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REPORTAGE AUS DER TÜRKEI
Aus Nr. 06 - 2011

Interview mit Louis Pelâtre

„Dieser frische Wind, der nun in der Türkei weht“


Der Apostolische Vikar in Istanbul erzählt vom Leben der christlichen Gemeinschaft in einem Land, das im Wandel begriffen ist.


Interview mit Louis Pelâtre von Lorenzo Biondi


„Es ist Schuld der türkischen “Laizität”, nicht des Islam, wenn die Kirche offiziell nicht existieren darf“. Bischof Louis Pelâtre, Apostolischer Vikar in Istanbul, beschreibt uns die Situation der türkischen Christengemeinde aus der Sicht der Metropole am Bosporus.

 

Louis Pelâtre [© Lorenzo Biondi]

Louis Pelâtre [© Lorenzo Biondi]

Hat sich die Situation der Christen in der Türkei verändert?

LOUIS PELÂTRE: Ja, und das ist offensichtlich. Zum einen schon einmal deshalb, weil sie heute ein “anderes Gesicht” hat: in den letzten Jahren sind viele Einwanderer aus der Philippinen-Region und den Ländern Afrikas ins Land gekommen. Die Zahl der “Levantiner” dagegen ist im Schwinden begriffen. Sie gehen fort von hier, wandern nach Frankreich oder in andere europäische Länder aus. Und sie tun es in der Hoffnung, in einem “christlichen” Land ein leichteres Leben zu haben… Doch welches Land kann sich heute schon noch christlich nennen? Als ich vor 40 Jahren in die Türkei gekommen bin, war das Klima ausgesprochen fremdenfeindlich. Und natürlich kann man nicht leugnen, dass man den Minderheiten noch heute Probleme macht – aber tut man das anderswo vielleicht nicht? Hat ein Einwanderer, der Mohammed heißt und in Frankreich Arbeit sucht, auf dem Arbeitsmarkt wirklich dieselben Chancen wie alle anderen?

Im Westen war man – vor allem nach dem Tod von Bischof Padovese – der Meinung, die Christen in der Türkei wären einer Art “Belagerungszustand” ausgesetzt. Stimmt das?

Es war eine Tragödie, aber ich glaube nicht, dass die Ursachen in einem antichristlichen Klima zu suchen sind. Es wurde auch viel von einem Geheimbund gemunkelt, der angeblich im türkischen Staat agiere und die derzeitige Regierung stürzen wolle. Ich meine die Affäre Ergenekon. Aber es ist heute wirklich schwer, die Beweggründe für diesen Mord nachzuvollziehen.

Der ein oder andere behauptet, die heutige Türkei wäre ein weniger “weltliches” Land und daher für die Christen weniger sicher…

Das sehe ich nicht so. Ich bin Franzose und kenne den “harten” Kern der Laizität: in meiner Heimat, der Bretagne, war es verboten, katholische Schulen zu bauen. Und ich möchte daran erinnern, dass sich der Laizismus Atatürks vom französischen inspirieren ließ: die Religion wurde stark behindert, auch die muslimische. Nur der kulturelle Identifikationsaspekt wurde übernommen. Erdogan ist alles andere als ein Fanatiker, er ist ein schlauer Politiker: er hat verstanden, dass man das Volk so nehmen muss, wie es ist, und nicht, wie wir es uns vorstellen. Und was die Christen angeht, ist der Grund, warum die katholische Kirche im Land nicht offiziell existieren darf, in der türkischen “Laizität”, nicht im Islam, zu suchen. Ich glaube nicht, dass das Problem für die Christen aus der Tatsache entsteht, dass die jungen Frauen an den Universitäten einen Schleier tragen dürfen…

Könnte es schon bald zu einer offiziellen Anerkennung der Kirche kommen?

Beim derzeitigen Stand der Dinge kann es unmöglich zu einer Anerkennung der Kirche durch den Staat kommen: es ist gegen die Verfassung, die keine Religion anerkennt, nicht einmal den Islam. Nun scheint es aber, dass Premier Erdogan die Dinge ändern will. Er hat ja selbst unter dieser Situation gelitten, als er noch Bürgermeister von Istanbul war. Er ist wegen “Verstoßes gegen die Laizität” sogar ins Gefängnis gekommen, weil er die Minarette als “unsere Bajonette” definiert hatte. Dieser Ausspruch hat hohe Wellen geschlagen – ein bisschen wie die Regensburger Rede von Papst Benedikt… Vor dieser Episode bin ich Erdogan öfter begegnet; er hat mir auch aus dem Gefängnis geschrieben, wie überdies allen öffentlichen Persönlichkeiten der Stadt. Viele versuchen noch immer, die von ihm angestrebte Wende zu behindern; aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir unsere heutige Situation der Demokratie zu verdanken haben, und dass das Ergebnis der Wahlen respektiert werden muss.

Kann die Türkei ein Modell für das Zusammenleben zwischen Islam und Demokratie sein?

Man spricht von einem “türkischen Modell”, und schon das ist interessant. Man kann nicht alles gutheißen, was Atatürk getan hat, aber die Laiziät der Türkei hatte einen nachhaltigen Einfluss auf den Nahen Osten. Heute scheint das Land ein neues Gleichgewicht gefunden zu haben, aber es wird noch lange dauern, bis auch der letzte Rest dieser Laizität als überwunden bezeichnet werden kann.



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