dreyfusianer“ ab, die sich jetzt, wo sie endlich an der Macht sind, als Bourgeoise erweisen, die keineswegs mehr daran denken, ein „neues Leben“ zu schaffen, sondern vielmehr die bourgeoise Untugend demokratisieren wollen. „Keiner dieser großen Demagogen,“ schreibt er „hat es jemals bewerkstelligen können, daß auch nur ein Bourgeoise mehr arbeitet. Im Gegenteil: mit bewundernswertem Geschick haben sie es geschafft, daß die überwältigende Mehrheit der Produzierenden die Lust an der Arbeit, das Bewußtsein, den Sinn dafür und den Geschmack daran verloren hat.“ Und wo der sozialistische Traum nicht wieder in das bürgerliche Machtsystem zurückfällt, entartet er zu einem totalitären Alptraum. So schreibt Péguy schon 1901: „Den Sozialismus mit einem System in Verbindung zu bringen, an den Sozialismus ein wissenschaftliches, künstlerisches oder philosophisches System zu binden, und sei es auch im Namen der Vernunft, bedeutet im wahrsten Sinne des Wortes, einen Verrat an der Menschheit zu begehen… Der Sozialismus ist weit entfernt davon, definitiv zu sein, er befindet sich noch auf einer Vorstufe, ist eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung.“ In den Jahren 1904 und 1905 sieht er diesen totalitären Abgrund voraus, hat die Vision von einer „gouvernativen sozialistischen Republik,“ in der die Ärzte mit der Internierung in psychiatrische Kliniken „an die Stelle der einstigen Henker treten.“
Jahre später, als er sich an jene Zeit erinnert, in der er für ein Gerechtigkeitsideal gelebt und gekämpft hat, soll Péguy mit erstaunlichem Realismus auf die unvermeidliche Dynamik aller Ideale der Menschen verweisen, einschließlich der religiösen. Er ist der Meinung, daß sich jeder, der für ein Wahrheits-, Schönheits- oder Gerechtigkeitsideal lebt und kämpft, früher oder später unweigerlich „eine gewisse Maske“ aufsetzen, eine gewisse „Theatralik“ annehmen muß. Es ist unvermeidlich, daß auch wer guten Gewissens ist, eines Tages erkennt, daß er nur Theater spielt.
Péguy jedoch weigert sich, die Rolle zu spielen, die an diesem Punkt angelangt am bequemsten für ihn wäre: die des enttäuschten, verbitterten Militanten, des Reuigen, der seinen einstigen Kameraden, die Seite an Seite mit ihm kämpften, ein moralistisches „Hab ich es euch nicht gesagt?“ entgegenschreit. Seine Cahiers sind für ihn auch weiterhin wie ein „letztes Bollwerk der Freiheit.“ Mit den sozialistischen Neubourgeoisen steht er auf Kriegsfuß: ihre Feindseligkeit vermischt sich mit der der reaktionären Bourgeoisen und erbittert kämpfen sie gegen alles, was in der kleinen Redaktion in der Rue de la Sorbonne produziert wird. Es sind Jahre, die nicht nur vom drohenden Scheitern seiner Zeitschrift überschattet sind, sondern auch von den wachsenden Schwierigkeiten einer immer zahlreicher werdenden Familie: im September 1901 wird sein Lieblingskind geboren, Germaine, im Juni 1903 sein drittes Kind, Pierre. Dazu kommt noch, daß die ohnehin schon wenig finanzkräftige Familie Péguy auch noch die Schwiegermutter und den Schwager Charles’ erhalten muß. Und gerade in diesen wahrhaft nicht einfachen Jahren verliert auch das mystische laizistische Einvernehmen, das das Ehepaar Péguy verbunden hat, immer mehr an Zauber. In den Mühen des Alltags findet er Zuflucht in einer verbotenen Zuneigung zu Blanche Raphaël, einer jungen Jüdin, die bei den Cahiers ein und aus geht.
Eine weitere Qual, da Péguy fest entschlossen ist, dieser Leidenschaft nicht nachzugeben und seiner Frau treu zu bleiben.
Nur mit Mühe schafft er es, seinen Pflichten als Familienvater nachzukommen; in den Jahren 1907 und 1908 ist er einem Nervenzusammenbruch nahe, was ihn natürlich auch für Krankheiten anfällig macht. 1908 muß er wegen einer schweren Lebererkrankung vier Wochen lang das Bett hüten. Er meint, das Ende sei nahe. Seine Verzweiflung ist so groß, daß er sich sogar mit Selbstmordgedanken trägt. Im November 1908 schreibt er an seinen Freund Pesloüan: „Wenn Du erfahren solltest, daß wir uns alle sieben umgebracht haben, würde Dich das bestimmt bis an Dein Lebensende verfolgen: und doch ist gerade das die Versuchung, gegen die ich jeden Tag mit immer weniger Kraft ankämpfe.“
In der Zwischenzeit beginnt etwas Neues im Leben Péguys zu erblühen, inmitten all dieser Mühen, wie eine neu entspringende Quelle, noch schwach zwar, leise sprudelnd, aber sich immer entschlossener ihren Weg bahnend, bis sie zu einem Strom wird in dieser Wüste des doch so modern zerbrechlichen, mühevollen Alltags. Gerade in diesen Jahren der Schwäche nimmt Péguy in seinem Leben einen Neubeginn wahr. In allen Biographien werden seine den Freunden Jacques Maritain und Joseph Lotte gemachten Geständnisse zitiert, in denen er als erstes von dieser Veränderung in seinem Leben berichtet. So schreibt Lotte nach einem Krankenbesuch bei Péguy im Jahr 1908: „Er kam mir niedergeschlagen vor, erschöpft, krank. Der Arzt sagte, er hätte eine Lebererkrankung. Schuld daran waren diese 12 Jahre, in denen er sich keinen Moment Ruhe gönnte und sein Letztes gab. [… ] Er vertraute mir an, wie niedergeschlagen er war, wie sehr er sich nach Ruhe sehnte; danach, an irgendeinem abgelegenen Gymnasium Philosophie zu unterrichten, bei mir in der Nähe, in der Provinz: da hätte er all das, was er in sich trug, ohne Probleme, ohne Widrigkeiten, ohne Furcht ausdrücken können…. Dann, auf einmal, stützte er sich auf seinen Ellbogen, die Augen voller Tränen: ‚Ich habe Dir nicht alles gesagt… ich habe den Glauben wiedergefunden… ich bin Katholik‘.“
Als er in seinen Schriften auf diese Veränderung hinweist, ist er es selbst, der sich mit fast wütender Entschlossenheit diesem Klischee vom Konvertierten zu entziehen sucht. Es handelt sich nicht um eine von ihm selbst bewerkstelligte „Rückkehr und Reue.“ Nicht um das Ergebnis langen, qualvollen Grübelns über sein existentielles Scheitern, das ihn dazu bringt, sich von den ewigen Wahrheiten des christlichen Frankreich „zu überzeugen.“ In dieser Entdeckung, katholisch zu sein, sieht Péguy nichts Eigenes, keine eigene innere Tiefe – er schreibt alles dem „Wirken der Gnade“ zu, die auf geheimnisvolle und effiziente, intime und doch so reale Weise auf die Herzen einwirkt.
Gerade diese reale, physische Erfahrung des Wirkens der Gnade, sozusagen als Quelle des christlichen Lebens („Ohne mich könnt ihr nichts tun“) macht aus Péguy einen Christen, dem die in seiner und unserer Zeit errichtete Christenheit fremd ist.
Seine Zeitgenossen sollen sein erstes Werk nicht mehr kennenlernen: Im Sommer des Jahres 1909 beginnt Péguy – nachdem er erkannt hat, Katholik zu sein – an Véronique. Dialogue de l’ histoire et de l’ âme charnelle zu schreiben. Das – unvollständige – Werk wird allerdings erst 1955, nach seinem Tod, veröffentlicht. Darin wird deutlich, wie wenig der Herausgeber der Cahiers mit dem in der offiziellen katholischen Welt vorherrschenden Denken gemeinsam hat. Seine Intuition von Natur und Ausmaß der Entchristlichung ist Lichtjahre von dem Empfinden der reaktionären Katholiken entfernt, die angesichts der Moderne auf die Wiederherstellung der christlichen Ordnung hinarbeiten, oder von den Analysen jener Intellektuellen, die meinen, es ginge darum, sich neue Methoden auszudenken, um bei ihren Zeitgenossen ein kulturelles Interesse am Christentum zu wecken. Das, was Péguy von seinem Beobachtungsturm bei den Cahiers aus entdecken kann, ist der „Verzicht der ganzen Welt auf das ganze Christentum.“ Seine laizistischen Lehrer der Grundschulzeit leben – wenn auch in ihrem Antiklerikalismus – immer noch ihre Moral vom guten Bürger im schalen Abglanz der christlichen Kultur. Das, was sich am Horizont der Moderne zeigt, ist eine radikale Beziehungslosigkeit, eine totale Fremdheit, eine vollkommene Auslöschung („Wir sehen voller Schmerz ganze Welten, ganze Menschheiten ohne Jesus leben und gedeihen. Ohne Jesus die einen und die anderen“).
Doch Péguy gibt nicht den Freidenkern, den militanten Atheisten oder den Relativisten die Schuld daran. „Es ist für niemanden ein Geheimnis, und man kann es in den Schulen nicht mehr verheimlichen, es sei denn in den Seminaren, daß die Entchristlichung beim Klerus ihren Ausgang nahm. Nicht bei den Laien. Bei den Klerikern. ‚Procedit a clericis‘.“ Bei der Beschreibung dieses Desasters stellt der christliche Péguy keinesfalls das in Abrede, was schon der sozialistische Péguy erkannt hatte. Ihr politisches Verbrechen ist es, kraft ihrer Allianz mit der eingerichteten Ordnung aus dem Christentum „eine Religion der Bourgeoisie, eine Religion der Reichen, eine Art gehobene Religion für die gehobene Schicht“ gemacht zu haben. Tiefergehend aber ist das Desaster der Entchristlichung in einem „Irrtum der Mystik“ verwurzelt, der darin besteht, „das Geheimnis und das Wirken der Gnade“ weggenommen zu haben und das Sich-Ereignen der Gnade in der Zeit zu verkennen, zu leugnen, gar nicht erst zu erkennen, das der Herr in der Gegenwart effizient und daher auch sichtbar wirkt. So wird der „Mechanismus des Christentums“ geleugnet, bzw. daß die Gnade dem Herzen des Menschen begegnen und dieses nur rühren kann, wenn sie im Fleisch zum Leuchten kommt, wenn man die Auswirkungen ihres Wirkens im Zeitlichen sieht, im Raum und in der Zeit der Befindlichkeit der Menschen.
Wie konnte es zu einem solchen mystischen Irrtum kommen? Letztendlich – so meint zumindest Péguy – wegen einer Frage der Kontrolle. Um sich nicht dieser schwindelerregenden insecuritas auszusetzen, dieser prekären Linie, die die Befindlichkeit desjenigen bezeichnet, der mit dem Herzen und den Augen eines Kindes demütig ausharrt angesichts dieses ständigen Neubeginns des Wirkens der Gnade. Eine Befindlichkeit, die die Kleriker und die religiösen Intellektullen nicht dulden: „Sie verlieren ständig diese Ungewißheit aus den Augen, die für den Christen die tiefste Befindlichkeit des Menschen ist. Verlieren diese tiefe Misere aus den Augen. Und machen sich nicht klar, daß man immer wieder neu beginnen muß.“ Daher haben sie all ihre Energien darauf verschwendet, das Christentum in einen religiösen Idealismus abgleiten zu lassen, ein System von ewigen Ideen (die Idee der Schöpfung, die Idee der Menschwerdung, die Idee der Gnade, die Idee Christi), die sie selbst in ihrer Eigenschaft als „Experten“, mit einem „besonderen Berufsstolz“ beherrschen können, um ihre Macht über die verbliebenen Gläubigen zu bekräftigen und eine Art Revanche zeitlicher Hegemonie im Namen des Ewigen zu versuchen, wie er in seinem letzten Werk Note conjointe sur M. Descartes et la philosophie cartesienne schreibt (begonnen im Frühling 1914 und 10 Jahre später, nach seinem Tod, unvollständig veröffentlicht). „Da sie nicht die Kraft (und die Gnade) haben, von der Natur zu sein, meinen sie, von der Gnade zu sein. […] Da sie nicht den Mut haben, von der Welt zu sein, meinen sie, von Gott zu sein. Da sie nicht den Mut haben, von einer der Parteien der Menschen zu sein, meinen sie, von der Partei Gottes zu sein. Da sie nicht vom Menschen sind, meinen sie, von Gott zu sein. Da sie niemanden lieben, meinen sie, Gott zu lieben.“
So stellen sie den Anspruch, die Welt beherrschen und religiös verändern zu wollen, anstatt zu beten und den Herrn zu bitten, sie zu erretten – und das ist auch der Grund, warum „die Effizienz vieler allgemein gut gemachter Gebete verschwunden ist, vieler allgemein gut gespendeter und gut empfangener Sakramente.“ Die Kleriker „arbeiten daran, auch das wenige, was noch geblieben ist, zu zerstören… Merkmal ihres Eingreifens ist, daß sie immer wieder versuchen, dem Wirken der Gnade entgegenzuwirken, sich ihm immer entgegenzustellen. Mit bewundernswerter Hartnäckigkeit.“
Aber auch dieser prophetische Blick bei der Beschreibung des christlichen Zusammenbruchs in der Moderne, weit entfernt von den Anathemen der klerikalen Unheilspropheten, wird erst durch etwas ermöglicht, das zuerst kommt. Bereits in Véronique weist Péguy darauf hin, wie aufregend gerade diese Zeit der Wüste und des Abbruchs ist. Denn gerade in dieser Wüste voller Trümmer, verfolgt von „infamen Parodien“ des Christentums, kann sich wieder das Staunen der Anfänge ereignen. Und wenn das christliche Leben gerade in dieser Befindlichkeit wieder aufkeimen sollte, dann erkennt man erst recht, daß dieser Neubeginn nicht aus sich selbst kommt, sondern alles dem Wunder verdankt, das der lebendige Herr heute wirken kann. Genau wie am Anbeginn, als er kam und „niemanden verurteilte, niemanden anklagte. Rettete. Die Welt nicht verurteilte. Die Welt rettete. Und doch waren da die Übel der Zeit. Seiner Zeit. Es kam die moderne Welt. Und er machte nicht viel Federlesen. Auf sehr einfache Art und Weise. Indem er das Christentum schuf.“
Das Berichten von dieser Möglichkeit, daß das Christentum ein neuer Anfang der Gnade sei, bereits analog im unentgeltlichen Aufkeimen der christlichen Hoffnung in den bitteren Tagen des eigenen Lebens erlebt, ist der rote Faden, der sich durch alle christlichen Werke Péguys zieht (besonders die drei Mystères), und der auch seine Kämpfe und polemischen Schriften begleitet.
Im Januar des Jahres 1910 erscheint in den Cahiers das Werk Le mystère de la charité de Jeanne d’Arc, in dem das von dem Sozialisten Péguy 1897 geschriebene Drama wiederaufgegriffen wird. Es handelt sich um das erste Werk einer Reihe von Mystères, in denen Johanna von Orléans gefeiert wird. In der Neubearbeitung fügt Péguy Anmerkungen und Einfügungen hinzu, ohne aber auch nur eine Zeile der vorherigen Version zu verändern. Was bestätigt, daß der Christ Péguy nichts von seiner Vergangenheit in Abrede stellt. Das erste christliche Werk Péguys löst lebhafte Diskussionen aus. Der „Fall Péguy“ ist geboren, und die reaktionären Katholiken versuchen, den ehemals anarchischen Dreyfusianer mit der monarchistischen Rechten in Verbindung zu bringen, indem sie ihm Gewissensbisse unterstellen und Zweifel an der katholischen Rechtgläubigkeit des Schriftstellers schüren. Ein Beispiel: Georges Dumesnil, katholischer Intellektueller und Chefredakteur von L’ Amitié de France, schreibt an Lotte: „Unter diesem Aspekt kommt mir Péguy sehr verdächtig vor. Es scheint mir unerhört, daß Jesus, der menschgewordene Logos, bestürzt sein soll. Wenn die göttliche Vernunft bestürzt sein kann, dann gute Nacht!“ Auf der anderen Seite meinen die alten Kameraden Péguys, darunter der Jude Daniel Halévy, ihr Freund wäre zu den „alten religiösen und patriotischen Mythen seiner Kindheit zurückgekehrt.“ Péguy antwortet durch die Cahiers, mit Notre jeunesse: „Unser Sozialismus war eine Religion des zeitlichen Heils; das war er auf positive Weise, und er war nicht weniger als das… Das Christentum, das die Religion des ewigen Heils ist, ist in diesem Morast versunken, dem Morast der wirtschaftlichen, industriellen Unsitte; ohne eine wirtschaftliche, industrielle Revolution gibt es keinen Ausweg… Kurzum: es gibt keinen besser gestalteten, besser geordneten, besser ausgestatteten Ort der Verdammnis, es gibt kein besseres Werkzeug der Verdammnis als das, das die moderne Fabrik produziert hat.“
In seinem christlichen Abenteuer erfüllt sich diese Leidenschaft für eine zeitliche, wirkliche Erlösung der Menschen, die im Zentrum seines Sozialismus stand. Gleichzeitig ist dieser als dankbares Staunen und Fragen angesichts des gegenwärtigen Sich-Ereignens der Gnade gelebte Glaube nicht auf ein eigenes Handeln ausgerichtet, weder als Voraussetzung noch als zu entwickelnde Konsequenz. Der Chefredakteur der Cahiers erfindet nichts Neues, kein neues Christentum. Das im eigenen Leben erlebte Wirken der Gnade hilft vor allem dabei, in der Tradition zu bleiben, deren unerschöpfliche Schätze wieder zu entdecken und zu genießen, ihren unbezwinglichen befreienden Trost. Im Jahr 1911 schreibt Péguy sein polemisches Werk Un nouveau théologien, M. Fernand Laudet, gegen einen „neuen Theologen“, Repräsentant des abgestumpften Modernismus, der das Mystère de la charité zunichte gemacht hatte. Sozusagen eine Beichte Péguys, in der er gesteht, aus welchen Quellen sein allgemeines Christentum schöpft, das eines Sünders, der „sonntags in der Pfarrkirche die Messe besucht“ und in den Genuß der „Schätze der göttlichen Gnade“ kommt: die Messe und das Stundengebet, der Katechismus und die Liturgie, das Evangelium, die Verehrung der Jungfrau Maria und der Heiligen, die Begeisterung für Johanna von Orléans und die französische Christenheit. Die christliche Bildung, die er als Kind erhielt, in der Schule und in der Pfarrei, und die er dann vergessen zu haben scheint, blüht wieder auf wie eine angenehme Überraschung, ein kostbares erhaltenes Geschenk, dessen man sich nicht bewußt war. Im Grunde liegt sein Glaube – so Péguy – im Katechismus der Diözese Orléans, „dem Katechismus der Geburtspfarrei, dem der kleinen Kinder.“
Dennoch gelingt es Péguy nicht, diesen so sehr ersehnten Zustand christlicher Alltäglichkeit voll auszuschöpfen. Der Trost der Eucharistie und der Beichte sollen ihm wegen seiner nicht geregelten familiären Situation für immer verwehrt bleiben.
Als Péguy erkennt, daß er Christ ist, stößt das bei seiner Frau Charlotte und dem Communard-Familienclan auf wenig Begeisterung. Charlotte will nichts davon wissen, sich auch kirchlich trauen und die Kinder taufen zu lassen. Und so ist Charles für die Kirche jemand, der in wilder Ehe lebt, ein öffentlicher Sünder, dem die Sakramente verwehrt bleiben müssen. Er ist ein von der Kirche Ausgegrenzter, ist nur auf ihrer Schwelle geduldet, in dem Raum, der in den ersten christlichen Kirchen den Katechumenen vorbehalten war. Dieser Umstand ist für ihn eine Quelle ständigen Schmerzes. Aber auch – in diesem Schmerz – ein paradoxer Aufruf zur Demut, eine geheimnisvolle Gelegenheit, ja, Verpflichtung, in der prekären Situation des Anfängers zu bleiben, in der auRenscheinlichen Zerbrechlichkeit des ersten Aufkeimens der christlichen Hoffnung.
Zu dem großen Schmerz darüber, keinen Zugang zu den Sakramenten zu haben, gesellt sich noch das Drängen seiner „treuen“ Freunde (Priester und Intellektuelle aus der offiziellen katholischen Welt), die ihm moralische Laxheit vorwerfen, weil er zögert, seine familiäre Situation „zu bereinigen“ und mit der katholischen Moral in Einklang zu bringen. Der ein oder andere rät ihm, die Kinder heimlich taufen zu lassen und sich über seine Frau hinwegzusetzen, ja, man rät ihm sogar, sie zu verlassen, falls sie nicht einlenken sollte. In seinen Werken wehrt sich Péguy immer wieder gegen diesen von den Klerikern ausgeübten Druck. Bereits in Véronique beschreibt er die schwierige Situation des Familienvaters, dessen Blutsbande zu Frau und Kindern auch Anlaß zu Sorgen geben und Angriffsfläche für Erpressungen seitens der Kleriker und Intellektuellen bieten, die doch selbst vollkommen beziehungslos sind. In der zitierten Note conjointe sur M. Descartes schreibt er: „Die ehrlichen Menschen lassen sich nicht von der Gnade benetzen. Es ist eine Frage der Physik. Was man Moral nennt, ist eine Schicht, die den Menschen gegen die Gnade abschirmt. Daher kommt es auch, daß die Gnade auf die schlimmsten Verbrecher einwirkt und die erbärmlichsten Sünder erhebt. Denn sie hat damit begonnen, in sie einzudringen, in sie eindringen zu können. Und so kommt es, daß die, die uns am liebsten sind, sollten sie sich unglücklicherweise mit Moral bedeckt haben, nicht von der Gnade erreicht werden können, sozusagen undurchdringbar sind. [...] Nichts ist also mehr dem entgegengesetzt, was man (etwas verschämt) Religion nennt, als die Moral. Die Moral schirmt den Menschen gegen die Gnade ab.“
Den Schwierigkeiten und Mühen seiner letzten Jahre hält Péguy den Trost des Gebets entgegen, zu dem er nach wie vor Zugang hat. Es ist ergreifend, mit wieviel Begeisterung er die tröstende Kraft der Gnade herausstreicht, die allen Christen durch die einfachsten Gebete erschlossen werden kann. Er ist wie ein Kind, das sich auch über ein einfaches und daher umso lieberes Geschenk seiner Mutter freuen kann. Aber gerade so bezeugt Péguy, daß die kleinen Krümel der Gnade ausreichen, um das Leben zu erleichtern, wenn der Herr nur will. Er schreibt: „Da es ihre Sache ist, für das Spenden der Sakramente zu sorgen, lassen die Pfarrer glauben, daß es nichts anderes gäbe als die Sakramente. Dabei vergessen sie allerdings, darauf aufmerksam zu machen, daß es da auch noch das Gebet gibt. Sie haben die ersteren in ihrem Besitz, aber wir haben immer noch das zweite.“ Das, was er „Reserve-Gebete“ nennt: „Im Mechanismus des Heils ist das Ave Maria die letzte Zuflucht. Damit kann man nicht verlorengehen.“ Maria vertraut Péguy alles an, was ihm auf dem Herzen liegt. Als seine Kinder krank sind, wallfahrtet er nach Chartres, um Heilung zu erbitten. Die Verehrung Unserer Lieben Frau der Beauce ist ihm in seinen letzten Jahren oft ein besonderer Trost.
In den letzten fünf Jahren seines Lebens erreicht auch sein literarisches Schaffen – auf den Seiten der Cahiers – einen Höhepunkt. Im Oktober 1910 veröffentlicht er Victor-Marie, comte Hugo. Im Jahr darauf das zitierte Un noveau théologien, M. Fernand Laudet und Le Porche du mystère de la deuxième vertu. 1912 Le mystère des saints Innocents und La tapisserie de sainte Geneviève et de Jeanne d’ Arc. 1913 schließlich erscheinen L’argent und L’argent suite, La Tapisserie de Notre-Dame (eine Sammlung aller Gedichte und Gebete, die er auf seiner Wallfahrt zu Unserer Lieben Frau von Chartres gesammelt hat) und – im Dezember – das beeindruckende Gedicht Ève. Im April 1914 folgt Note sur M. Bergson et la philosophie bergsonienne. Im August, als er gerade an dem zitierten Werk Note conjointe sur M. Descartes arbeitet, muß er seine Arbeit einstellen und die Redaktion verlassen. Auf dem Gipfel seines Schaffens bricht in dieses arbeitsame Leben mit aller Wucht der große Krieg ein. Am ersten August macht sich Unterleutnant Péguy auf den Weg an die Front. Er wird im 276. Infanterieregiment im Lorraine-Tal eingesetzt und dann, am 5. September, beim Rückzug nach Paris. Am 5. September – die Schlacht an der Marne in der Nähe von Villeroy hat gerade begonnen – trifft ihn eine Kugel mitten in die Stirn. Fünf Monate später, am 4. Februar 1915, wird sein viertes Kind geboren, Charles-Pierre.
An seinen treuen Freund Lotte hatte er einmal über die Mühen seiner Wallfahrt nach Chartres geschrieben: „Ich hätte sterben können. Es war so heiß! Es wäre schön, auf einer Straße zu sterben und direkt in den Himmel zu kommen.“

30TAGE Nr. 1, Januar 2001



Prière de Résidence

aus La Tapisserie de Notre-Dame


Oh Königin, endlich, nach langer Wegstrecke,
Vor Wiederaufnahme dieser Reise,
Das einzige Asyl in Deiner hohlen Hand
und der Garten, wo sich die Seele öffnet.

Hier ist der Pilaster und das Gewölbe, das sich hebt;
Und die Vergessenheit von gestern, und die Vergessenheit von morgen
Und die Nutzlosigkeit menschlichen Kalküls;
Und mehr noch als Sünde, abbröckelnde Weisheit.

Hier ist der Ort, in der Welt, wo alles einfach wird,
Das Bedauern, der Aufbruch und auch das Ereignis,
Und das zeitweise Lebewohl und die Trennung,
Das einzige Fleckchen Erde, wo alles einfach wird.
[…]
Hier ist der Ort in der Welt, wo sich die Versuchung Umkehrt und sich umgekehrt stellt
Denn was hier versucht, ist die Unterwerfung.
Und es ist das Sich-Verdunkeln des unendlichen Universums
[…]
Es ist die Rebellion, die unmöglich wird
Und das, was kommt, ist ein Verlassen.
Und es ist die Bescheidenheit, die unbesiegbar wird
Und alles ist nur mehr Gruß und Reverenz.
[…]

Was überall anders Unterdrückung ist
Ist hier nichts als der Effekt edlen Nichts-Werdens,

Was überall anders edles Sich-Zu-Schaffen-Machen ist,
Ist hier nichts als Erbschaft und Nachfolge.
[…]
Was überall anders das Alter ist
Beim Herd sitzend, die Hände auf den Knien
Ist hier nichts als Zärtlichkeit und Fürsorge
Und zwei mütterliche Arme, die uns umfangen.
[…]
Wir haben Straßen in der Ferne beschritten
Uns steht der Sinn nicht mehr nach fremdem Boden.
Königin der Beichtväter, der Jungfrauen und der Engel
Hier sind wir wieder zurück in unseren ersten Dörfern.

Allzu viel hat man uns gesagt, oh Königin der Apostel
Wir haben die Lust an Reden verloren
Wir haben keine Altäre mehr als die Deinen
Kennen nichts als ein einfaches Gebet
[…]
Was überall anders Prüfung erfordert
Ist hier nichts als wehrlose Jugend.
Was überall anders eine Verschiebung erfordert
Ist hier nichts als eine präsente Zerbrechlichkeit.

Was überall anders ein Zertifikat erfordert
Ist hier nichts als die Frucht einer bloßen Zärtlichkeit.
Was überall anders Geschicklichkeit erfordert
Ist hier nichts als demütige Untauglichkeit.

Was überall anders Unausgeglichenheit ist
Ist hier nichts als Maß und Dosierung,
Was überall anders eine Baracke ist
Ist hier nichts als eine solide und dauerhafte Wohnung.
[…]

Was überall anders Zwang und Regel ist

Ist hier nichts als ein Stoß und ein Verlassen;
Was überall anders eine harte Strafe ist
Ist hier nichts als eine Schwäche, die gelindert wird.
[…]
Was überall anders eine große Anstrengung wäre
Ist hier nichts als Einfachheit und Ruhe;
Was überall anders runzelige Rinde ist
Ist hier nur Saft und Träne des Schößlings.
[…]
Was überall anders eine Vergeltung ist
Ist hier nichts als Entspannung und Wehrlosigkeit;
Was überall anders eine Kontraktion ist
Ist hier nichts als ruhige und stille Anteilnahme.

Was überall anders verderbliches Gut ist
Ist hier nichts als ruhige und stille Befreiung;
Was überall anders ein Stolzieren ist
Ist hier nichts als eine Rose und ein Fußabdruck im Sand.
[…]
Was man überall anders in Frage stellt und erfasst
Ist hier nichts als ein klarer Fluß nahe der Quelle;
Oh Königin, hier ist es, wohin jede Seele kommt
Wie ein junger im Lauf gefallener Krieger.

Was überall anders eine ansteigende Straße ist,
Oh Königin, die Du an Deinem königlichen Hof regierst,
Morgenstern, Königin des letzten Tages,
Was überall anders der gedeckte Tisch ist,

Was überall anders der Sinn des vollbrachten Weges ist
Ist hier nichts als ein friedlicher und starker Abstand,
Und in einem stillen Tempel, weit entfernt von nackter Angst
Das Warten auf einen Tod, lebendiger als das Leben.

30TAGE Nr. 11, November 1999

Einladung zur Lektüre Péguys

von
Lucio Brunelli




Der wahre Fluch der modernen Welt ist der Verdacht Jesus Christus gegenüber. Der Verdacht, er bedeute nicht das wahre und dauerhafte Glück der Menschen, sondern im Grunde nichts weiter als eine zusätzliche Belastung, etwas, das den Menschen zum Sklaven macht. Charles Péguy hat die Antwort auf diesen modernen Fluch.
Gestorben ist er auf dem Schlachtfeld des ersten Weltkriegs (1914-1918). Sein ganzes Leben war – wie er selbst immer wieder betonte – nichts weiter als ein kühnes Unterfangen. „Ich bin kein Heiliger,“ pflegte er zu sagen, „denn die Heiligen erkennt man auf den ersten Blick; ich bin ein Sünder, ein guter Sünder, ein Sünder, der sonntags in seiner Pfarrei zur Messe geht, ein Sünder mit den Schätzen der göttlichen Gnade.“
Péguys Leben war ein ganz und gar ungewöhnliches Leben, auch vom Standpunkt der Zugehörigkeit zur Kirche aus gesehen. Immerhin hatte er eine atheistische Gattin, die ihre Kinder nicht taufen lassen wollte. Und so waren ihm, obwohl er katholisch war, zutiefst katholisch, die Sakramente der Kirche versperrt. Er hat immer am Rande der Kirche gelebt, in der „Vorhalle“, dem „Ausgangspunkt“ sozusagen, wo der Heide Christ wird. Als er den Katholizismus wiederentdeckte, sagte Péguy: „Ich verleugne nichts von meiner Vergangenheit: Ich bin nur auf den Grund gegangen.“
Das Drama des modernen Menschen – der den Verdacht hat, Jesus Christus wäre nicht der Erlöser – erzählte er in drei Mystères. Das erste ist das Mystère de la charité de Jeanne d’Arc. Entstanden, als er noch Sozialist war (nach seiner Konversion veränderte er dessen Struktur). Das Werk ist auf einer dramatischen Wahrnehmung aufgebaut: angesichts dieses Verdachts ist die wahre, dogmatische, traditionelle Antwort der Kirche nicht genug. Die Antwort ist wahr, wird von der Novizenmeisterin bestätigt: „Er ist hier wie am ersten Tag…“ Aber für die Protagonistin Johanna ist das nicht genug. Wie Don Luigi Giussani bei der Bischofssynode des Jahres 1987 meinte: „Was heute in der Kirche fehlt, ist nicht die wortwörtliche Wiederholung der Verkündigung.“ Die Verkündigung war da, das Dogma war erneut bestätigt (und das ist das einzige, was von uns verlangt wird und was aus Gnade immer möglich ist: in der Wahrheit zu bleiben). Aber Johanna von Orléans ist das bestätigte Dogma nicht genug; es ist, als entspräche es nicht der Frage, dem Fluch, den sie unbewußt in sich trägt. Es stimmt, daß Er gekommen ist, es stimmt, daß Er präsent ist, aber „die zeitliche und gleichzeitig ewige Verdammnis“ ist stärker. Der moderne Verdacht ist stärker als die ganze dogmatische Wahrheit. Auf Verdammnis und Verdacht scheint es in der Gegenwart keine wirkliche Antwort zu geben.
Im zweiten seiner Mystères, Le Porche du mystère de la deuxième vertu, scheint Péguy einen Blick auf die Antwort zu erhaschen: die Möglichkeit, daß sich der Anfang wieder ereignet. Wie vor zweitausend Jahren. Das zweite Mystère spricht nicht von der „Hoffnung“, sondern von der „Vorhalle der zweiten Tugend“, also dem Anbruch der Hoffnung. Was über den Verdacht des Menschen von heute siegt, ist das Sich-Wiederereignen des anfänglichen Staunens: eine Begegnung, die genauso ist wie die in den Evangelien beschriebene. In der nicht in erster Linie die Wahrheit über Jesus Christus erkennbar ist; vielmehr wird Seine körperlich präsente Realität als wahre Antwort auf die mehr oder weniger bewußte Erwartung des Herzens erkannt.
Péguy beschreibt die Begegnung als Aufkeimen der Hoffnung. Eine anfänglich so zerbrechliche Sache wie das Erwachen des Frühlings, wie eine Knospe, die der Erstbeste mit dem Fingernagel abreißen kann. Aber genau so ist der Anfang des christlichen Lebens in der Welt von heute.
Zu Beginn des dritten Mystères, Le Mystère des saints Innocents, faßt Péguy die beiden vorherigen zusammen:
„Der Glaube ist eine Kirche, eine im Boden Frankreichs
verwurzelte Kathedrale.
Die Liebe ist ein Hospital, ein Sammelplatz für alles
Elend der Welt.
Aber ohne Hoffnung wäre all das nur ein Friedhof.“

Und weiter:

„Warum ist es einfacher, sagt Gott, zu zerstören als zu gründen;
Und sterben zu lassen als zur Welt zu bringen;
Und den Tod zu geben als das Leben;
Und die Knospe leistet keinen Widerstand;
Und auch weil sie nicht für den Widerstand gemacht ist,
nicht die Aufgabe hat, zu widerstehen.
Und der Stamm, der Ast und die Wurzel, die für
den Widerstand gemacht sind, die Aufgabe haben, zu widerstehen.
Und es ist die rauhe Rinde, die für die Härte gemacht ist
und die Aufgabe hat, rauh zu sein.
Aber die zarte Knospe ist nur für die Geburt gemacht
hat nur die Aufgabe, zur Welt zu bringen.
(und andauern zu lassen)
(und sich lieben zu lassen).“

Diese Katholizität des Blickes auf das Reale ist das, was an Péguy am meisten beeindruckt. Weil es nicht stimmt, daß diese Knospe nicht gemacht ist, um zu dauern. Ja, ohne dieses Aufkeimen der Hoffnung kann man nicht dauern, ohne dieses verwunderte Sich-Erneuern und Weitergehen dieses Anfangs. „Jetzt sage ich es euch, sagt Gott, ohne dieses Aufkeimen am Ende des Aprils… wäre meine ganze Schöpfung nichts als ein riesiger Friedhof.“
Im dritten seiner Mystères beschreibt Péguy das, was, menschlich, geschieht, wenn es zum Sich-Wiederereignen des Anfangs kommt. Die erste menschliche Evidenz ist, daß nicht nur der Anfang, sondern alles Wachsen des Staunens Gnade ist. Das Mystère besingt die heiligen Unschuldigen, die Herodes aus Haß auf Jesus Christus ermorden ließ. Heilige, ohne irgendeinen Beitrag ihres Wissens und Willens. Reine Unentgeltlichkeit. Péguy listet die sieben Motive auf, aus denen Gott diese Kinder besonders liebt. Und es ist die Gnade, die die Freiheit und Unentgeltlichkeit des Menschen weckt. Wenn es nicht Gnade wäre, wäre die Antwort des Menschen nicht vollkommen frei, bliebe da immer die Spur eines Anspruchs. Keine vollkommene Unentgeltlichkeit. Und daher würde das Ja des Menschen nicht Glückseligkeit bedeuten. „In tua devotione gaudere,“ betet die Liturgie.
Die zweite menschliche Evidenz ist, daß man die Erfahrung dieses Ereignisses der Gnade im Zeitlichen, so wie es ist, machen kann. Also innerhalb des aktuellen weltlichen Machtgefüges. Und so nennt Péguy als Vorbild nicht den heiligen Franz, sondern Louis, den heiligen König. Den französischen König, der bei einem Kreuzzug das Leben ließ. Wenn das Staunen so real ist, wenn die Gnade dem Herzen des Menschen begegnet und es in einfacher und vollkommener Freiheit an sich zieht – dann verwandelt sie das Leben in seiner Alltäglichkeit, in seiner am meisten beeinträchtigten Konkretheit.
Dabei kommt mir wieder der bereits zitierte Ausspruch Don Giussanis bei der 1987er Bischofssynode in den Sinn: „Was heute in der Kirche fehlt, ist nicht die wortwörtliche Wiederholung der Verkündigung, sondern die Erfahrung einer Begegnung. Der heutige Mensch erwartet vielleicht unbewußt die Erfahrung der Begegnung mit Personen, für die das Christus-Ereignis eine derart gegenwärtige Realität ist, daß es ihr Leben verändert hat.“
Ein menschlicher „Ruck“, der den Menschen von heute aufrütteln kann. Ein Ereignis, das wie das Echo des anfänglichen Ereignisses ist, als Jesus nach oben blickte und sagte: „Zachäus, komm sofort herunter, ich komme zu dir nach Hause.“ Die Erfahrung einer Befreiung des Menschen wird stets von dieser Begegnung begleitet: „Wer mir folgt, der wird das ewige Leben haben und das Hundertfache hier auf Erden.“
Die Gnade einer Begegnung, die real und unentgeltlich dem Herzen entspricht, beginnt bei einer Nachfolge und mündet in eine Wohnung („Kommt und seht! Und so gingen sie und sahen, wo er wohnte und an diesem Tag blieben sie bei ihm; es war um die vierte Stunde am Nachmittag“).
Die Gnade dieser Wohnung, gemacht aus Gesichtern und Dingen, hütet und erneuert das Staunen der Begegnung. Das Bleiben in diesem Haus macht das einfach (wie das erste der Fünf Gebete in der Kathedrale von Chartres bestätigt), was sich außerhalb dieses Hauses als unmöglich erweist: „Hier ist der Ort, wo alles einfach ist… auch das Ereignis.“
In seinem La coscienza religiosa nell’uomo moderno hat Don Luigi Giussani geschrieben: „Wenn der Mensch er selbst wird, seiner Realisierung entgegengeht, dann durch eine Gnade. Wie wirkt diese Gnade? In der Natur gibt es eine sehr aufschlußreiche, analoge Situation. Wie wird ein Kind zum Manne? Es erwirbt seine Physiognomie, realisiert seine Struktur, wird groß mit einer unverwechselbaren Persönlichkeit kraft einer kontinuierlichen Osmose, die auf den Umstand zurückzuführen ist, Teil eines Ereignisses zu sein, das eine Struktur, ein Gesicht hat: der Familie. Je mehr die Familie eine eigene Physiognomie hat, je reicher sie an Menschlichkeit ist und sich dieser auch bewußt ist, umso mehr kann das Kind mit einer eigenen Persönlichkeit heranwachsen.
Das Christentum bietet uns – durch das objektive Sich-Anbieten des Faktums, das den Menschen seinem Schicksal zuführt – das Heil als Gnade an, als etwas also, das gegeben ist, einer lebendigen Realität innewohnend und in ihr ausharrend. So ‚rettet‘ sich auch der erwachsene Mensch, stellt fest, wie er sich mit der Zeit verändert, reifer wird, erkennt, daß er Dem, für den er gemacht ist, immer näher kommt und nach Dem sein ganzes Naturell schreit.“

30TAGE Nr. 8/9, August-September 1992

Péguy auf der Schwelle

von
GIANNI VALENTE



Péguy sagt über sich selbst: „Ich bin ein Sünder. Kein Heiliger. Die Heiligen erkennt man sofort. Ich bin ein guter Sünder. Ein Zeuge. Ein Sünder, der jeden Sonntag in der Pfarrei die Messe besucht, ein Sünder mit den Schätzen der göttlichen Gnade.“ Er wußte nur zu gut, daß „in Fragen der Christenheit niemand so zuständig ist wie der Sünder. Niemand weniger als der Heilige. Allgemein handelt es sich sogar um dieselbe Person. Der Sünder und der Heilige sind sozusagen zwei integrale Elemente, das heißt zwei integrale Bestandteile des Mechanismus der Christenheit. Gemeinsam sind sie unverzichtbar, der eine für den anderen.“
„Die Pharisäer wollen, daß die anderen vollkommen sind. Und sie verlangen und fordern es. Und sie sprechen von nichts anderem.“ Zu ihnen gehört auch die Schar der Kleriker, Kirchenmänner und offizieller katholischer Intellektueller, die einerseits lieberýihre Augen verschließen und die Evidenz leugnen, die wahre Natur und die eigentliche Katastrophe des christlichen Glaubens in der Moderne verheimlichen. Andererseits aber besorgt sind, weil sie mit dem moralischen Lebenswandel der anderen nicht zufrieden sind. Sie hören nicht auf, die moderne Welt zu verurteilen. „Sich beklagen, schimpfen ist ihre Stärke. Sie murren, brummeln, schimpfen vor sich hin. Sie sind schlecht gelaunt, und, was noch schlimmer ist, sie sind gehässig.“
Péguy litt sein ganzes Leben lang unter denen, die er „den Kreis der Frommen“ nannte. Und wie es oft der Fall ist, fügten ihm gerade einige Freunde, unter dem Vorwand der „Rettung“ seiner Seele den größten Schmerz zu. Péguys Frau war Atheistin, seine Kinder waren nicht getauft. Deshalb war er vom Sakramentenempfang ausgeschlossen.
Wo Welt und Kirche,
Welt und Gnade einander begegnen

Jüngst ist in Frankreich im Verlag Les Éditions du Cerf ein Buch erschienen, das mit bisher unveröffentlichten Zeugnissen die Chronik der Auseinandersetzung zwischen dem Dichter und seinen vermeintlichen „geistigen Lehrern“ beschreibt. Sie nahmen seine schwierige und schmerzliche familiäre Lage zum Anlaß, über sein Herz zu urteilen. Péguy mußte schwer kämpfen, um sich ihrem Einfluß zu entziehen. Der schöne Titel Péguy au porche de l’Église (Péguy in der Vorhalle zur Kirche) legt nahe, worin das eigentliche Ärgernis bestand, das die katholischen Intellektuellen außer Rand und Band brachte. Was sie so aufbrachte war weniger Péguys angebliche moralische Zwiespältigkeit, sondern vielmehr die Tatsache, daß er ein „Grenzgänger“ war. Einer, der auf der Schwelle der Kirche blieb, die auch der Geburtsort ist, der Ort, wo der Nichtchrist aus Gnade Christ wird. Der Ort, wo der Nichtchrist aus Gnade staunend wahrnimmt, daß der christliche Glaube unerwartet seinem Herzen entspricht. Dieses schwindelerregende Bleiben auf dieser ewigen Schwelle, „also dort, wo die Kirche sein soll“ (wie von Balthasar schreibt), konnten die katholischen Intellektuellen und Aktivisten schon damals nicht dulden. Péguy schrieb über sie: „Sie sind keine Christen. Ich meine, sie sind es nicht bis ins Mark. Sie verlieren ständig jene Bedenklichkeit aus den Augen, die für den Christen die innerste Verfaßtheit des Menschen ist; sie verlieren jenes tiefe Elend aus den Augen. Sie bedenken nicht, daß man immer wieder von vorn anfangen muß.“ Und Péguy fährt fort: „Es ist eine ewige Ungewißheit. Nichüs Erworbenes ist für immer erworben. Dies ist die Befindlichkeit des Menschen. Und dies ist zutiefst die Befindlichkeit des Christen. Nichts steht in tieferem Widerspruch zum christlichen Denken als die Vorstellung von einem ewigen Erwerb, der niemals mehr angefochten sein wird.“
Von Balthasar schrieb, daß er (Péguy) untrennbar ist, und deshalb inner- und außerhalb der Kirche stehe, in partibus infidelium die Kirche ist, also dort, wo sie sein soll. Weil er also im Tiefen verwurzelt ist,


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